Buch #43: Margaret Atwood – Der blinde Mörder

Margaret Atwood wurde am 18.November 1939 in Ottawa, Kanada, geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie in Ottawa, Quebec und Ontario. 1946 bekam ihr Vater, der Entomologe war, eine Stelle an der University of Toronto, wo Atwood bis zu ihrem Collegeabschluss lebte. Sie studierte englische Sprache und Literatur an der University of Toronto und in Harvard, und lehrte dann Literaturwissenschaften. Sie ist mit dem Schriftsteller Graeme Gibson verheiratet und hat eine Tochter.  Margaret Atwood veröffentlichte zunächst Lyrik und Literaturkritiken, bis 1969 ihr erster Roman, Die essbare Frau (The Edible Woman) erschien. Große Bekanntheit erlangte sie mit ihrem Roman Der Report der Magd (The Handmaid`s Tale), der auch von Volker Schlöndorff verfilmt wurde. Margaret Atwoods Hauptthema ist die Stellung der Frau in der Gesellschaft, aber auch gesellschaftliche Probleme und Umweltfragen werden von ihr behandelt, des Weiteren kanadische Geschichte und Literatur.  Für Der Blinde Mörder (The Blind Assassin) erhielt sie 2000 den Booker Prize und 2001 den Hammett Prize. Für ihr Gesamtwerk bekam sie 2008 den Prinz-von-Asturien-Preis in Spanien und 2009 den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund.

Der blinde Mörder ist der Lebensbericht, man könnte sogar sagen, die Lebensbeichte von Iris Chase. Drei ineinander verschlungene Geschichten ergeben ein Panorama des Lebens in Kanada im 20. Jahrhundert. Die Rahmenhandlung bilden die Aufzeichnungen der nun alten Iris Chase gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Sie erzählt in diesen Aufzeichnungen, die direkt an Myra, ihre Freundin, und indirekt an ihre Enkelin Sabrina gerichtet sind, zunächst einmal von ihrem momentanen täglichen Leben, dem Wechsel der Jahreszeiten, ihren Herzproblemen, wie alle Handlungen langsam schwieriger werden, vom selbständigen Wäschewaschen bis hin zu den Spaziergängen, die sie unternimmt. Sie bemerkt, dass ihre Zeit langsam kommt, und beginnt mit ihren Aufzeichnungen.

Ihre Erinnerungen beginnen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als Iris und ihre jüngere Schwester Laura noch klein sind. Ihre Familie, die reich geworden ist mit der Herstellung von Knöpfen, hat ein feudales Haus, befindet sich hoch oben in der Gesellschaft, was hauptsächlich an der Großmutter liegt, und „stellt etwas dar“. Es gibt drei Söhne, von denen zwei im Ersten Weltkrieg fallen, und der dritte eine junge, verträumte Frau heiratet, mit seinem Kriegstrauma aber nicht fertig wird. Als die junge Frau stirbt, stehen er und seine Haushälterin, Reenie, alleine da mit zwei kleinen Mädchen, Iris und Laura. Der Vater ist kein guter Geschäftsmann, den Fabriken geht es schlechter und schlechter, und somit beginnt auch der soziale Abstieg der Familie.

Um die Mädchen und ihre Erziehung kümmert sich niemand, so dass Iris ein naives junges Mädchen ist, als ihr Vater sie, um die Fabriken und somit die Arbeitsplätze zu retten, an Richard Griffen, einen Fabrikanten, der das junge Mädchen als notwendiges gesellschaftliches Anhängsel sieht, verheiratet. Die junge Iris wird durch Griffens Schwester Winifred „gesellschaftstauglich“ gemacht, einen eigenen Willen zu haben ist ihr aber streng verboten. Derweil bleibt Laura bei Vater und Reenie, und entwickelt sich zu einer verträumten jungen Frau, die die Welt ein wenig anders sieht als andere Leute.

Als der Krieg vorbei ist und Kommunisten langsam zum Feindbild werden, helfen die beiden Mädchen dem linken Agitator Alex Thomas, der des Mordes verdächtigt wird. Laura verfällt seinem Charme und auch Iris kann sich diesem nicht entziehen. Als Iris dann viele Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, die Nachricht von Alex`Tod erhält und Laura davon erzählt, bringt Laura sich um.  Ihre Hinterlassenschaft ist eine Geschichte, Der blinde Mörder, die von Iris postum veröffentlicht wird und aufgrund der freizügigen Szenen einen Skandal verursacht.  Daraufhin trennt sich Iris von ihrem Mann, was dieser, der eine politische Karriere verfolgt, ihr sehr übel nimmt, und im Endeffekt muss Iris`Tochter Aimée am meisten darunter leiden.

Der Roman ist wie ein Puzzle aufgebaut, man bekommt die Informationen nur stückweise und muss sie dann zusammensetzen. Kapitel aus „Der blinde Mörder“, Zeitungsausschnitte, Iris`Erzählungen ihres Lebenslaufs und des Jetzt ergeben nach und nach ein Gesamtbild, das mit jedem Teilchen komplexer wird und auf einmal die Frage aufwirft, ob wirklich alles so ist, wie man angenommen hat…

Ich bin schon seit Jahren eine große Verehrerin von Margaret Atwood. Ihr Schreibstil ist so fein, einfach, ruhig und dabei so eindringlich und klar, dass es mich jedes Mal wieder wegpustet. Der Report der Magd ist das bisher eindringlichste Werk, das ich von ihr las, aber auch Das Jahr der Flut hat mich nachhaltig mit intensiven Bildern und Gedanken versorgt. Der Blinde Mörder ist nun keine Dystopie wie die beiden anderen, sondern eine Mischung aus verschiedenen Genres, die mich auch sehr beeindruckt hat. Das Kanada des 20. Jahrhunderts, der Stand der Frau in den dreißiger Jahren, und die Entwicklung bis heute hin waren schon ungemein spannend. Aber die Intensität der Lebensbeichte einer alten Frau, die weiß, dass sie nicht mehr viel Zeit hat und unbedingt noch etwas ins Reine bringen möchte, hat mich umgehauen. Die Art und Weise, wie sie vom „Jetzt“ berichtet, wie sich langsam ihre Gebrechen bemerkbar machen, wie sie schwankt zwischen Verwunderung, Abwehr und Akzeptanz, das ist ein sehr intensives Stück Literatur. Aber auch die anderen Teile der Geschichte, Lauras ‚Roman‘ und die Lebensgeschichte von Iris und Laura, und die Teile, die so gekonnt ineinander greifen und den Leser zweifeln lassen, ob das, was er weiß, auch so geschehen ist, sind hervorragend.

Ich kann jedem nur empfehlen, Margaret Atwood zu lesen. Diese Frau schreibt ungemein intensiv und eindrücklich, dabei aber immer leicht und klar und verständlich, und sie lässt ihre Leser nachdenklich zurück. Für mich ist sie eine der größten Autorinnen und sollte sehr viel (mehr) Aufmerksamkeit erhalten. Ich bin froh, dass ich noch immer sehr viel von ihr zu entdecken habe und freue mich schon sehr darauf!

(Ihre Vorlesungen, die sie über das Schreiben hielt, Negotiating with the Dead: A Writer on Writing, sind ebenfalls sehr zu empfehlen!)

Hier ist noch ein Interview, das Denis Scheck mit der Autorin geführt hat.

Margaret Atwood: Der blinde Mörder. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.

7 Gedanken zu „Buch #43: Margaret Atwood – Der blinde Mörder

  1. Liebe Miriam,

    bei Margaret Atwood könnte ich gar nicht sagen, welches Buch ich am liebsten mochte: das von dir vorgestellte zählt auf jeden Fall dazu. Aber auch „Der Report der Magd“ und „Die Räuberbraut“ haben mich sehr beeindruckt. Am besten hineindenken konnte ich mich in das Buch „Katzenauge“ über eine Mädchenfreundschaft. Atwood ist wirklich eine großartige Autorin mit einer enormen Bandbreite. Schön, dass du sie wieder ins Rampenlicht rückst!

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    • Das freut mich sehr, dass andere Margaret Atwood genauso gerne mögen wie ich.“Die Räuberbraut“ und „Katzenauge“ habe ich noch vor mir – eine Mädchenfreundschaft ist dann ja wieder ein komplett anderes Thema. Ich bin gespannt!

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  2. Eine unglaublich schöne und zugleich informative Buchbesprechung. Das Interview mit Denis Scheck, werde ich mir direkt mal anschauen.
    Momentan werden so viele interessante Bücher besprochen, dass man nicht mehr weiß, für welches man sich entscheiden soll. Aber bei mir ist es so: Nichts gerät in Vergessenheit!

    Liebe Grüße,
    Tanja

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  3. „Alias Grace“ habe ich geliebt. „Der blinde Mörder“ mochte ich auch total gern. Margaret Atwood ist großartig! Ich habe auch noch Ungelesenes von ihr hier… vielleicht sollte ich sie direkt mal lesen! 🙂

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  4. Pingback: Der blinde Mörder – the lost art of keeping secrets

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