Ewald Arenz – Alte Sorten

Ewald Arenz hat mit „Alte Sorten“ einen ganz besonderen Roman geschrieben. Er handelt von einer Freundschaft zwischen zwei ungleichen Frauen, die beide ihr Leben außerhalb gesellschaftlicher Konventionen leben wollen und dabei ständig anecken.

Die junge Sally ist aus einem Heim abgehauen. Man sagt ihr, sie habe psychische Probleme und müsse in Behandlung sein, obwohl Sally einfach nur sie selbst sein will und nicht so, wie alle es von ihr erwarten. Wenn sie keinen Hunger hat, will sie nicht essen. Wenn sie keine Lust zu reden hat, redet sie nicht. Wenn sie kein Insta-taugliches Leben will, lebt sie dies nicht. Eigentlich ganz einfach. Nur verstehen die Erwachsenen das nicht.

Sie haut also ab, lässt ihr Handy zurück und geht, einfach immer weiter. Es wird Abend, sie überlegt, wo sie bleiben soll. Da trifft sie am Weg eine Frau mit einem Traktor, Liss. Die sieht sie an und fragt sie nur, ob sie mit anpacken könne, den festsitzenden Traktor zu befreien. Zusammen gelingt dies, und beide gehen ihrer Wege. Bis Liss anhält und Sally anbietet, auf ihrem Hof zu übernachten. Was Sally macht.

Eine stille Hausgemeinschaft entsteht, Sally schläft viel und kommt ein wenig zur Ruhe. Liss erklärt ihr das Leben auf dem Hof, die Hühnerhaltung, die Maschinen, die Bienen und die Birnen. Vor allem die Birnen, die eine besondere Verbindung zwischen den Frauen begründen.

Aber keine der beiden spricht über ihre Vergangenheit. Keine fragt. Jede lässt die andere in Ruhe und jede gibt nur preis, was sie möchte. Es entwickelt sich eine Freundschaft auf Augenhöhe. Bis Sallys Eltern sie finden und beinahe eine Katastrophe geschieht…

Mit Sally und Liss hat Ewald Arenz zwei ungewöhnliche Charaktere geschaffen, wie ich sie schon lange nicht mehr kennengelernt habe. War ich anfangs etwas besorgt, es könne sich um einen weiteren dieser modernen Heimatromane handeln, stellte sich schnell heraus, dass hier ein Roman über Freundschaft, Respekt und zwei starke Frauenfiguren vorliegt.

Diese beiden leben am Rande der Gesellschaft, können und wollen sich nicht einfügen, wollen nicht nach den Konventionen leben. Eine meint, den Kampf verloren zu haben, eine kämpft mit Klauen und Zähnen. Diese Entwicklung, wie die beiden sich ganz, ganz behutsam annähern, dabei Abstand halten, die andere sein lassen, diese Entwicklung habe ich atemlos verfolgt. Ich habe diesen Roman in drei Tagen inhaliert, und auch das nur, weil ich möglichst lange davon haben wollte.

Dies alles in der Umgebung eines Bergdorfes, mit Wäldern, Feldern und Weinbergen. Wo körperliche Arbeit getan werden muss, die jedoch auch eine Nähe zu sich selber mitbringt. Die die Frauen sich spüren lässt. In der jeder jeden kennt, und somit auch das Schicksal und die Ausgrenzung. Und in der diejenigen, die immer zu einem gehalten haben, kaum mit Gold aufzuwiegen sind. In der Traditionen Starre vorgeben, aber auch für Halt sorgen. Aus der man in die weite Welt fliehen will, die aber auch Geborgenheit verspricht.

Eine kleine Lobhudelei für einen für mich großen Roman. Ich möchte diese Geschichte über eine Frauenfreundschaft jeder und jedem ans Herz legen. Bei mir ist sie in die ewige Bestenliste eingezogen und heißer Kandidat für mein Buch des Jahres.

Ewald Arenz: Alte Sorten. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 255 Seiten.

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Kathryn Stockett – Gute Geister (The Help)

Der Roman

Kathryn Stocketts Roman Gute Geister (The Help) ist im amerikanischen Süden, in Jackson, Mississippi, angesiedelt. Er erzählt von einer für damalige Verhältnisse ungehörigen Begebenheit, aus der Sicht von drei Frauen. Auch wenn die Sklaverei lange abgeschafft ist, herrschen im Grunde die gleichen Verhältnisse, außer dass die Hilfen für nicht ganz den Mindestlohn arbeiten. Zwei dieser Hilfen, Aibileen und Minny, erzählen der weißen Skeeter ihre Geschichten. Ihre drei Perspektiven wechseln sich ab.

Aibileens Perspektive eröffnet den Roman, sie beschreibt einen ihrer Arbeitstage und sinniert über die weißen Kinder, die sie großgezogen hat und großzieht, nach. Ihr eigener Sohn ist bei einem Unfall gestorben. Nicht, dass sie sich ihre Trauer anmerken lassen dürfte. Ihre beste Freundin ist Minny, eine ausgezeichnete Köchin, die für die Mutter von Miss Hilly arbeitet, bis Hilly diese ins Altenheim verfrachtet und Minny für sich selbst will. Als Minny ablehnt, verbreitet Hilly Gerüchte über sie, so dass sie keine neue Anstellung mehr findet. Miss Hilly sitzt nun mit Elizabeth Leefolt, Aibileens Arbeitgeberin, und Skeeter in Miss Leefolts Haus und spielt Bridge. Hilly eröffnet ihnen ihre neueste Idee: jede Hilfe muss eine eigene Toilette haben.

Minny, nun arbeitslos nach der Episode mit Hilly, hat wenig Erfolgsaussichten, einen neuen Job zu finden. Durch einen Zufall (ein bisschen nachgeholfen) landet sie bei Celia Foote, die den Mann heiratete, der einst Hillys Freund war. Sie wird von allen geächtet. Aber das ist nicht das einzige, was sie belastet. Zunächst mal kann sie nicht kochen, und Minny wird ihre Lehrerin. Und kommt langsam aber sicher hinter das Geheimnis, das Celia umgibt.

Skeeter hat ihre College-Zeit beendet und wurde nicht „weggeheiratet“. Nun ist sie wieder in ihrem Jugendzimmer und sucht nach ihrem Platz im Leben, stets begleitet vom Konzert ihrer Mutter über all ihre Unzulänglichkeiten. Ihre besten Freundinnen sind Hilly und Elizabeth, die sie gerne verkuppeln möchten, was aber nicht so ganz funktioniert. Skeeter sucht sich einen Job bei einer Zeitung, doch das Beste, was sie als Frau, noch dazu frisch vom College, bekommen kann, ist eine Haushaltskolumne. Kein Problem, sie hat ja nicht ihr Leben lang alles von den Hilfen abgenommen bekommen. Nun bittet sie also Aibileen um Hilfe. Für ihre Kolumne.

Und so kommt die Konstellation zustande, die dann im weiteren Verlauf dazu führt, dass Skeeter, um ihre Karriere voran zu bringen, Aibileen und Minny und noch einige andere Frauen fragt, ihr von ihrem Leben als „The Help“ zu erzählen. Es sind die sechziger Jahre, Martin Luther King wird schon bald von einem Traum sprechen, aber dieser ist bis jetzt nicht erfüllt. Die Realität der Schwarzen in Jackson besteht aus versehrten Körpern und Seelen, weil sie irgendeine Weißenregel missachtet haben.

Je mehr dieser Versehrungen stattfinden, umso mehr Geschichten kommen zutage. Diese sind nicht immer schlecht, aber die meisten sprechen eine eindeutige Sprache. Und sind damit brandgefährlich für alle Beteiligten. Als das Buch schließlich erscheinen soll, muss eine Sicherheit her. Doch kann es die geben?

Der Roman The Help hat mir gut gefallen. Ich habe in letzter Zeit angefangen, mich mit der Black Lives Matter – Bewegung und auch mit Feminismus zu beschäftigen, wobei ich noch unendlich viel lernen muss, und in dieser Hinsicht hat er schon einiges zu bieten. Es handelt sich um eine Geschichte, die ausschließlich aus weiblichen Perspektiven behandelt wird, und zwei dieser Perspektiven sind die von Schwarzen Frauen.

Ich schaue den Film

Ich habe die Buchausgabe mit den Schauspielerinnen der Verfilmung auf dem Cover, ich weiß, dass Octavia Spencer den Oscar für die beste Nebendarstellerin bekommen hat. Nach Beenden des Buches sehe ich mir den sehr erfolgreichen Film an, ich bin neugierig auf die Umsetzung der Perspektiven und ob es geschafft wird, die Stimmen so stark zu machen wie im Buch.

Natürlich nicht. Klar ist von vornherein, wie natürlich bei jeder Verfilmung: der Roman hat 600 Seiten, gekürzt wurde ausgiebig. Aber Kürzen muss nicht unbedingt vereinfachen heißen, was jedoch hier fast überall getan wurde. Lächerlich ist Skeeters Lernkurve, die erstaunten Augen, wenn sie anfängt zu begreifen, was um sie herum geschieht, oder wie die Realität für die anderen Frauen aussieht. Vereinfachung ist hier überhaupt das Wort: Allison Janney, die Skeeters Mutter verkörpert, ist in dieser Rolle, die auch vereinfacht und am Ende unglaublich beschönigt wird, eine absolute Fehlbesetzung. Skeeters Herrenprobleme sind im Film vollkommen überflüssig, und Celias Geheimnis wird auch nur in eine Disney-Version verpackt. Was zur Folge hat, dass diese absolut unangemessene Endszene mit ihr und Minny zustande kommen konnte.

Die starke Vereinfachung geht natürlich auch an Aibileens Figur nicht vollkommen vorbei, aber sie kommt tatsächlich glaubhaft und nachvollziehbar an. Insgesamt gibt es viele schöne Bilder und eine „schöne“ Atmosphäre, aber diese täuschen nicht darüber hinweg, dass Probleme nur angedeutet werden und die Gefahren und Ängste quasi nicht stattfinden.

Ich lese den Essay von Roxane Gay

Parallel zu Gute Geister lese ich den Essayband Bad Feminist von Roxane Gay. Dieser enthält auch einen Essay zu – hauptsächlich – der Verfilmung. Ich hebe mir diesen auf, bis ich das Buch beendet und den Film gesehen habe, damit ich mir selbst ein Bild machen und dann eine andere Meinung einholen kann. Und diese ist anders. Sie sieht zum ersten das Problem, dass eine weiße Frau über Schwarze Frauen schreibt, die aber keine Ahnung hat von dem, wie es wirklich war und so immer nur in der Lage sein wird, eine beschönigte Version wiedergeben zu können.

Gay spricht von der Figur des Schwarzen in Filmen, der auftritt, um dem Protagonisten die weisen Eigenschaften zu verleihen, die er oder sie braucht, um weiterzukommen (Gay, S. 272). Siehe „Ghost – Nachricht von Sam“, „Robin Hood, König der Diebe“ oder „The Green Mile“. Hier tut Aibileen dies für Mae Mobley, Elizabeths ungeliebte Tochter. Skeeters problematischer Umgang mit dem „Erlernten“, das eigentlich so offensichtlich für sie sein sollte, ist ein weiteres Problem. Auch, dass sie sich nicht darüber im Klaren ist, wie sehr sie die Frauen gefährdet, und am Ende auf ihre Stelle verzichten will, um sie zu „beschützen“, ist schwierig.

Die Probleme mit dem Dialekt, der den Schwarzen Frauen gegeben wurde, kann ich nicht beurteilen, da ich den Roman in der deutschen Fassung gelesen habe und auch bei der englischsprachigen Filmversion keine Ahnung habe, ob das authentisch ist oder nicht. Da muss ich ihr glauben. Viele ihrer Punkte konnte ich nachvollziehen, bei einigen hatte ich einige Schwierigkeiten damit.

Der Essay von Roxane Gay war eine hilfreiche Erfahrung für mich, zu überprüfen, wie ich Dinge wahrnehme und was ich als selbstverständlich annehme oder ohne weiteres Nachdenken hinnehme. Ich sehe, ich habe noch einiges zu tun, um Dinge anders einschätzen zu können, aber der Lernprozess läuft.

Kathryn Stockett: Gute Geister. The Help. Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2012. OA: The Help. Amy Einhorn Books/Putnam, New York, 2009. 605 Seiten.

Roxane Gay: Bad Feminist. Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Spielmann. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2019. OA: Bad Feminist. Harper Perennial, New York, 2014. 414 Seiten.

Nederlandstalig! Maria Peters – Die Dirigentin

Maria Peters ist eigentlich Filmemacherin und hat den Stoff um Antonia Brico zuerst verfilmt, wobei der Gedanke, auch einen Roman aus dem Stoff zu verfassen, wohl parallel lief. Wie Maria Peters im Nachwort schreibt, war die Inspiration für beides der Dokumentarfilm Antonia. A Portrait of the Woman von Judy Collins. Große Hilfe bei ihrem Projekt war Antonias Cousin Rex Brico, der sie sehr gut gekannt hat.

Die Geschichte von Antonia Brico beginnt 1926, als Antonia, deren Name da noch Wilhelmina – Willy – Wolters lautet, Anfang 20 ist. Ihre Mutter ist überaus streng zu ihr, kassiert den Lohn von Antonias beiden Jobs sofort ein und lässt sie noch große Teile der Hausarbeit erledigen, ihr Vater ist Müllmann, immer erschöpft. Antonia arbeitet als Schreibkraft und abends als Platzanweiserin in einer Konzerthalle. Diesen Job liebt sie. Wenn die Türen sich schließen, eilt sie in die Herrentoilette – dort ist die Akustik am Besten – und dirigiert mit, mit einem Essstäbchen.

Hierbei wird sie von einem jungen Mann erwischt, der zweiten Stimme in diesem Buch: Frank. Er kann sich nicht erklären, was Antonia dort tut, so abwegig ist der Gedanke, sie könne dirigieren. Dennoch findet er sie interessant. Als eines Tages Antonias großes Vorbild Willem Mengelberg, ein niederländischer Dirigent, auftritt, muss sie dies unbedingt miterleben. Doch es kommt anders, und auf einmal hat sie keinen ihrer Jobs mehr.

Um nicht zu Hause zu sitzen, klappert sie alle Jobangebote ab, die sich bieten und landet schließlich in einem Club. Hier lernt sie Robin kennen, die dritte Stimme im Buch. Robin nimmt sie als Klavierspielerin an. Und so beginnt Antonias Entwicklung, sie wird offener und selbstbewusster. Schließlich geht sie zu Mark Goldsmith, einem Musikprofessor, und bittet ihn um Unterricht, damit sie aufs Konservatorium kann. Und sie konfrontiert ihre Eltern, wobei sie einige unglaubliche Wahrheiten über sich erfährt.

Maria Peters erzählt Antonias Weg zur Dirigentin aus drei Perspektiven, der Antonias, der Franks und der Robins. So bekommt man nicht nur Antonias Innenperspektive und ihre Sicht der Dinge, sondern auch Perspektiven außerhalb und auf sie. Antonias Weg ist hart, gepflastert mit Zurückweisungen und Erniedrigungen, die sich vor allem auf ihr Dasein als Frau und ihre Unverschämtheit, einen Beruf ausüben zu wollen, den nur Männer ausüben, beziehen.

Doch sie setzt sich durch, beißt sich durch, mit und ohne Franks Hilfe, mit Robins Hilfe. Sie wird Dirigentin eines Frauenorchesters, und das ist, wo im Großen und Ganzen der Roman endet. Es gibt dann noch einige Fakten, welche besagen, dass Antonia Brico so gut wie keine Jobs als Dirigentin bekommen hat und zeit ihres Lebens (bis 1989!!!) nie eine Festanstellung bei einem großen Orchester.

Der Ton des Romans ist ruhig und reflektiert, selbst als Antonia fast alles verliert, bleibt sie lakonisch und sagt: „Was kann ich machen?“ (S. 128). Auch die anderen Stimmen geben wieder, was sie denken und was geschieht, bleiben aber seltsam unbeteiligt. Dieser Ton intensiviert so einige Szenen, die darüber gelegte „Normalität“ wirkt manchmal wie ein Schlag ins Gesicht, dann wiederum möchte man Antonia manchmal nehmen und schütteln, damit sie etwas tut.

Es werden in diesen gut 300 Seiten sehr viele Themen angesprochen. Maria Peters hat einen ausführlichen Quellenteil angefügt. Die künstlerische Freiheit dürfte in den Personen rund um Antonia liegen, und in deren Perspektive. Diese ist mehr eine Perspektive nach #Metoo, was ich einerseits begrüßt habe, da es Antonias Lebenswelt in eine andere als die „so war das damals halt“-Rechtfertigungswelt rückt, diese andererseits aber manchmal auch allzu modern für den Stoff anmutet.

Es gibt ein Geheimnis um Robin, versuchte Vergewaltigung, eine (zwei) Liebesgeschichte(n) und immer und überall Misogynie, aufgegebene Träume, arrangierte Träume und einen erreichten Traum: Antonia wird Dirigentin. Und auch wenn Antonia weiterhin nur Kampf erfahren sollte, hatte sie auch Verbündete. Diese Kombination aus Kraft, Willen, Durchsetzungsvermögen und Freundschaft ergibt schließlich einen empfehlenswerten Roman über eine starke Frau, die sich nie hat kleinkriegen lassen.

Dieser Roman ist Teil meines nederlandstalig-Projekts und vom #WITmonth (Women in Translation).

Ich danke Atlantik bei Hoffmann & Campe für das Rezensionsexemplar. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Maria Peters: Die Dirigentin. Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek. Atlantik bei Hoffman und Campe, Hamburg 2020. OA: De dirigent. Meulenhoff Boekerij bv, Amsterdam 2019. 332 Seiten.

Esi Edugyan – Washington Black

„Ich war vielleicht zehn, elf Jahre alt – genau kann ich das nicht sagen -, als mein erster Master starb.“

So beginnt Esi Edugyans Roman „Washington Black“, und in diesem Satz ist schon so vieles angelegt. Washington wurde von seinem ersten Master auf den Namen George Washington Black getauft, er wird aber von allen Wash genannt. Er weiß nicht, wer seine Eltern sind, großgezogen wird er von Big Kit, die sich seiner annimmt.

Als sein erster Master stirbt, bekommt er einen neuen Master, Erasmus Wilde, ein brutaler, rücksichtsloser Mann, der die Sklaven erst einmal gefügig macht, indem er eventuellen Fluchtversuchen auf äußerst brutale Weise entgegenwirkt. Und so träumen sich Big Kit und Wash nach Dahomey, wo Big Kit herstammt, bevor sie gefangen genommen und nach Barbados verschafft wurde. Es soll immer Washs Fluchtpunkt bleiben.

Erasmus Wilde ist in Begleitung seines Bruders Christopher, der sein genaues Gegenteil ist. Er ist Gelehrter, wie ihr Vater, und dabei, ein Luftschiff zu bauen (das eindrucksvoll gezeichnet auf dem Cover abgebildet ist). Dieser sieht Washington und bittet seinen Bruder, ihn in seine Obhut zu geben. Und so ändert sich Washingtons Leben von einem Tag auf den anderen: von der harten Arbeit auf den Feldern, aus der Obhut von Big Kit gerissen, wird er Christopher Wildes Assistent.

Er lernt lesen und schreiben, streift den ganzen Tag mit ihm über die Insel und fängt an, Zeichnungen von den Dingen zu machen, die Christopher interessieren, von Pflanzen und Tieren, wofür er ein echtes Talent besitzt. So steigt er in seiner Achtung, und langsam wird die Beziehung mehr zu einer Freundschaft als die von Master und Sklave.

Dann bekommen sie Besuch von einem Cousin der Wildes, den ein dunkles Geheimnis zu umgeben scheint. Washington ist immer auf der Hut, und als es so weit ist, dass sie die ersten Experimente mit dem Luftschiff machen können, geschieht eine Katastrophe. Doch diese ist nicht die einzige für Washington, so dass er und Christopher schließlich mit dem Luftschiff fliehen müssen. Eine abenteuerliche Reise beginnt.

Sie sehen viele interessante Dinge, lernen spannende Menschen kennen, immer auf der Flucht, bis Christopher Washington schließlich verlässt und der seinen eigenen Weg finden muss.

Esi Edugyan hat eine Mischung aus einer Coming-of-Age-Geschichte und einem Abenteuerroman geschrieben, die mitreißend und spannend ist. Sie verwendet eine wundervolle Sprache, und auch die brutalen Szenen bleiben immer erträglich, dennoch eindringlich. Sie nimmt uns mit in eine Zeit, in der Menschen Besitz sind, die aber auch geprägt ist vom raschen Wandel in der Wissenschaft, und schafft es immer, auf diesem Grat zu balancieren.

Sie hat mit ihren Figuren, allen voran natürlich Washington, glaubhafte Charaktere geschaffen, wobei dieser im Laufe der Geschichte vielleicht eine Wende zuviel, einen Schicksalsschlag, dessen es nicht bedurft hätte, aufgebrummt bekommt. So zieht sich die Geschichte gen Ende ein wenig hin. Dennoch gelingt ihr ein glaubhafter, eindrücklicher Abschluss, so dass der Roman mir sehr positiv im Gedächtnis bleiben wird.

Dies, zusammen mit der schönen Sprache und den wundervollen Bildern, die Edugyan verwendet, machen diesen Roman zu einem Schmöker, den ich jedem empfehlen kann. Sie baut viele Details ein, die aber immer nachvollziehbar sind und so ein Panorama einer Zeit bilden, in der ich mich nicht so gut auskenne und nun froh bin, ein wenig mehr darüber zu wissen.

Eine weitere Rezension könnt Ihr hier bei der großartigen Bingereaderin finden.

Ich danke dem Eichborn Verlag für das Rezensionsexemplar. Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Esi Edugyan: Washington Black. Aus dem kanadischen Englisch von Annabelle Assaf. Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG Köln, 2019. 509 Seiten.

Han Kang – Deine kalten Hände

Der Roman Deine kalten Hände ist ein frühes Werk der Autorin Han Kang, die mit ihren jüngeren Büchern viel Beachtung gefunden hat. Für mich ist es jedoch der erste Roman, den ich von ihr lese, was meinen Eindruck vielleicht etwas anders als den derjenigen macht, die schon mehr von ihr gelesen haben.

Die Schriftstellerin H. hat durch Zufall mehrere Kunstwerke des Künstlers Jang Unhyong erlebt, welche großen Eindruck bei ihr hinterlassen haben. Jang Unhyong nimmt Abdrücke von Körperteilen, um diese als Formen zu verwenden oder neue Kunstwerke daraus zu kreieren. Eines Tages treffen sich die beiden, und H. fragt Unhyong nach seinem Antrieb. Er bleibt die Antwort schuldig. Einige Zeit später kontaktiert seine Schwester H., um ihr mitzuteilen, dass Unhyong vermisst werde, er aber ein Manuskript hinterlassen habe, in dem auch sie erwähnt werde. Sie schickt ihr dieses Manuskript.

Das Manuskript ist in drei Teile unterteilt, von dem das erste seine Kindheit, das zweite seine Begegnung mit L. und das dritte die Begegnung mit E. beschreibt. Schon als kleiner Junge war ihm bewusst, dass wir in einer Welt der Masken leben, jeder, er selbst ebenso.

„Mit der großen, schwarzen, viereckigen Hornbrille sah ich mir selbst nicht mehr ähnlich. Dass mein Gesicht völlig verändert aussah, war befreiend. Wie in einer guten Verkleidung hatte ich den Eindruck, dass mich niemand mehr erkennen konnte.“ (S.51/52)

Er ist sehr einsam, fühlt sich nicht zugehörig, sein liebloses Elternhaus gibt ihm keine Geborgenheit, kann ihm seine Ängste nicht nehmen.

„Ich bekam gute Noten, war gehorsam und tüchtiger als alle anderen. Aus diesem Grund wurde ich nicht im Stich gelassen.“ (68)

Er geht auf die Universität und studiert Kunst. Erste Ausstellungen werden positiv aufgenommen. Er wendet sich von den Masken ab, ist besessen von Händen. Und er begegnet L., die stark übergewichtig ist und die für ihn faszinierendsten Hände hat. Sie wird sein Modell, zuerst für die Hände, später für den ganzen Körper. Es entwickelt sich etwas zwischen ihnen, und sie öffnet sich ihm langsam, und erzählt ihm ihre Geschichte. Und verlässt ihn für einen anderen, ein zerstörerischer Schritt.

Als er E. kennenlernt, übt diese eine ganz andere Faszination auf ihn aus. Er will ihr Gesicht, eine Maske ihres Gesichts. Doch sie will ihre Maske vor ihrem Gesicht behalten, denn auch sie hat eine Geschichte dahinter zu verbergen.

Deine kalten Hände ist ein einfühlsamer, brutaler Roman. Ja, das ist möglich, Han Kang macht es möglich. Viele Themen werden angeschnitten, was manche Rezensenten bemängelt haben, es geht um Gewalt, Körperidentität, Krankheit, und ja, die Masken, die wir alle tragen. Sie behandelt ihre Themen in einer recht kühlen Sprache, sie lässt Unhyong erzählen, aber selten wird er emotional. Was genau diese Emotionalität auf mich zurückgeworfen hat. Der Roman hat mich im Inneren gepackt und in den Magen geboxt, er hat mich hineingesogen und wieder ausgespuckt, er war ekelhaft und so nah an mir dran.

Jeder trägt seine Masken, sie bieten Schutz, man kann sich verstecken, muss der Welt nicht sein Innerstes herausposaunen. Doch dreht man diese Masken um, sieht man, je fester sie auf dem Gesicht gesessen haben, jede Linie, jedes Abzeichen, das das Leben hinterlassen hat, eingeprägt, für immer konserviert. Vielleicht will man sie dann zerschlagen. Bevor jemand sie betrachten kann.

Ich weiß nicht, wie viel meisterlicher Han Kang schreiben kann, bin einerseits gespannt, wie sie sich weiter entwickelt hat, andererseits ein wenig abwartend, weil dieser Roman mir so gut gefallen hat.

Ich danke dem  Aufbau Verlag für das Rezensionsexemplar. Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Han Kan: Deine kalten Hände. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2019. OA: Erschienen bei Moonji Publishing, 2002. 312 Seiten.

Mark Thompson – El Greco und ich

Es ist 1968. J.J. ist zehn, und er hat einen besten Freund: Tony Papadakis, den er „El Greco“ nennt. Die beiden machen alles zusammen und, falls mal etwas schief läuft, wie zum Beispiel die Auswirkungen einer heimlich gerauchten Zigarette, dann halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Echte Freunde, Buddies, die Art, die man nur einmal im Leben hat.

El Greco liest viel, und er hält J.J. immer mit kleinen Fakten auf dem Laufenden. Der wichtigste Fakt ist, dass der Pazifische Ozean so groß und herrlich ist, dass der Atlantik, den sie von ihrem geheimen Treffpunkt aus sehen, wie eine kleine Pfütze scheint. Den Pazifik zu sehen, da ist er sicher, wäre das Tollste, was ihm im Leben passieren kann.

Die beiden teilen kleine Nöte, wie unfaire Brüder, oder große Nöte, wie unfaire Väter miteinander. Und wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten ist, tut der andere alles, um ihm zu helfen. So müssen sie so manche Prüfung bestehen und Probleme überwinden.

Dann, eines Tages, steht eine große Sache an: ein Road-Trip nach Savannah, bei dem die beiden viel von ihrem Land sehen und wo ihnen die Augen geöffnet werden über die Probleme, die das Land beherrschen. Aber nicht nur das bekommen sie zu sehen, auch die Schönheiten des Landes werden offenbar. Am Ende sind sie etwas erwachsener geworden, die beiden Jungs, die sind wie Pech und Schwefel. Und haben doch noch so viele Prüfungen vor sich.

„El Greco und ich“ ist ein kleines Schmuckstück. Der Roman, aus der Sicht des zehnjährigen J.J. erzählt, bleibt in der Perspektive und der Erlebniswelt eben dieses Jungen. Die Freundschaft der beiden, die unbedingte Loyalität, die kleinen und großen Schwierigkeiten, alles wird hautnah an den Leser herangetragen.

Man fühlt sich in seine Kindheit zurückversetzt, als man an heißen Sommertagen im Gras lag und den Wolken hinterherschaute, als man noch große Pläne hatte und die Zukunft unendlich schien. Kleine und große Ereignisse, eigentlich machte alles fast gleich viel Eindruck, war wichtig und aufregend und schwierig und irgendwie absolut.

Und so fiebert man mit den beiden mit, hofft, dass sie davon kommen, wenn sie Mist gebaut haben, hofft, dass sie durchstehen, was ihnen an Prüfungen auferlegt werden und freut sich, wenn ihre Freude sie beherrscht. Und am Ende, ja, da muss man vielleicht eine große Träne verdrücken. Ich bin froh, die beiden nun in meinem Leben zu haben, da man manchmal überlegen sollte, ob das Kleine im Leben wirklich klein und das Große wirklich so groß ist, oder ob wir im Verlauf der Jahre unsere Prioritäten nicht vielleicht ein wenig in die falschen Richtungen verschoben haben.

Und selbst wenn man dies nicht tut, hat man immer noch eine spannende Geschichte über zwei Jungs, die in einer spannenden Zeit leben, eine Geschichte, die bestens unterhält und einen oft glücklich in sich hineinlächeln lässt.

Mark Thompson, 1858 geboren und aufgewachsen ind Stockton-on-Tees, studierte Politikwissenschaft an der London Guildhall University, hat viele Jahre in Spanien verbracht, intensiv die USA bereist und spielt Gitarre in einer Rockband. „El Greco und ich“ ist sein erster Roman. Mark Thompson lebt mit seiner Familie in York. (Klappentext)

Mark Thompson: El Greco und ich. Aus dem Englischen von Katja Scholtz. mareverlag, Hamburg, 2018. OA: Dust. RedDoor Publishing, 2016. 240 Seiten.

Ich danke dem mare Verlag für das Rezensionsexemplar. Meine Meinung wurde in keiner Weise beeinflusst.

Dennis Lehane – Der Abgrund in dir

**Ich habe mich bemüht, die Spoiler so gering wie möglich zu halten, aber alle potentiellen Leser seien bitte trotzdem gewarnt, ganz ohne kommt die Besprechung nicht aus**

Dennis Lehanes neues Werk „Der Abgrund in dir“ kommt als zweigeteilter Roman zu seinen Lesern. Ist der erste Teil eine Art Charakterstudie, wandelt der zweite Teil diese in eine Art Actiongeschichte um. Ein Teil gefiel mir, einer nicht.

Die Protagonistin in „Der Abgrund in dir“ ist Rachel Childs. Sie wächst nur mit ihrer Mutter auf, die ihr nie verrät, wer ihr Vater ist. Selbst ist die Mutter Autorin eines Bestsellers über Beziehungen; wo sie jedoch ihr Wissen hernahm, war Rachel stets ein Rätsel. Als die Mutter bei einem Autounfall stirbt, nimmt sie ihr Geheimnis mit ins Grab. Doch Rachel gibt die Suche nach ihrem Vater nicht auf. Hier findet sie Verbündete, doch es ist fast unmöglich, auch nur eine Spur von ihm zu finden, vor allem mit den äußerst dürftigen Informationen, die Rachel besitzt.

Sie wird Journalistin, und sie arbeitet hart, um eine der führenden Reporterinnen zu werden. Schließlich schickt man sie nach dem verheerenden Erdbeben nach Haiti. Dort erlebt sie die Hölle auf Erden und wird nie wieder dieselbe sein. Sie erleidet vor laufender Kamera eine Panikattacke und zieht sich daraufhin völlig zurück. Ihre Ehe zerbricht, sie verlässt kaum noch das Haus, bis sie eines Tages durch Zufall einen alten Bekannten wiedertrifft: Brian Delacroix, der ihr bei der Suche nach ihrem Vater half.

Die beiden kommen sich näher, und Brian versucht, Rachel langsam wieder ins Leben zurück zu helfen… Hier beginnt nun der zweite Teil, von dem ich nicht viel erzählen kann, ohne zu spoilern. Die Ereignisse nehmen eine Wendung, die die ganze Geschichte auf den Kopf stellt. Es ist sozusagen der „Spannungsteil“ des Romans, der verfilmt wohl einige gute Actionszenen hergeben würde.

Doch mir hat gerade der erste Teil sehr gut gefallen, ich fand den langsamen Aufbau von Rachels Lebensgeschichte und ihren Problemen äußerst gelungen. Lehane betreibt, wie immer in einer sehr feinen und unaufdringlichen Sprache, eine behutsame Charakterstudie einer zerbrochenen Frau. Mich hätte jetzt interessiert, wie sie wieder ins Leben zurückfindet, wie sie ihre Traumata überkommen kann, ob und wie sie ihre Erlebnisse produktiv verarbeiten kann.

Doch die Wendung im Roman findet einen anderen Weg für Rachel, und mich persönlich hat dieser Weg überhaupt nicht angesprochen. Ich fand, Lehane macht gewissermaßen alles lächerlich, was er vorher so behutsam aufgebaut hat. Klar, die Geschichte liest sich knallerschnell weg, man will sicher wissen, wie es weitergeht, was einen guten Spannungsroman ja auch ausmacht. Aber will man dies, warum dann der ausgedehnte erste Teil?

Für mich beweist der erste Teil wieder einmal, was für ein feiner Schriftsteller Dennis Lehane ist, genau wie schon in Mystic River gefällt mir auch hier sein Schreibstil sehr gut. Auch den Aufbau seiner Figur, mit der ganzen Hintergrundgeschichte über ihre Familie und ihre Traumata, fand ich äußerst gelungen. Doch die Lösung, die er für sie findet, war für mich absolut enttäuschend, das hat die Figur nicht verdient.

So bleibt bei mir ein enttäuschtes Gefühl zurück und der Roman als Empfehlung für eine Abwechslung zwischendurch, aber nicht als Must-read. Schade, Mr. Lehane, da hätten Sie viel mehr draus machen können.

Dennis Lehane: Der Abgrund in dir. Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg. Diogenes, 2018. OA: Since we fell. HarperCollins, New York, 2017. 525 Seiten.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.