Buch #38: Elias Canetti – Die Blendung

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk, heute Russe/Bulgarien, in eine Familie mit sephardisch-jüdischem Hintergrund geboren. 1911 zog die Familie nach Manchester, nach des Vaters Tod 1912 nach Wien. 1916 zogen sie in die Schweiz und 1921 nach Deutschland. Ab 1924 studierte Canetti in Wien Chemie, besuchte aber auch Veranstaltungen von Karl Kraus. Ab 1925 widmete er sich dem Massen-Phänomen, das ihn sein Leben lang beschäftigen sollte.

1931 beendete er Die Blendung, die aber erst 1935 erschien. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er mit seiner Frau nach London. Er verfasste mehrere Werke, 1960 erschien Masse und Macht, sein anthropologisches Hauptwerk. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Büchner-Preis, den Nelly-Sachs-Preis, den Pour-le-Mérite-Orden und schließlich 1981 den Literaturnobelpreis. Am 14. August 1994 starb er in Zürich.

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Ich hatte Euch die Rezension schon für Dienstag versprochen. Dass es nun doch bis heute gedauert hat, bis ich mich dazu überwinden konnte, das Buch tatsächlich zu Ende zu lesen, gibt schon den ersten Hinweis auf das Folgende. Die Blendung ist in drei Hauptteile unterteilt, die jeweils mehrere Unterkapitel haben.

Der erste Teil heißt Ein Kopf ohne Welt. Hier lernen wir Peter Kien kennen, der bedeutendste Sinologe seiner Zeit. Er ist durch und durch Wissenschaftler, lebt nur für seine Gedanken und seine Bücher. Sein Leben bestreitet er sehr bescheiden mit Hilfe einer Erbschaft; für seine wissenschaftlichen Arbeiten Geld zu nehmen, findet er geschmacklos. Seit acht Jahren beschäftigt er eine Haushaltshilfe, Therese. Eines Tages wird ihm bewusst, wie gut sie zu seiner umfangreichen Bibliothek ist, und sie bringt ihn dazu, sie zu heiraten.

Dies war der größte Fehler seines Lebens. Er hatte seine kleine Welt, und auch wenn sie niemanden einschloss, hat er niemanden vermisst. Nun hat er Therese und Sorgen um Dinge wie Möbel, ein Testament und dergleichen mehr. Er kann nicht mehr arbeiten und spielt Machtspielchen mit ihr, die er schließlich verliert. Sie setzt ihn vor die Tür.

Hier beginnt Teil zwei, Kopflose Welt. Kien lernt Fischerle kennen, einen schachspielenden Kleinkriminellen, der zwergenwüchsig ist und einen Buckel hat. Fischerle nimmt Kien unter seine Fittiche, hofft er doch, langfristig genug Geld zu bekommen, um aus seinem Elend in einem Wiener Bordell zu entkommen in Richtung einer glänzenden Zukunft als Schachspieler in Amerika. Einerseits hilft Fischerle Kien bei Dingen, die er selber nicht schafft, z.B. regelmäßig zu essen oder zu schlafen. Dann wiederum nimmt er ihn hintenrum aus. Eine ganz große Hilfe ist er Kien auch bei der Aufbewahrung von dessen Kopfbibliothek, die dieser sich anstelle seiner Echten angeschafft hat, die er ja nun verloren hat. Nach und nach vertraut Kien Fischerle immer mehr und Fischerle kommt seinem großen Traum immer näher…

Kiens Bruder Georg, oder nun Georges, kommt im dritten Teil, Welt im Kopf, nach Wien. Er findet Peter als vollkommenes Wrack, dem übel mitgespielt wurde. Georg ist früh nach Frankreich ausgewandert, wo er zunächst Frauenarzt war, bevor er erfolgreich in die Psychiatrie wechselte. Dies hilft ihm nun auch, Peter zu helfen…

Soweit ganz grob die Geschichte. Kien ist ein weltfremder Wissenschaftler, und alle anderen (bis auf seinen Bruder) bemühen sich nach Kräften, ihn auszunutzen. Hier wird ein Schlag Menschen vorgestellt, der einen bis ins Innerste vor Ekel schütteln lässt. Natürlich ist in Kiens Geschichte Therese, die Frau, das Inbild allen Übels. Aber auch bei mir hat sie heftigste Reaktionen ausgelöst, eine so dumme, geldgierige, hinterliste Person…

Dass ich so empfunden habe, möchte ich als das Einzige herausstellen, was mich wirklich an diesem Roman fasziniert hat: die Art der Beschreibung. Man wechselt nämlich von Person zu Person in deren Gedankenstrom, und ihre Taten erscheinen immer als Ergebnis dieses Gedankenstroms. So ist man immer ganz nah bei der Person, und wenn man ganz nah bei Therese ist, bekommt man das dringende Bedürfnis, diese Person von sich abzuwaschen. Das ist genial gemacht, aber nicht weniger abschreckend. Und so ist es bei fast jeder Person, Canetti gibt uns den Abschaum mit allen seinen niederen Gelüsten und stellt dagegen den weltfremden Wissenschaftler, dem eben diese Gelüste fremd sind. So sieht man immer und immer wieder, wie sich Missverständnisse ergeben, Personen aneinander vorbeireden und Konflikte nur noch mehr wachsen, die mit einem einzigen klärenden Wort hätten aus der Welt geräumt werden können.

Mich hat das verstört und abgeschreckt. Ich habe mich geekelt, und teilweise musste ich das Buch weglegen. Insgesamt ist es recht einfach und flüssig zu lesen, das Fordernde ist, dass man die Bereitschaft haben muss, sich so intensiv mit diesen Personen auseinanderzusetzen. Georges Kien nimmt am Ende etwas von dem Schrecken, aber ich werde das Buch in ziemlich schlechter Erinnerung behalten. Es hat ein paar geniale Züge, aber insgesamt fand ich es fürchterlich.

Und nun bin ich auf Eure Reaktion gespannt, denn ich habe ja einige sehr positive und freudige Kommentare erhalten bei den Textschnipseln. Bitte erklärt mir doch, warum Ihr dieses Buch für so großartig haltet! Bei mir hat es leider nur den ganz negativen Nerv getroffen, und ich möchte jedem raten, der es lesen möchte:  Spar Dir die Zeit!

28 Gedanken zu „Buch #38: Elias Canetti – Die Blendung

  1. Liebe June, ich hatte mit Spannung auf deine Besprechung gewartet und bin nun ein bißchen erleichtert. Vor ziemlich langer Zeit einmal hatte ich „Die Blendung“ angefangen zu lesen, es aber recht bald wieder aufgegeben, vorwiegend, weil ich mich sehr gelangweilt habe beim Lesen. An ein gewisses Unbehagen Therese gegenüber erinnere ich mich auch grob, allerdings ließ ich es wohl nicht soweit kommen, das Ekel daraus wurde. Deine Rezension hat mich nun darin überzeugt, diesem Buch nicht noch einmal eine zweite Chance zu geben. Mit Pfingstgrüßen, Laura

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    • Liebe Laura,
      ich würde das Buch auch nicht noch ein zweites Mal lesen… höchstens vielleicht in zwanzig Jahren oder so. Und ich war auch kurz davor, aufzugeben 🙂 Ich denke, man kann seine Zeit besser investieren, auch wenn es sprachlich eine Bereicherung ist. Dafür braucht man allerdings nicht den ganzen Roman zu lesen.
      Pfingstgrüße zurück,
      June

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  2. Liebe June,
    ich habe insgesamt drei Anläufe genommen, um „Die Blendung“ zu lesen (weil man den Roman ja gelesen haben muss ;-)) und habe es nie bis zum Schluss durchgehalten. Dann habe ich es, geplagt vom schlechten Gewissen, mit „Masse und Macht“ versucht. Den Text fand ich noch schlimmer, aber geeignet zum Einschlafen. Ich verstehe es auch nicht, warum es so manche Canetti-Fans gibt. Hätte ich nicht einen klugen Freund, der Canetti veehrt, hätte ich wahrscheinlich schon nach wenigen Seiten Canetti ad acta gelegt. Mir geht`s genau wie dir mit ihm. Ich habe auch noch in „50 Charaktere“ und „Komödie der Eitelkeiten“ geschaut, aber nichts konnte mich da fesseln.
    Ich denke mir, es gibt manche Autoren, die leben vom Mythos. Das ist ähnlich bei Joyce (den ich allerdings sehr toll finde), die meisten Leser finden ihn unzugänglich mit seiner Wortspielereien, aber man weiß, man muss ihn gut finden. Bei Canetti ist`s genau so, vielleicht weil er den Nobelpreis bekam – who knows. Er liegt übrigens quasi zu Füßen von Joyce auf dem Friedhof in Zürich.
    Liebe Grüße
    Klausbernd 🙂

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    • Lieber Klausbernd,
      ich finde es doch sehr beruhigend, dass ich anscheinend nicht die Einzige bin, die Probleme mit Canetti hat 🙂 Ich empfinde das ganz ähnlich wie Du, der Mythos ist wie der von Joyce, aber dieser gefällt mir um Längen besser (das passt ja mit Joyce’s Füßen 😉 ). So gesehen bin ich dann jetzt froh, dass ich mit dem Canetti durch bin und diese Erfahrung hinter mir habe. Wer weiß, vielleicht kommt ja der Tag, an dem ich anders über ihn denke, aber noch sehe ich das nicht.
      Viele Grüße aus dem Regenland ans Meer,
      June

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    • Lieber Klausbernd, den Nobelpreis bekam er meines Wissens für seine Bio, die ich als bekennender Canetti Fan sehr schätze und empfehlen. Letztens ist mir eine Parallele zwischen Reich und Canetti aufgefallen und damit komme ich zurück zu ich Kiens brennnender Bibliothek, die beiden C. und R. waren 1927 beim Wiener Justizpalastbrand dabei, für beide ein prägendes Erlebnis das sie in ihren Werken verarbeiteten.
      Deine Friedhofs-Anspielung „zu Füssen James Joyce“ finde ich sehr fein: chapeau! der Herr. Liebe Grüße von Ost nach West

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      • Lieber Georg,
        herzlichen Dank. Die Verbindung Canetti – Reich ist mir noch nie aufgefallen, obwohl ich mal begeisterter Reich-Fan war.
        Liebe Grüße von West nach Ost
        Klausbernd

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  3. Die Blendung ist einer meiner (erschreckend vielen) Regalhüter, die ich vor x Jahren aus zweiter Hand geschenkt bekommen, angefangen und wieder weggelegt habe und seitdem in weitem Bogen umgehe. Ich glaube, das ist jetzt der letzte Schubs, den ich gebraucht habe, um das Buch mal weiterzuverschenken. Irgendwer hat bestimmt Spaß daran, aber ich fürchte nicht ich. Meine Kerouac-Ausgabe hab ich übrigens auch nach ein paar Seiten weggelegt, aber nicht, weil es mir nicht gefallen hätte, sondern weil es mir so gut gefallen hat, dass ich mir lieber die englische Ausgabe zulege.

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    • Wenn Du es schon einmal angefangen hast, weißt Du ja ungefähr, worum es geht und wie es geschrieben ist 🙂 Hätte ich das Buch nicht gerade gekauft, hätte ich es wohl auch zuerst einmal zumindest zurückgelegt.
      Ich freue mich, dass Dir der Kerouac zu gefallen scheint und bin gespannt auf Deine Meinung, nachdem Du es gelesen hast (kleine Anmerkung zur englischen Version: das Vorwort ist hier vor dem Text, enthält aber so viele Informationen, dass es besser für die Story ist, wenn Du es nachher liest…).
      Eine schöne Woche!

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      • Oh, danke für die Warnung, das werde ich beherzigen! Ich werd’s mir wahrscheinlich für den Urlaub zulegen, da wollen wir auch ein bisschen rumkurven, das passt doch bestimmt super.

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  4. Nun doch noch ein kleiner Kommentar zur „Blendung“. Ein Kunde und Büchersammler hat mir vor Jahren und Jahren diese Buch ans Herz gelegt. Es sei sein Nr.1, ever! Ich hab’s dann auch gelesen und musste schwer kämpfen. Leider ist das schon so lange her und ich weiss keine eigenen Argumente mehr, warum ich das Buch doch sehr interessant fand. Also zumindest nicht so vernichtend. Es war ein Kampf. Sicherlich. Aber leichte Lektüre gibt es jede Menge. Ich habe heute morgen bei wikipedia nachgeschaut und dort wirklich interessante Zitate und Hinweise gelesen, die Canetti und der „Blendung“ ein wenig Unterstützung bieten und die Fremdartigkeit des Textes etwas erhellen.
    Nehmt euch 10 Minuten Zeit und lest das mal quer.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Blendung
    Damit das Buch nicht in der ewigen Hölle schmoren muss.
    Samy

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    • Lieber Samy,
      vielleicht, wenn ich es später nochmal lese, werde ich das ähnlich empfinden… Ich finde das sprachlich auch hervorragend, und die Wahl der Perspektive ist genial. Trotzdem wird noch einige Zeit ins Land gehen, bis ich es eventuell nochmal lese 🙂
      Vielen Dank für den Link!

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  5. Also bei mir hat es auf „Anhieb“ geklappt, angefangen, durchgelesen, begeistertl. Canetti ist für mich einer dr Großen des letzten Jahrhunderts. Er war auch ein begeisterter Vorleser. Sehr zu empfehlen die Audio CD mit Lesungen, Interviews, etc bei 2001 erschienen.

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  6. Vor Jahrzehnten hatte ich die Canetti-Autobiographie (es gab damals nur den ersten Band, jedenfalls in der ewig devisenschwachen DDR) und „Die Blendung“ verschlungen. Damals war es, als hätte jemand ein Fenster geöffnet. Heute komme ich kaum ein paar Seiten weit.
    Vermutlich gibt es Bücher, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben lesen sollte, und dann nie wieder …

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    • Das glaube ich ganz bestimmt… manchmal geht man ja auch in eine Buchhandlung und weiß, dass das genau das Richtige Buch zu diesem Zeitpunkt ist. Dann tut es mir jetzt leid für den Canetti, aber das Timing hat nicht gepasst 🙂

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  7. Ich gehöre wohl auch zu den wenigen, die „Die Blendung“ für eines der beeindruckensten Bücher meines Lebens benennen würden. Es ist Jahre her, das ich es las und noch immer tauchen ganz unvermittelt Szenen und atmosphärische Eindrücke aus dem Buch in mir auf. Das habe ich bei sehr wenigen Büchern. Auf meinem SUB liegt noch „Stimmen von Marrakesh“, auf das ich auch gespannt bin.
    Leicht zu lesen, fand ich es aber auch nicht. Habe einen Sommer daran gelesen.

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    • Bei mir werden wohl auch noch lange Szenen aus dem Buch auftauchen, aber ob das schön ist… na, das sei mal dahingestellt. Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie die „Stimmen von Marrakesch“ Dir gefallen, ob Canetti Dich wieder beeindrucken kann!

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  8. Noch so eine eklatante Lücke in meiner Geschichte als Leserin. Das, was du über Die Blendung schreibst (und was viele der Kommentatoren bestätigen), schreckt mich zwar ab, einen Canetti möchte ich aber dennoch irgendwann lesen. Ich denke, ich werde eines Tages zu seiner Autobiographie greifen, die wurde mir schon des Öfteren ans Herz gelegt.

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    • Ja, die Autobiographie soll gut sein, vielleicht ist das die bessere Wahl 🙂 Vielleicht hab ich es auch einfach zum falschen Zeitpunkt in meinem Leben gelesen… wer weiß ?!
      Vielleicht solltest Du einfach mal reinlesen, bei seinem besonderen Stil wirst Du schnell merken, ob er Dir gefällt.
      Ein schönes Wochenende!

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  10. Auch auf die Gefahr hin, gegen den hiesigen Strom zu schwimmen: Ich halte die Blendung für ein herausragendes Meisterwerk, wie übrigens beinahe alles im schmalen Werk Canettis! Ich habe es sogar – aus purer literarischer Lust – zweimal gelesen (und vielleicht werde ich es noch einmal in meinem Leben in die Hand nehmen). Besonders empfehlenswert sind auch seine „Aufzeichnungen“ (in mehreren Bänden erschienen, z.B. „Ohrenzeuge“, „Geimherz der Uhr“) sowie „Die Stimmen von Marrakesch“!

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    • So viele Menschen, so viele Meinungen, das ist doch perfekt 🙂 Canetti hat ja eine große Fan-Gemeinde, da ist es doch okay, wenn ich nicht dazu gehöre. Ich wünsche viel Spaß mit der weiteren Lektüre!

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