David Peace – 1974

Es ist Freitag, der 13. Dezember 1974. Der Tag, an dem Edward Dunfords Vater begraben wird. Und der Tag, an dem er seinen neuen Job antritt, die heißersehnte Stelle als Gerichtsreporter. Er wird als erstes zu einer Pressekonferenz der Polizei beordert, die bekannt gibt, dass die 10jährige Clare Kemplay auf dem Heimweg von der Schule verschwunden ist. Es gibt keinerlei Hinweise, wo sie sein könnte. Alle machen sich Sorgen, niemand macht sich große Hoffnungen.

Nach der Beerdigung seines Vaters geht Edward seine Recherchen an. Es ist eine andere Atmosphäre, als man sie aus heutigen englischen Krimiserien kennt, es gibt nicht viel O1974rdnung, der Preis für Informationen ist hoch, Befragungen finden unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit, dafür unter Anwendung jeglicher Gewalt statt. Große Teile der Arbeit laufen in dreckigen Spelunken ab, überhaupt ist der Alkoholkonsum immens. Natürlich ist immer eine Kippe zwischen den Lippen. Edward findet also bei seinen Recherchen heraus, dass Clare nicht das erste Mädchen ist, das in den letzten Jahren verschwand. Es gab mehr, im Abstand von ein paar Jahren.

Wem immer er dies sagt, reagiert skeptisch. Niemand geht darauf ein, aber er scheint gehört zu werden. Er bekommt neue Hinweise, für die er in dunkler Nacht an zwielichtige Orte bestellt wird, er wird Zeuge grausamer Ablenkungsmanöver, und nicht zuletzt bezahlt er einen hohen körperlichen Preis für seine Informationen. Und er ist nicht der einzige, der bezahlt. Jeder, der involviert ist, der seine Nase zu tief in die Angelegenheit steckt, bezahlt einen hohen Preis.

Langsam wird die Gewalt immer mehr, der Preis immer höher. Das bedeutet wohl, dass er auf der richtigen Spur ist… doch was ist der ultimative Preis, den Edward bezahlen muss, um die Wahrheit herauszufinden? Und will er sie überhaupt noch wissen?  Denn er hat schon so vieles geopfert – seine körperliche Unversehrtheit, seine geistige Gesundheit, und dann sind da auch noch seine Familie und nicht zuletzt zwei Frauen…

„1974“ ist einer der härtesten Romane, die ich je gelesen habe. Das war auch so angekündigt, und ich nehme an, deswegen ist Peace‘ Quartett so erfolgreich gewesen: er erzählt schonungslos eine grausame Geschichte. Die Polizeistrukturen im England der 70er und 80er Jahre werden bloßgelegt, die Korruption, die Gewalt, dieses „alles-tun-um-ein-Ergebnis-zu-erzielen“, und trifft es einen Unschuldigen – Pech gehabt. Nicht nur das, um von sich abzulenken, werden andere Personengruppen beschuldigt. Was hier passiert, hat mich doch sehr schlucken lassen. Und dies war nicht das einzige Mal, dass mir ein wenig schlecht wurde. Alle Aspekte dieser grausamen Geschichte werden im Detail dargestellt. Das ist für geübtere Krimileser als ich einer bin wahrscheinlich nicht so ungewöhnlich, für mich jedoch war es das.

Dennoch muss ich sagen, dass dieser Roman einen Sog entwickelt. Wie eine Schlingpflanze hält er den Leser fest und zieht ihn in den Abgrund. Man kann sich winden, so sehr man möchte, doch sie hält nur an, um ein weiteres Detail vorzuzeigen. Und dann geht es weiter, immer tiefer und immer tiefer, bis man nicht mehr weiß, wem man noch trauen kann und wem nicht. Ich hatte den Eindruck, dass Edward Dunford ein recht unzuverlässiger Erzähler ist, mit fortschreitendem Alkoholkonsum und fortschreitender körperlicher Degeneration werden die Aussagen unzuverlässiger, verschwimmen. Bis man am Ende da sitzt und nach Luft schnappt, froh, die letzte Seite umblättern und dem Sog entkommen zu können, aber auch im Bewusstsein, ein mächtiges Stück Literatur konsumiert zu haben, das man so schnell nicht vergisst.

Teil 2, „1977“, liegt seit dieser Woche bereit. Wenn mein Magen sich richtig anfühlt, geht es weiter.

Auch hier habe ich einen TV-Tipp, der die Polizeiarbeit im England der 1970er und 1980er Jahre anschaulich macht: es ist „Life on Mars“ und der daran anschließende Nachfolger „Ashes to Ashes“. Diese beiden Serien habe ich auch atemlos verfolgt, wobei das Buch um einiges härter war. Wer aber Interesse an einer Serie hat, die ebenfalls mit einem großem Clou endet, möge sie sich anschauen, aber nicht zu viel Wikipedia lesen, das verdirbt die Überraschung.

David Peace wurde 1967 in Ossett, West Yorkshire, geboren. Er studierte in Manchester und lebte nach seinem Studium viele Jahre in Istanbul und Tokio, bevor er nach England zurückging. Er hat eine japanische Frau und zwei Söhne. „1974“ ist der erste Teil des „Red Riding Quartett“, das aus den Teilen „1974“, „1977“, „1980“ und „1983“ besteht. Hier entwickelt er eine Geschichte um Polizeikorruption, die er vor dem Hintergrund der realen Morde des „Yorkshire Rippers“ Peter William Sutcliffe entwickelt. Peace‘ Romane basieren fast alle auf realen Ereignissen. Im Moment schreibt er an einer Kriminalromanserie, die in Tokio angesiedelt ist. Er hat zahlreiche Preise gewonnen.

 David Peace. Foto: Eamonn McCabe

David Peace. Foto: Eamonn McCabe

In meiner Liste steht tatsächlich nur „1977“, aber natürlich möchte ich alle Teile lesen, und diese in der richtigen Reihenfolge. Dementsprechend stelle ich hier den ersten Teil vor.

David Peace: 1974. Aus dem Englischen von Peter Torberg. OA 1999. DA Wilhelm Heyne Verlag, München, 2006. 384 Seiten.

9 Gedanken zu „David Peace – 1974

  1. Die Tetralogie ist absolut lohnend, wenn auch ab und an schwer zu lesen. Die Verfilmung ist auch nicht schlecht, mit einem der elegischsten Abspanne ever:

    Viele Grüße,
    Gerhard

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    • Ich werde mir die Filme aufsparen, bis ich alle Teile gelesen habe. Aber vielen Dank für den Hinweis, ich glaube gerne, dass die Filme gut sind. Und „freue“ mich auf die restlichen Teile 🙂
      Viele Grüße und ein schönes Wochenende!

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      • Ja, unbedingt erst die Bücher lesen. Die Filme machen an der ein oder anderen Stelle einiges klarer und sind somit eine wichtige Ergänzung, die Bücher sind streckenweise doch sehr experimentell, vor allem – wenn ich mich recht entsinne – der dritte Teil. Viele Grüße, Dir auch ein schönes Wochenende,
        Gerhard

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  2. Pingback: [1001 Bücher] David Peace – 1974 – #Literatur

    • Das beruhigt mich in der Tat ein wenig, „1974“ ist ja schon harte Kost. Andererseits habe ich auch schon diverse Beschwerden gelesen, dass Thriller oder Krimis heutzutage doch allzu blutig und en détail sind. Ich habe zwar schon einige gelesen, aber nicht genug, um mir da ein Bild machen zu können. Wie dem auch sei, ich bin gespannt, wie es weitergeht 🙂
      Viele Grüße und ein schönes Wochenende!

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      • Sicher gibt es eine Menge blutiger Krimis, aber das ist doch meistens konventioneller Mainstream und je blutiger, desto absurder. „1974“ ist, finde ich, anders hart…;-) Beste Grüße!

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  3. Ich kenne zwar nur die Filme, aber selbst die sind von der Grundstimmumg und der Thematik her starker Tobak. Ich glaub als Papa würde ich die heute nochmal mit ganz anderen Augen sehen. Die Bücher stehen seither auf der Merkliste, danke für die Auffrischung.
    Gruß,
    Marc

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    • Ich werde immer gespannter auf die Filme 🙂 Ich bin mir nicht so sicher, ob sich im Laufe der Zeit die Sicht auf die Bücher/Filme sehr ändert – auch als nicht-Mama fand ich das ganze zum Magenumdrehen. Aber nichts desto trotz war 1974 hervorragend geschrieben und spannend.
      Eine schöne Woche,
      Miriam

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