Haruki Murakami – 1Q84

Haruki Murakami wurde am 12. Januar 1949 in Kyoto geboren. Er wuchs in einem Vorort der Stadt Kobe auf, seine Eltern unterrichteten beide japanische Literatur. Harukis Interesse galt aber mehr der westlichen Literatur, was bis heute in Japan kritisch beurteilt wird. Ab 1968 studierte er Theaterwissenschaft, nach Abschluss des Studiums heiratete er seine Frau Yoko, mit der er bis heute zusammen ist. 1974 eröffnete er eine Jazzbar, Peter Cat, und mehrere seiner Bücher haben den Namen von Song-Titeln, zum Beispiel ist Norwegian Wood (Naokos Lächeln) nach einem Song der Beatles benannt. Er hat 1978 mit dem Schreiben begonnen, auch wenn er sich von seinen ersten beiden Romanen distanziert. Er reiste durch Italien und Griechenland, 1991 wurde er Gastprofessor in Princeton, 1993 an der Tufts University in Medfort, Massachusetts. Seit 2001 lebt er in seiner Heimat in Oiso. Seine Romane spielen in Japan, enthalten oft surrealistische Elemente oder magischen Realismus und viele Anspielungen auf die westliche Popkultur. Murakami hat zahlreiche Literaturpreise erhalten, und er hat viele Werke ins Japanische übersetzt.

Haruki Murakami. In meiner Zeit als Bloggerin ist er mir schon häufig begegnet, und ich habe festgestellt, dass er die Menschheit in zwei Teile zu spalten scheint: es gibt einen Teil, der ihn verehrt, und einen Teil, der absolut nichts mit ihm anfangen kann. Ich gehöre nun eindeutig zum ersten Teil, würde sogar so weit gehen, ihn als einen meiner Lieblingsautoren zu bezeichnen. Mein bisher liebster Roman war Heartboiled Wonderland oder das Ende der Welt, diesen fand ich so ungemein großartig, dass auch 1Q84 daran nicht vorbeigezogen ist.

haruki-murakami-IQ84Nun zu 1Q84. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie diese Besprechung aussehen soll. Der Roman besteht aus drei Teilen, von denen die ersten beiden imDezember 2010 in Deutschland veröffentlicht wurden, und der dritte im Oktober 2011 folgte. Insgesamt umfassen die drei Teile knapp 1600 Seiten. Und im Gegensatz zu den Schinken von z.B. David Foster Wallace oder Thomas Pynchon haben wir eine durchgehende, chronologisch erzählte Geschichte (ja, es kommen Rückblenden vor, die jedoch nicht den Erzählfluss stören oder beeinflussen). Deswegen werde ich die Ausgangssituation schildern, damit die eine Hälfte der Menschheit gerade genug in Versuchung geführt wird, und die andere Hälfte einen kurzen Überblick bekommt.

Wie so oft bedient sich Murakami auch in 1Q84 der zweistrangigen Erzähltechnik, wir haben also zwei Protagonisten, deren Geschichte abwechselnd weitererzählt wird. Das ist dem Lesefluss unbedingt zuträglich, da man immer ein Häppchen mehr präsentiert bekommt, bevor man zum anderen Protagonisten wechselt, und wieder umgekehrt, was eine große Spannung erzeugt.

Ein Erzählstrang verfolgt die Geschichte von Tengo, einem 31-jährigen Mathematiklehrer. Tengo galt seit der Grundschule als mathematisches Wunderkind, war ihm die Mathematik doch immer eine Fluchtmöglichkeit aus seiner Welt in die klare Welt der Zahlen. Seine Mutter starb, als er ein Baby war, und sein Vater, ein Gebühreneintreiber für einen Rundfunkdienst, hat sich nur um seinen Beruf gekümmert, da dieser ihm ein geregeltes Leben verschaffte. Tengo nahm er immer mit, da die Leute eher zahlen, wenn ein Kind dabei ist. Mit zehn Jahren läuft Tengo von zu Hause weg, wird aber zurückgebracht, braucht von nun an jedoch nicht mehr mitzugehen. Sein Verhältnis zum Vater, bei dem er sich nicht sicher ist, ob er sein richtiger Vater ist, kühlt dermaßen ab, dass sie eigentlich nicht mehr miteinander reden und Tengo so früh wie möglich auszieht. Sein Studium finanziert er mit Ringen, er ist sehr sportlich, aber den Ehrgeiz, die Mathematik ernster zu verfolgen, hat er nicht. So arbeitet er drei Tage an einer Hochschule, und nebenbei in einem Verlag, da er eine zweite Leidenschaft hat, die Literatur. Diese ist für ihn ebenfalls ein Ausweg aus der realen Welt, aber nicht wie die Mathematik klar strukturiert, sondern undurchsichtig und rätselhaft.

Eines Tages tritt sein Vorgesetzter im Verlag an ihn heran. Eine junge Schriftstellerin, die sich Fukaeri nennt, hat eine vielversprechende Geschichte geschrieben, die einen Preis erhalten könnte. Leider ist sie sprachlich nicht ganz auf der Höhe, weshalb Tengo die Geschichte überarbeiten und in eine geeignete Form bringen soll. Trotz einiger Bedenken willigt Tengo ein, und auch Fukaeri ist einverstanden. Das Mädchen, das ein tiefes Trauma durchgemacht zu haben scheint und sich sehr rätselhaft verhält, wird nach und nach zu einer Art Freundin für Tengo.

Der zweite Erzählstrang folgt Aomame. Sie wuchs bei den Zeugen Jehovas auf, musste mit ihrer Mutter von Tür zu Tür wandern und Mitglieder werben, in der Schule laut vor dem Essen beten und war vollkommen isoliert von den anderen Kindern. Bis es eines Tages zu einem Zwischenfall kommt, bei dem Tengo sie beschützt. Sie hält daraufhin seine Hand und sieht ihm tief in die Augen, ein Ereignis, das beider Leben nachhaltig prägen sollte. Im Alter von elf Jahren läuft sie von zu Hause weg und wächst bei Verwandten auf, muss die Schule wechseln und ist für ihre Familie gestorben. Sie findet aber erste Freundschaften, es stellt sich heraus, dass sie sehr sportlich ist, und sie wird eine angesehene Trainerin, die sich mit jedem Muskel im Körper eines Menschen sehr genau auskennt. Sie erleidet herbe Verluste in ihrem Leben, das doch eher von Einsamkeit geprägt ist, lernt aber als Trainerin eine alte Dame kennen, der sie dabei hilft, ihre körperlichen Beschwerden zu verringern. Eine Freundschaft bahnt sich an, als die beiden Frauen feststellen, dass sie beide Verluste erlitten haben, die Männer verursacht haben.

Aomame hat durch die genaue Kenntnis des menschlichen Körpers die Fähigkeit, bei jedem Körper einen Punkt zu finden, in den man eine Nadel stich, wodurch derjenige sofort stirbt. So arbeitet sie also nebenher als Killerin, als Rächerin der Schwachen, die keine Spuren hinterlässt außer Körpern, bei denen keine Todesursache feststellbar ist. Hier arbeitet sie der alten Dame zu, die die Opfer aufnimmt und die Täter je nach Schwere ihrer Tat bestrafen lässt.

Eines Tages führt Aomame einen Auftrag aus, nach dem etwas anders ist. Es sind zunächst nur Kleinigkeiten, verpasste Ereignisse, die groß in den Nachrichten waren, eine gemeinsame Raumstation der USA und von Russland, also Dinge, die sie eigentlich wissen sollte, aber die ihr vollkommen neu sind. Und dann sind da auf einmal zwei Monde: der große, normale Mond hat einen kleinen dazu bekommen, und niemandem außer Aomame scheint das aufzufallen. Sie nennt diese Welt, die ihr bekannt und fremd zugleich ist, 1Q84, ein Paralleljahr zu ihrem 1984.

Dann liest Aomame eine Geschichte, die „Puppe aus Luft“, in der eine Welt beschrieben wird, die diesem 1Q84 recht nahe kommt. Auch hier gibt es zwei Monde. Und es gibt die „Little People“, die Puppen aus Luft spinnen. Und die konkret in das Leben der Menschen eingreifen. Diese Geschichte wurde von Fukaeri geschrieben und von Tengo überarbeitet, und die Little People sind überhaupt nicht begeistert darüber, wurden sie doch der Öffentlichkeit bekannt gemacht.1q84_buch_3

Wie es kommt, dass sich auch Tengo in einer merkwürdigen Welt wiederfindet, wie und ob man überhaupt aus dieser Welt wieder entkommen kann und welche Hürden es dafür zu nehmen gilt, entspinnt sich in einer komplexen Geschichte, für die sich Murakami alle Zeit der Welt nimmt. Und das ist genau richtig so. Natürlich, es braucht Zeit, sich hindurchzulesen, aber man ist nie gelangweilt, da die Geschichte stetig voranschreitet, und man verliert auch nie den Faden, da sie in sich so stimmig ist. Neue Personen werden behutsam eingeführt, die unterschiedlichen Welten nachvollziehbar entwickelt und auch die Absurditäten scheinen so absurd gar nicht. Wie immer spielt er gerne und ausgiebig mit der Intertextualität, was in meinen Augen eine Bereicherung ist und mir großen Spaß gemacht hat.

Wollte ich vielleicht etwas bemäkeln, dann würde das den dritten Teil betreffen. Vielleicht ist dies so, da die Bücher ein Jahr auseinander veröffentlicht wurden, aber nun, da sie veröffentlicht sind und für den Rest der Zeit sein werden, besteht eigentlich kein Grund, sie nicht hintereinander wegzulesen. Im dritten Teil gibt es immer mal wieder kleinere Rückgriffe zum Verständnis, die aber nicht unbedingt stören, man kann über sie hinweglesen. Was mich jedoch gestört hat, ist, dass Murakami (nehme ich zumindest an, dass er es war und nicht die Übersetzerin), dass er mehrmals in die Geschichte eingreift. Nach über tausend Seiten geht er auf einmal hin und bringt die Ereignisse in eine Reihenfolge, eine Leistung, die der Leser durchaus alleine hätte vollbringen können. Das hat mich doch geärgert, da ich mich als Leser dann auf einmal nicht für voll genommen fühle.

Insgesamt kann ich sagen, dass ich hier nur einen winzigkleinen Einblick gegeben habe – und schaut, wie lang der Artikel schon ist. Wer also gerne Murakami mag, oder auf magischen Realismus steht, oder einfach eine großzügig angelegte, spannende Geschichte lesen möchte, dem sei 1Q84 unbedingt ans Herz gelegt. Ich habe es sehr gern gelesen, und auch wenn es nicht mein neuer Liebling ist, ist es doch ziemlich hoch angesiedelt.

Haruki Murakami: 1Q84. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont.

 

19 Gedanken zu „Haruki Murakami – 1Q84

  1. Ich habe die ersten beiden Teile bereits hinter mir und schon lange überlege ich den dritten Teil zu lesen. Habe dazwischen aber anderes gelesen und 1Q84 ruhen lassen.
    Aber ich denke, den dritten Teil muss ich schon auch lesen. Auch wenn ich die ersten beiden etwas „anstrengend“ empfunden habe, will ich wissen wie es weiter geht.

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    • Das kann ich absolut verstehen, ich hätte auch nicht mitten in der Story aufhören können, weil noch so vieles geklärt werden muss und noch einiges passieren wird… 🙂

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  2. Ich habe ihn (damals hieß er noch Murakami Haruki) 1991 mit seiner ersten deutschen Übersetzung „Wilde Schafsjagd“ (noch beim Insel-Verlag) „entdeckt“. Das war einer der wenigen magischen Buchhandlungsmomente. Ich sah das eingeschweißte Buch, wusste nichts darüber und konnte es nicht anlesen. Ich hab’s trotzdem gekauft und es geliebt. Habe dann überall Werbung dafür gemacht, aber keinen interessierte es.
    Ich habe Haruki Murakami aber dann aus den Augen verloren, weil er sich stilistisch mit jedem Buch wiederholte. Immer der austauschbare Ich-Erzähler, der lakonisch darüber hinweggeht, wie er leidet. Mein letztes Buch von ihm war „Mister Aufziehvogel“.
    „1Q84“ würde mich aber schon inzwischen sehr interessieren, nicht zuletzt durch deine Rezension, die das Buch schon schmackhaft macht.

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    • Solche Momente sind wundervoll, ich freue mich auch immer sehr, wenn mir mal einer begegnet… „Mister Aufziehvogel“ hat mir eigentlich gut gefallen, aber ich kann nicht ganz beurteilen, ob er sich stilistisch wiederholt. Ich schätze aber, es ist sein Thema, vor allem wenn man das neue Buch bedenkt, das ja wohl auch eine „einsamer Held“-Geschichte ist. Aber bei „1Q84“ hatte ich nicht den Eindruck, dafür ist die Story auch viel zu breit angelegt. Vielleicht gibst Du ihm noch eine Chance und liest es mal an?! 🙂

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  3. Pingback: (Die Sonntagsleserin) KW #18 – April/Mai 2014 | Bücherphilosophin.

  4. Mich würde ja interessieren, in welchem Zeitraum du die 3 Bücher gelesen hast. Sie haben sicherlich jede Menge Zeit in Anspruch genommen, da nicht nur die Seitenanzahl eines jeden Buches nach Aufmerksamkeit schreit, sondern eben auch Murakamis Schreibstil. Ich habe bisher nur „Gefährliche Geliebte“ von ihm gelesen und war durchaus angetan von seinem Stil, wenn auch ich oft genug an meine Grenzen gestoßen bin und mir nicht sicher war, ob ich seine Gedanken richtig interpretiert habe und mich auf dem richtigen Weg befinde. Deine Rezension hat mir einen tollen Einblick in die Geschichte gegeben und irgendwie bin ich jetzt auch der Meinung, ich sollte den Roman lesen. Wobei ich befürchte, dass die Komplexität mich momentan überfordern würde. =) Herzliche Grüße, Steffi

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    • Das dürfte ca. ein Monat gewesen sein, wobei ich immer mehrere Bücher gleichzeitig lese. „Gefährliche Geliebte“ halte ich für ein recht schlechtes Beispiel für Murakamis Schreibstil, da es etwas aus dem Rahmen fällt, z.B. keinen magischen Realismus enthält. Vielleicht versuchst Du es erstmal mit „Hardboiled Wonderland“ oder „Kafka am Strand“, dann weißt Du ungefähr, was Dich erwartet 🙂

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  5. Ich war früher ein großer Murakamifan, hab mir die Bücher sofort nach erscheinen besorgt, regelrecht drauf gewartet, seit Kafka am Strand is das vorbei. Aber mit deiner Rezension hast Du mich doch wieder neugierig gemacht.
    Es klingt wirklich nach einem sehr typischen Murakami, und so mag ich ihn auch. Meine Lieblinge sind Die wilde Schafsjagd und Hardboiled Wonderland.

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  6. Pingback: Haruki Murakami – Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki | 1001 Bücher - das Experiment

  7. 1Q84 waren meine ersten Bücher von Murakami, und nach deiner Einteilung gehöre ich wohl auch zum ersten Teil der Menschheit, jenem, der ihn schätzt. Danach habe ich mich an Kenzaburo Oe versucht und viele ungewöhnliche Sprachbilder, die ich bei Murakami so mochte, wiedergefunden. Das hat mich darauf gebracht, dass seine Art zu schreiben auch zu einem großen Teil kulturell geprägt zu sein scheint. Oe kann ich auch sehr empfehlen!

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    • Du hast sicher Recht, diese kulturelle Prägung geht uns hier ab, und wirkt wahrscheinlich deswegen so faszinierend. Kenzaburo Oe steht auch noch auf meiner Liste, ich bin gespannt, wie ich die Lektüre empfinden werde. Ich glaube aber dennoch, dass Murakami eine besondere Art zu schreiben hat, auch wenn gewisse Elemente auch bei anderen Schriftstellern auftauchen werden.

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