Buch #64: Sylvia Plath – Die Glasglocke

Esther Greenwood ist 19, als sie für einen Monat ein Praktikum bei einer bekannten Modezeitschrift in New York macht. Die eigentliche Arbeit bei der Zeitschrift steht dabei eher im Hintergrund, vielmehr gehen sie und die anderen Praktikantinnen von einem social event zum nächsten, Mode, Make-up, Männer treffen. Es ist 1953, und auch wenn Esther an einem bekannten College studiert, sind das die Dinge, die sich ihr bieten.glasglocke

Sie hat einen Freund, Buddy, der sie nach Jahren des Anhimmelns endlich erhört und eine Zukunft mit ihr planen will. Diese Zukunft besteht in einer Familie mit Kindern, und einem Buddy, der stets gönnerhaft auf das kleine Liebchen herabsieht, das solche albernen Träumchen hat wie Dichterin zu werden. Aber, und das weiß auch Esther, Dichterin und Familie, das passt nicht zusammen.

„Ich sah, wie sich mein Leben vor mir verzweigte, ähnlich dem grünen Feigenbaum in der Geschichte.

Gleich dicken, purpurroten Feigen winkte und lockte von jeder Zweigspitze eine herrliche Zukunft. Eine der Feigen war ein Ehemann, ein glückliches Zuhause und Kinder, eine andere Feige war eine berühmte Dichterin, wieder eine andere war eine brillante Professorin, die nächste war Ee Gee, die tolle Redakteurin, die übernächste war Europa und Afrika und Südamerika (…).

Ich wollte sie alle, aber eine von ihnen nehmen bedeutete, alle anderen verlieren, und während ich dasaß, unfähig, mich zu entscheiden, begannen die Feigen zu schrumpfen und schwarz zu werden und plumpsten eine nach der anderen auf den Boden unter mir.“

Seit Buddy ihr das Geständnis gemacht hat, nicht mehr „rein“ für sie zu sein, fühlt sie sich von ihm betrogen, fängt an, ihn zu verachten. Warum sollte es für ihn richtig sein, und für sie nicht? Eine Frage, die sich etliche Generationen stellten und wohl noch stellen werden.

„Und ich wußte, trotz aller Rosen und Küsse und Essen im Restaurant, mit denen der Mann die Frau überschüttete, bevor er sie heiratete, war er insgeheim darauf aus, daß sie sich nach der Hochzeit unter seinen Füßen flach machte wie Mrs. Willards Küchenmatte.“

Esther ist ohne Vater aufgewachsen, hat aber immer A`s bekommen und sich so einen Preis und ein Stipendium nach dem anderen erarbeitet. Sie hat nach dem Praktikum noch ein Jahr am College vor sich, doch zuerst stehen die Sommerferien bevor. Auf die Frage des Magazins, was sie denn einmal werden wolle, hat sie keine Antwort bereit – im Hinterkopf aber die Möglichkeit, einen Ferienkurs bei einem berühmten Schriftsteller zu machen. Als sie nach Hause kommt, findet sie jedoch eine Absage vor.

Und nun beginnt sie auseinanderzufallen. Sie hat bis dahin alles „richtig“ gemacht, hat gut gelernt, besucht ein gutes College, bekommt Stipendien und ein Praktikum, doch wozu? Im Grunde genommen geht es doch darum, die gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen. Man wird irgendwohin geboren, und dann hat man dem Umfeld entsprechend zu sein. Esther verweigert sich dem. Sie hört auf zu duschen, sich frisch anzuziehen, zu schlafen, und sinnt auf die verschiedensten Arten, sich umzubringen.

Hier beginnt ein langer Leidensweg, der mit einem dieser Ärzte, die sich selbst für den Mittelpunkt der Welt halten und für die Dämchen schnellstmöglich eine Elektroschockbehandlung anordnen, eingeläutet wird. Sie durchläuft von hier an viele Stationen, und nimmt den Leser immer mit. Es ist eine Leidensgeschichte, aber auch eine Emanzipationsgeschichte.

Esther weiß, dass sie nicht in ein gesellschaftliches Schema zu pressen ist. Sie hat Angst, weiß nicht, wie sie ihren Weg gehen soll, versinkt in Ohnmacht:

„Ich wußte, dass ich Mrs. Guinea dankbar sein mußte, und trotzdem empfand ich nichts. Hätte sie mir eine Fahrkarte nach Europa oder eine Kreuzfahrt rund um die Welt geschenkt, so hätte sich für mich nicht das geringste verändert, denn egal, wo ich saß – ob auf dem Deck eines Schiffes oder in einem Straßencafé in Paris oder Bangkok-, immer saß ich unter der gleichen Glasglocke in meinem eigenen sauren Dunst.“

Es ist schwer, da wieder hinauszufinden. Und es ist harte Arbeit. Immer wieder von Neuem. Doch Esther lernt dazu. Lernt, dass sie wichtig ist, und nicht, was andere denken. Auch nicht ihre Mutter.

„Mir fiel das Gesicht ein, das meine Mutter bei ihrem ersten und letzten Besuch in der Anstalt seit meinem zwanzigsten Geburtstag gemacht hatte, ein blasser, vorwurfsvoller Mond. Die Tochter in einer Anstalt! Das hatte ich ihr angetan.“

Wird es Esther am Ende besser gehen? Oder wird sie wie ihre Erschafferin enden? Man weiß es nicht. Es ist schwer, anders zu sein als die anderen. Nicht in sein Umfeld zu passen. Immer wieder einzustecken, wie albern und idealistisch man doch ist. Ein Kampf, der manchmal, wenn man nicht weiß, warum man ihn kämpft, unter einer Glasglocke endet. Esther ist sich darüber im Klaren, dass der Rest ihres Lebens diesen Kampf beinhalten wird. Aber sie nimmt ihn an. Erstmal.

Die Glasglocke ist ein ungeheuer intensives Portrait einer jungen Frau, die in der Gesellschaft verloren geht. Sie schildert schonungslos ihren Weg und nimmt den Leser mit auf jedem Schritt. Obwohl 1963 erschienen, und obwohl vielleicht einige der Ansprüche heute andere sind, ist die Lektüre immer noch blitzaktuell. Sie lässt verzweifeln und gibt doch Hoffnung. Und könnte Menschen, die keine Glasglocken kennen, zeigen, wie es ist und vielleicht ein wenig Verständnis entlocken.

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Sylvia Plath Bild: biography.com

Sylvia Plath wurde am 27. Oktober 1932 in Jamaica Plain bei Boston, MS, geboren. Sie nahm sich am 11. Februar 1963 das Leben. Ihre Literatur wird meist im Kontext ihrer Lebensgeschichte gelesen.

Ihre Gedichte werden als Confessional Poetry gewertet, als Bekenntnislyrik, und auch in ihrem Roman Die Glasglocke, der ihr einziger geblieben ist, verarbeitete sie ihre Erlebnisse, wie einen Suizidversuch oder ihre Beziehung zu Ted Hughes, ihrem Ehemann. Ihren Durchbruch hatte sie erst postum, nachdem ihr Roman und einige nachgelassene Gedichte veröffentlicht wurden. Ihr Leben und ihr Tod wurden zum Gegenstand des öffentlichen Interesses, Plath zu einer Symbolfigur für die Frauenbewegung.

Sylvia Plath: Die Glasglocke. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1997. OA: The Bell Jar. 1963. 262 Seiten.

17 Gedanken zu „Buch #64: Sylvia Plath – Die Glasglocke

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  2. Ja, Deine Besprechung macht richtig neugierig auf den Roman. Zumal ja auch gerade Connie Palmen Sylvia Plath als eine der Protagonisten ihres neuen Romans ausgewählt hat.
    Viele Grüße, Claudia

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  3. Eine sehr schöne Besprechung. Die Glasglocke ist eines meiner Lieblingsbücher und zusammen mit „Der Fänger im Roggen“ von Salinger (oder vielleicht auch den neuen Leiden des jungen W.) wohl das Buch der Teenagerzeit. Ich habe festgestellt, dass es ganz häufig im TV auftaucht, immer von Mädchen und jungen Frauen gelesen: Bei den Gilmore Girls, 10 Dinge, die ich an dir hasse und vielen anderen.

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    • Bei den Gilmore Girls habe ich es auch mitbekommen, es gehört ja auch zur amerikanischen Kultur. „Lieblingsbuch“ werde ich es aber wohl nicht nennen, aber auf jeden Fall wird es recht weit oben auf meiner Liste sein.
      Einen schönen Feiertag,
      Miriam

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  4. Geniales Buch, zählt auch zu meinen absoluten Favoriten. Ist eines von wenigen, dass mich immer wieder von der ersten Seite packt und ich dann auch nicht mehr aus der Hand legen kann. Sehr intensive Lektüre.
    LG
    Deborah

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  5. Tolle Rezension!! Ich habe noch „Du sagst es“ von Connie Palmen hier liegen, möchte aber unbedingt zuerst Die Glasglocke lesen. Ich möchte mehr über Sylvia Plath Werk und Leben erfahren, seit ich „Was uns bleibt ist jetzt“ von Meg Wollitzer gelesen habe.

    Daumen hoch für deinen großartigen Blog, der in meiner Blogroll ganz oben steht 👍🏻.

    Liebe Grüße
    Nadine

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    • Erstmal: Vielen Dank, das freut mich natürlich sehr!
      Ich hatte einen ähnlichen Gedankengang, „Du sagst es“ liegt auch bei mir noch bereit, aber ich wollte auch zuerst „Die Glasglocke“ kennen. Das Buch von Meg Wolitzer kenne ich nicht, das muss ich mir mal anschauen.
      Einen schönen Tag und liebe Grüße zurück!

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  6. Das Buch stand in der Bibliothek meiner Mutter – als junges Mädchen traute ich mich, in Anbetracht des Lebensweges von Sylvia Plath, jahrelang nicht, es zu lesen. Ich hatte Angst davor, was drinnen stehen würde. Kann man beim Erwachsenwerden den Verstand bewahren? Und dem Leben einen Sinn abgewinnen? Diese Fragen beschäftigten auch mich sehr stark.
    Als ich das Buch endlich las, war es wirklich spannend – aber Gott sei Dank fand ich andere Antworten als Sylvia Plath. Aber diese Angst vor dem Buch hat sich sehr stark eingeprägt und mir ihr die Erfahrung, wie wichtig Bücher für mich waren.

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    • Das ging mir eigentlich recht ähnlich… ich habe es nie gelesen, weil ich Angst davor hatte, was es mit mir machen würde. Ich wusste ja, wie es mit Sylvia Plath endete, und auch wenn ich nicht dachte, dass ich meinen Kopf in den Ofen stecken würde, war so ein leicht „unheimliches“ Gefühl da. Aber auch ich bin froh, es gelesen zu haben, es hat mich – erwartungsgemäß – sehr beeindruckt.

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  7. Pingback: 2016 – ein kurzer Rückblick | 1001 Bücher - das Experiment

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