Haruki Murakami – Die Ermordung des Commentarore II – Eine Metapher wandelt sich

Nun ist er also da, der zweite Teil von Murakamis neuestem Werk. Teil 1 führt in die Geschichte ein, die nun nahtlos fortgeführt wird. Der namenlose Ich-Erzähler fährt damit fort, das Porträt der jungen Marie zu malen und freundet sich mit ihr an. Sie erzählen von ihren Leben und den Menschen, die sie verloren haben, und eine Verbindung entsteht zwischen ihnen.

Er malt aber nicht nur Marie, sondern folgt seinen Eingebungen und malt andere Bilder, in denen er seinen eigenen Stil entwickelt, weg von der Porträtmalerei. Er scheint etwas zuversichtlicher zu werden, doch dann geschehen mehrere Dinge, die ihn aus der Bahn werfen. Sein alter Freund, der Sohn des Malers, offenbart ihm eine Entwicklung, die er nicht kommen sah und die ihn zurückführt zu einem Traum, den er Monate zuvor hatte.

Und dann verschwindet Marie. Ihre Familie, der geheimnisvolle Menshiki und der Maler machen sich auf die Suche nach ihr, haben jedoch keinen Anhaltspunkt. Bis der Commendatore beim Maler auftaucht und ihn in die richtige Richtung lenkt. Der Maler muss ein großes Opfer bringen, um Marie zu retten und lernt dabei viel über sich selbst…

Die Fragen, die Murakami im ersten Teil seiner Geschichte aufwirft, werden – wie immer – nur zum Teil beantwortet. Das Reich des magischen Realismus sieht auch nichts anderes vor, es wirft einen in eine Welt, in der die Grenzen dessen verschwimmen, was real und was nicht real ist. So folgt der Leser der Figur und versucht, mit ihr herauszufinden, wie man sich durch die Welt(en) und somit auch sein Leben kämpfen kann.

Einige von Murakamis anderen Werken streifen die Geschichte, entwickeln sich aber schnell vom bekannten zum neuen Abenteuer, so dass das, was man sich vorher erarbeitet hatte, schnell nichtig wird und neu beantwortet werden muss. Das Reich der Phantasie ist groß bei Murakami, und oft ist und bleibt es genau das, ein Reich, in dem alles möglich scheint und nichts logisch sein muss.

Murakami arbeitet mit Ideen und Metaphern, hier im Bereich der Kunst. Bilder und Sprachbilder, die aus einer Idee heraus entstehen, sich im Erschaffungsprozess, aber auch über die Zeit hinweg wandeln können. Ist das, was wir sehen oder lesen, das, was der Maler oder Autor ausdrücken wollte? Hatte er das im Sinn, als er sein Werk erschuf? Und sieht man es nach Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten noch genau so? Oder hat sich der Sinn gewandelt, wurde die ursprüngliche Intention verändert, abgetötet, neu erschaffen?

Wie immer liest sich auch der zweite Teil der „Ermordung des Commendatore“ Murakami- und Gräfe-großartig und flüssig, so dass man den Roman nicht aus der Hand legen kann. Ich hatte jedoch auch meine Schwierigkeiten damit, denn er packt eine ganze Menge in seine Geschichte hinein, das nicht so schnell klar wird und ich bin ziemlich sicher, ich habe nicht alles verstanden. Ich denke nun schon seit Tagen darüber nach, und muss sagen, dass das Schreiben darüber geholfen hat, aber ich wohl nie alles verstehen werde.

Aber ich nehme an, das war auch nicht Murakamis Plan.

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore II. Eine Metapher wandelt sich. DuMont Buchverlag Köln, 2018. OA: Kishidancho goroshi.Killing Commendatore. Shinchosha, Tokio, 2017. 489 Seiten.

Ich danke dem DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar.

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Haruki Murakami – Die Ermordung des Commendatore I – Eine Idee erscheint

Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich einer der zahlreichen Murakami-Verehrer bin und deshalb sofort seinen neuen Roman verschlingen musste (meine Rezension ist etwas spät, da bei Erscheinen jeder darüber schrieb). Also, der neue Roman, erster Teil von zweien, in wunderschöner Aufmachung, zog mich mit diesen Zeilen

„Als ich heute nach einem kurzen Mittagsschlaf erwachte, sah ich den „Mann ohne Gesicht“ vor mir. Er saß auf einem Stuhl gegenüber dem Sofa, auf dem ich geschlafen hatte, und blickte mich aus seinen nicht vorhandenen Augen an.“ (S.7)

sofort in seinen Bann. Wieder einmal ist es ein namenloser Ich-Erzähler, der hier seine Geschichte mit uns teilt. Er ist Maler und wurde gerade von seiner Frau verlassen. Daraufhin packt er seine Sachen und fährt kreuz und quer durch Japan, ziellos, so wenig Kontakt zur Außenwelt eingehend wie möglich.

Schließlich ruft er einen alten Malerfreund an, der ihm eine Hütte in den Bergen anbietet. Es ist eine schlichte Behausung, die seinem Vater gehört hat, der nun in einem Heim lebt. Dieser war ein bekannter Maler, der mit seiner Interpretation des japanischen Nihonga-Stils Berühmtheit erlangt hatte.

Der Ich-Erzähler hingegen ist Porträt-Maler, hauptsächlich porträtiert er höhergestellte Personen in Firmen. Seine Werke sind sehr beliebt, versteht er es doch, die Essenzen der Personen einzufangen. Er betrachtet es jedoch mehr als Handwerk, das seine Miete zahlt, denn als Kunst. Eines Tages bekommt er in seiner selbstgewählten Einsamkeit jedoch einen neuen Auftrag: er soll den geheimnisvollen Menshiki porträtieren, und dafür großzügig entlohnt werden.

Dann findet der Erzähler ein Bild auf dem Dachboden, das der alte Maler dort versteckt haben musste. Es heißt „Die Ermordung des Commendatore“ und ist so ganz anders als die anderen Werke des Meisters. Der Ich-Erzähler verbringt viele Stunden mit dem Bild, kann sich jedoch keinen Reim darauf machen.

Und so beginnt die Murakami-typische Sogentfaltung – ein Mensch, der eigentlich nur in Ruhe vor sich hinleben und seine Wunden lecken möchte, wird in allerhand merkwürdige und unerklärliche Situationen hineingezogen. Und da dies erst Teil 1 der Geschichte ist, bleibt der Leser mit noch mehr Fragen als Antworten zurück, als er es bei Murakami gewohnt ist…

Wer kein Murakami-Fan ist, wird auch mit diesem Roman nicht in sein Werk finden. Wer jedoch etwas für magischen Realismus übrig hat und diese besondere Verbindung von japanischer und westlicher Welt liebt, wird auch hier voll auf seine Kosten kommen. Ich würde den Roman als „typischen Murakami“ bezeichnen, in dem er viele von seinen Motiven aufgreift (wenn auch nicht alle). Dennoch ist er vielleicht leichter zugänglich als z.B. Hardboiled Wonderland  oder IQ84, in denen die erschaffenen Welten viel komplexer sind.

Wie immer ist es die ruhige Erzählweise in seiner hervorragenden Sprache (bzw. Ursula Gräfes wie immer hervorragende Übersetzung und Übertragung), die die Geschichte zu etwas Besonderem macht. Wieder erschafft er Charaktere, die so geheimnisvoll sind, dass man unbedingt mehr wissen will, und dann wirft er seinen Protagonisten in eine Situation, in der niemand wissen kann, wie er damit umgehen soll.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht, wie der Ich-Erzähler zurechtkommt und was noch auf den Leser wartet. Es ist wiederum ein gelunger Murakami, und ich fühlte mich sofort zu Hause. Das fordert mich als Leser vielleicht nicht so sehr heraus, aber es macht mich glücklich. Und ich denke, man braucht beide Arten der Lektüre, um ein rundes Leseleben zu haben.

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag Köln, 2018. OA: Kishidancho goroshi. Killing Commendatore. Shinchosha, Tokio, 2017. 477 Seiten.

Ich danke dem DuMont Buchverlag für das Rezensionexemplar.

Haruki Murakami – 1Q84

Haruki Murakami wurde am 12. Januar 1949 in Kyoto geboren. Er wuchs in einem Vorort der Stadt Kobe auf, seine Eltern unterrichteten beide japanische Literatur. Harukis Interesse galt aber mehr der westlichen Literatur, was bis heute in Japan kritisch beurteilt wird. Ab 1968 studierte er Theaterwissenschaft, nach Abschluss des Studiums heiratete er seine Frau Yoko, mit der er bis heute zusammen ist. 1974 eröffnete er eine Jazzbar, Peter Cat, und mehrere seiner Bücher haben den Namen von Song-Titeln, zum Beispiel ist Norwegian Wood (Naokos Lächeln) nach einem Song der Beatles benannt. Er hat 1978 mit dem Schreiben begonnen, auch wenn er sich von seinen ersten beiden Romanen distanziert. Er reiste durch Italien und Griechenland, 1991 wurde er Gastprofessor in Princeton, 1993 an der Tufts University in Medfort, Massachusetts. Seit 2001 lebt er in seiner Heimat in Oiso. Seine Romane spielen in Japan, enthalten oft surrealistische Elemente oder magischen Realismus und viele Anspielungen auf die westliche Popkultur. Murakami hat zahlreiche Literaturpreise erhalten, und er hat viele Werke ins Japanische übersetzt.

Haruki Murakami. In meiner Zeit als Bloggerin ist er mir schon häufig begegnet, und ich habe festgestellt, dass er die Menschheit in zwei Teile zu spalten scheint: es gibt einen Teil, der ihn verehrt, und einen Teil, der absolut nichts mit ihm anfangen kann. Ich gehöre nun eindeutig zum ersten Teil, würde sogar so weit gehen, ihn als einen meiner Lieblingsautoren zu bezeichnen. Mein bisher liebster Roman war Heartboiled Wonderland oder das Ende der Welt, diesen fand ich so ungemein großartig, dass auch 1Q84 daran nicht vorbeigezogen ist.

haruki-murakami-IQ84Nun zu 1Q84. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie diese Besprechung aussehen soll. Der Roman besteht aus drei Teilen, von denen die ersten beiden imDezember 2010 in Deutschland veröffentlicht wurden, und der dritte im Oktober 2011 folgte. Insgesamt umfassen die drei Teile knapp 1600 Seiten. Und im Gegensatz zu den Schinken von z.B. David Foster Wallace oder Thomas Pynchon haben wir eine durchgehende, chronologisch erzählte Geschichte (ja, es kommen Rückblenden vor, die jedoch nicht den Erzählfluss stören oder beeinflussen). Deswegen werde ich die Ausgangssituation schildern, damit die eine Hälfte der Menschheit gerade genug in Versuchung geführt wird, und die andere Hälfte einen kurzen Überblick bekommt.

Wie so oft bedient sich Murakami auch in 1Q84 der zweistrangigen Erzähltechnik, wir haben also zwei Protagonisten, deren Geschichte abwechselnd weitererzählt wird. Das ist dem Lesefluss unbedingt zuträglich, da man immer ein Häppchen mehr präsentiert bekommt, bevor man zum anderen Protagonisten wechselt, und wieder umgekehrt, was eine große Spannung erzeugt.

Ein Erzählstrang verfolgt die Geschichte von Tengo, einem 31-jährigen Mathematiklehrer. Tengo galt seit der Grundschule als mathematisches Wunderkind, war ihm die Mathematik doch immer eine Fluchtmöglichkeit aus seiner Welt in die klare Welt der Zahlen. Seine Mutter starb, als er ein Baby war, und sein Vater, ein Gebühreneintreiber für einen Rundfunkdienst, hat sich nur um seinen Beruf gekümmert, da dieser ihm ein geregeltes Leben verschaffte. Tengo nahm er immer mit, da die Leute eher zahlen, wenn ein Kind dabei ist. Mit zehn Jahren läuft Tengo von zu Hause weg, wird aber zurückgebracht, braucht von nun an jedoch nicht mehr mitzugehen. Sein Verhältnis zum Vater, bei dem er sich nicht sicher ist, ob er sein richtiger Vater ist, kühlt dermaßen ab, dass sie eigentlich nicht mehr miteinander reden und Tengo so früh wie möglich auszieht. Sein Studium finanziert er mit Ringen, er ist sehr sportlich, aber den Ehrgeiz, die Mathematik ernster zu verfolgen, hat er nicht. So arbeitet er drei Tage an einer Hochschule, und nebenbei in einem Verlag, da er eine zweite Leidenschaft hat, die Literatur. Diese ist für ihn ebenfalls ein Ausweg aus der realen Welt, aber nicht wie die Mathematik klar strukturiert, sondern undurchsichtig und rätselhaft.

Eines Tages tritt sein Vorgesetzter im Verlag an ihn heran. Eine junge Schriftstellerin, die sich Fukaeri nennt, hat eine vielversprechende Geschichte geschrieben, die einen Preis erhalten könnte. Leider ist sie sprachlich nicht ganz auf der Höhe, weshalb Tengo die Geschichte überarbeiten und in eine geeignete Form bringen soll. Trotz einiger Bedenken willigt Tengo ein, und auch Fukaeri ist einverstanden. Das Mädchen, das ein tiefes Trauma durchgemacht zu haben scheint und sich sehr rätselhaft verhält, wird nach und nach zu einer Art Freundin für Tengo.

Der zweite Erzählstrang folgt Aomame. Sie wuchs bei den Zeugen Jehovas auf, musste mit ihrer Mutter von Tür zu Tür wandern und Mitglieder werben, in der Schule laut vor dem Essen beten und war vollkommen isoliert von den anderen Kindern. Bis es eines Tages zu einem Zwischenfall kommt, bei dem Tengo sie beschützt. Sie hält daraufhin seine Hand und sieht ihm tief in die Augen, ein Ereignis, das beider Leben nachhaltig prägen sollte. Im Alter von elf Jahren läuft sie von zu Hause weg und wächst bei Verwandten auf, muss die Schule wechseln und ist für ihre Familie gestorben. Sie findet aber erste Freundschaften, es stellt sich heraus, dass sie sehr sportlich ist, und sie wird eine angesehene Trainerin, die sich mit jedem Muskel im Körper eines Menschen sehr genau auskennt. Sie erleidet herbe Verluste in ihrem Leben, das doch eher von Einsamkeit geprägt ist, lernt aber als Trainerin eine alte Dame kennen, der sie dabei hilft, ihre körperlichen Beschwerden zu verringern. Eine Freundschaft bahnt sich an, als die beiden Frauen feststellen, dass sie beide Verluste erlitten haben, die Männer verursacht haben.

Aomame hat durch die genaue Kenntnis des menschlichen Körpers die Fähigkeit, bei jedem Körper einen Punkt zu finden, in den man eine Nadel stich, wodurch derjenige sofort stirbt. So arbeitet sie also nebenher als Killerin, als Rächerin der Schwachen, die keine Spuren hinterlässt außer Körpern, bei denen keine Todesursache feststellbar ist. Hier arbeitet sie der alten Dame zu, die die Opfer aufnimmt und die Täter je nach Schwere ihrer Tat bestrafen lässt.

Eines Tages führt Aomame einen Auftrag aus, nach dem etwas anders ist. Es sind zunächst nur Kleinigkeiten, verpasste Ereignisse, die groß in den Nachrichten waren, eine gemeinsame Raumstation der USA und von Russland, also Dinge, die sie eigentlich wissen sollte, aber die ihr vollkommen neu sind. Und dann sind da auf einmal zwei Monde: der große, normale Mond hat einen kleinen dazu bekommen, und niemandem außer Aomame scheint das aufzufallen. Sie nennt diese Welt, die ihr bekannt und fremd zugleich ist, 1Q84, ein Paralleljahr zu ihrem 1984.

Dann liest Aomame eine Geschichte, die „Puppe aus Luft“, in der eine Welt beschrieben wird, die diesem 1Q84 recht nahe kommt. Auch hier gibt es zwei Monde. Und es gibt die „Little People“, die Puppen aus Luft spinnen. Und die konkret in das Leben der Menschen eingreifen. Diese Geschichte wurde von Fukaeri geschrieben und von Tengo überarbeitet, und die Little People sind überhaupt nicht begeistert darüber, wurden sie doch der Öffentlichkeit bekannt gemacht.1q84_buch_3

Wie es kommt, dass sich auch Tengo in einer merkwürdigen Welt wiederfindet, wie und ob man überhaupt aus dieser Welt wieder entkommen kann und welche Hürden es dafür zu nehmen gilt, entspinnt sich in einer komplexen Geschichte, für die sich Murakami alle Zeit der Welt nimmt. Und das ist genau richtig so. Natürlich, es braucht Zeit, sich hindurchzulesen, aber man ist nie gelangweilt, da die Geschichte stetig voranschreitet, und man verliert auch nie den Faden, da sie in sich so stimmig ist. Neue Personen werden behutsam eingeführt, die unterschiedlichen Welten nachvollziehbar entwickelt und auch die Absurditäten scheinen so absurd gar nicht. Wie immer spielt er gerne und ausgiebig mit der Intertextualität, was in meinen Augen eine Bereicherung ist und mir großen Spaß gemacht hat.

Wollte ich vielleicht etwas bemäkeln, dann würde das den dritten Teil betreffen. Vielleicht ist dies so, da die Bücher ein Jahr auseinander veröffentlicht wurden, aber nun, da sie veröffentlicht sind und für den Rest der Zeit sein werden, besteht eigentlich kein Grund, sie nicht hintereinander wegzulesen. Im dritten Teil gibt es immer mal wieder kleinere Rückgriffe zum Verständnis, die aber nicht unbedingt stören, man kann über sie hinweglesen. Was mich jedoch gestört hat, ist, dass Murakami (nehme ich zumindest an, dass er es war und nicht die Übersetzerin), dass er mehrmals in die Geschichte eingreift. Nach über tausend Seiten geht er auf einmal hin und bringt die Ereignisse in eine Reihenfolge, eine Leistung, die der Leser durchaus alleine hätte vollbringen können. Das hat mich doch geärgert, da ich mich als Leser dann auf einmal nicht für voll genommen fühle.

Insgesamt kann ich sagen, dass ich hier nur einen winzigkleinen Einblick gegeben habe – und schaut, wie lang der Artikel schon ist. Wer also gerne Murakami mag, oder auf magischen Realismus steht, oder einfach eine großzügig angelegte, spannende Geschichte lesen möchte, dem sei 1Q84 unbedingt ans Herz gelegt. Ich habe es sehr gern gelesen, und auch wenn es nicht mein neuer Liebling ist, ist es doch ziemlich hoch angesiedelt.

Haruki Murakami: 1Q84. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont.

 

Buch #14: Gabriel García Márquez – Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit? Ja. Hundert Jahre Alleinsein? Nein. Denn dies ist die Geschichte einer ganzen Familiensippe, der Buendías. Ursula und José Arcadio, Cousine und Cousin, heiraten und läuten damit das Schicksal einer Familie ein, das hundert Jahre währen soll.

Sie haben zwei Söhne, José Arcadio und Aureliano. Und nun wird es kompliziert. Denn alle männlichen Nachkommen werden entweder den einen oder den anderen Namen tragen. José Arcadio, der ungestüme und immer wissensdurstige Mann, der tatkräftig ist und ohne Rücksicht auf Verluste durchs Leben schreitet, und Aureliano, der gewissenhafte, nachdenkliche Gegenpart, der mit den Prinzipien.

Es werden viele Frauen geliebt, Schwestern, Tanten, Cousinen, und auch Außenstehende. Und es werden viele Söhne gezeugt. Und hier wird es wieder einfach. Man muss sich nicht jeden Einzelnen merken, denn die Familiengeschichte dreht sich im Kreis. Es ist, als ob das Schicksal immer wiedergeboren würde.

Über allem steht Ursula, die Matriarchin, die die ganze Sippe beisammenhält. Wenn das Schicksal alles zerstört, baut Ursula es wieder auf. Und Melchíades, der Zigeuner, der im ersten José Arcadio den Wissensdurst auslöst, den dieser nie löschen können wird. Melchíades, der sich in einem Zimmer des gewaltigen Hauses einschließt und dort unentzifferbare Notizen anfertigt. Und der nach seinem Tod das Zimmer weiter bewohnt, bis sich das Schicksal der Familie endgültig vollzieht. Nach hundert Jahren.

In diese vielfältige Familiengeschichte eingewoben ist das Schicksal eines Dorfes. Das der erste José Arcadio mit einigen Männern gegründet hat und das hundert Jahre des Auf und Ab erlebt.  Erfindungen werden gemacht, Krieg geführt, neue Technologien kommen und gehen. Und am Ende… wird auch das Dorf seinem Schicksal zugeführt.

Und auch hier gibt es wieder die Welt der Geister. Die Menschen, die ihr Schicksal nicht erfüllen konnten, leben neben den noch lebendigen Menschen. Sie geben Rat oder machen Anmerkungen, sehen manchmal Dinge voraus und manchmal wissen sie über die Vergangenheit zu berichten.

All dies ergibt eine kolossale Geschichte, die überladen ist mit Geschichten. So viele José Arcadios und Aurelianos ziehen vorüber, dass manchmal nur kurz, über ein paar Seiten hinweg, ihre Geschichte erzählt wird. Ein kurzes Aufglimmen eines Familienmitglieds, und schon ist es vorüber.

Verderben in voller Blüte

Dazu dieses Land, glühendheiß, in einem Sumpf gelegen, und der tägliche Kampf gegen die Unbillen. Insekten, Ameisen, Termiten, Schmetterlinge, es kreucht und fleucht, und es ist heiß und schwül, oder es regnet über Jahre hinweg. Menschen kommen und gehen, hinterlassen Dinge und fordern sie wieder ein; Liebe wird erfüllt, nur um vom Tod unterbrochen zu werden. Vielleicht wird sie in der Welt der Geister weitergeführt, man weiß es nicht.

Auch wenn mich dieser Roman schon sehr berührt hat, ist er mir doch zu überladen. Ein paar handelnde Personen weniger wären für mich auch okay gewesen. Andererseits kommt nur so das ewig sich drehende Schicksalsrad zur Geltung, nur so kann die Geschichte funktionieren. Und dazu gehören auch all die Verrücktheiten, die vielleicht dem Inzest, vielleicht der Erziehung, vielleicht diesem Ort geschuldet sind.

Ich bin nun um ein tolles Zitat reicher, das ich Euch nicht vorenthalten möchte:

„Die Welt wird an dem Tag im Arsch sein“, sagte er damals, „wenn die Menschheit erster Klasse reist und die Literatur im Gepäckwagen.“

(Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit, S. 450)

Ich fühle mich jetzt auf jeden Fall, als sei ich aus der flirrenden Hitze eines kolumbianischen Dorfes wiedergekommen, als hätte ich eine Unmenge neuer Menschen kennengelernt. Die Geschichte ist ein Rätsel und gleichzeitig rund. Wenn man nicht darauf besteht, jeden einzelnen Strang unbedingt nachzuvollziehen und es bei der Lektüre etwas locker angehen lässt, ist es eine durchaus Vergnügliche. Also, insgesamt ist es nicht mein liebstes der bisher gelesenen Bücher, aber durchaus lesenswert.

Buch #13: Isabel Allende – Das Geisterhaus

Chile. Ich wusste bisher eigentlich nichts über dieses Land. Aber Isabel Allende hat mit ihrem Roman einen großen Teil der Geschichte des letzten Jahrhunderts in diesem Land erzählt. Ich dachte mir schon, dass es nicht nur bei uns schlimm war.

Das Geisterhaus beinhaltet eigentlich zwei Geschichten. Die eine ist eine Familiensaga, die mehrere Generationen umgreift. Und die andere ist die eines geschlagenen Landes, das aus seiner Blüte hinausgemetzelt wurde.

Isabel Allende

Es beginnt damit, dass Esteban Trueba, ein junger mittelloser Mann, sich in das schönste Mädchen verliebt, das er je gesehen hat: Rosa. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie, und er fühlt sich nicht angemessen für sie, solange er nicht gut für sie sorgen kann. So fängt er in den Minen an zu arbeiten und erwirtschaftet sich mit der Zeit etwas Geld. Rosas Vater ist Politiker, und eines Tages wird sie krank und trinkt einen Schnaps, der ihm zugedacht war. Sie stirbt.

Esteban ist verzweifelt, sein Ziel hat er verloren, und in seiner Familie, die in einem Kreis von Schuld und Sühne steckt, möchte er nicht verweilen. Also geht er auf das alte Gut der Familie, die Drei Marien. Hier baut er alles wieder auf, und mit der Zeit erschafft er ein blühendes Gut. Ihm gehört das Land, und mit ihm die Leute, er versorgt sie, aber er bestimmt auch über sie.  Das setzt in der Zeit des aufkeimenden Sozialismus einiges an Kräften frei.

Eines Tages hält Esteban Trueba um die Hand von Clara an, der Schwester Rosas. Diese ist ein spirituelles Geschöpf, sie kann Geister sehen und mit ihnen reden, sie kann Dinge vorhersehen und dergleichen mehr. Esteban wird nie jemanden mehr lieben als Clara, die aber immer ein wenig außerhalb von allem steht.

Sie haben drei Kinder, Blanca und die Zwillinge Jaime und Nicolas. Alle drei erben einige der merkwürdigen Eigenschaften aus der Familie ihrer Mutter, aber auch die Dickköpfigkeit und Stoigkeit des Vaters. Blanca wächst auf den Drei Marien mit Pedro Tercero Garcia auf, dem Sohn des Verwalters, und sie werden sich ein Leben lang lieben.

Dieser ist aber in Estebans Augen kein angemessener Umgang für Blanca, und als er davon erfährt, verjagt er ihn. Pedro Tercero wird zum Revolutionär, und Blanca bekommt sein Kind, Alba. Diese wiederum ist ihrem Großvater in ihrem Temperament sehr ähnlich, und als die Unruhen ausbrechen, verhält sie sich genauso, wie er es getan hätte, wenn er auch auf der anderen Seite steht.

Dies ist in groben Zügen die Familiengeschichte, und es ist wirklich grob und gibt in keiner Weise die „Geisterhaftigkeit“ der Geschichte wider. Auch hier kann ich nur wieder sagen, dass ich glaube, dass es solche Menschen gibt, und in diesem Fall gebrauchen alle ihre Fähigkeiten, um anderen zu helfen. Und Clara, in ihrer Abwesenheit und Zerstreutheit, die als einzige in der Lage ist, mit Esteban umzugehen… sie kann man nur lieben. Ebenso wie Alba, die die Ereignisse im Land nicht ganz nachvollziehen kann, aber instinktiv das Richtige tut, auch wenn sie teuer dafür bezahlen muss…

Die Geschichte des Landes kommt im Grunde erst auf den letzten hundert Seiten zur Sprache, aber dann mit aller Gewalt. Wenn die Sozialisten demokratisch gewählt werden und als Kommunisten abgeschlachtet werden, wenn tausende Menschen gefangen genommen, gefoltert, in Konzentrationslager gesteckt oder sofort erschossen werden – das ist harter Tobak.

Und genau dieser war es aber, der das Buch für mich lesens- und empfehlenswert gemacht hat. Die Familiengeschichte, nun gut, es sind interessante Charaktere und durch Clara wird sie manchmal magisch, während Esteban den Gegenpart dazu abgibt. Aber wie die Familienmitglieder auf verschiedenen Seiten, aktiv oder passiv, in den Strudel der Geschichte geraten und mitgerissen werden – das ist wirklich lesenswert. Also, durchhalten und auf jeden Fall bis zum Ende lesen, es lohnt sich!

Buch #11: Haruki Murakami – Mister Aufziehvogel

Als ich das Buch gestern Abend zuschlug, blieb ich glücklich, traurig, ein wenig verwirrt und mit dem Gefühl, beschenkt worden zu sein, zurück. Dieser Roman ist locker-leicht und kompliziert, die Geschichte zieht einen in ihren Bann und erfordert gleichzeitig eine Menge Denkarbeit. Kurz: der Roman ist wundervoll.

Die Geschichte wiederzugeben ist fast unmöglich, ohne sie nachzuerzählen. Es ist mir unbegreiflich, wie jemand ein solches Feuerwerk der Phantasie erschaffen kann, aber Haruki Murakami hat es geschafft.

Toru Okado, der Protagonist, hat seinen Job in einer Anwaltskanzlei an den Nagel gehängt und überlegt, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er ist seit sechs Jahren glücklich mit Kumiko verheiratet. Eines Tages verschwindet ihr Kater, und auf der Suche nach ihm wird Toru  langsam, aber sicher in eine andere Welt gezogen. Er lernt viele Frauen kennen, die ihm aber andererseits alle bekannt vorkommen; diese scheinen ihm helfen zu wollen, geben aber nur kryptische Hinweise, die ihn nicht weiterbringen.

Und dann passiert es:  Kumiko verschwindet ebenfalls spurlos. Angeblich hat sie eine Affäre und will sich von ihm trennen. Doch Toru, in Verbindung mit den Hinweisen, kann das nicht so hinnehmen. Auf der Suche nach ihr, während er versucht, das Rätsel zu lösen, geschehen allerhand merkwürdige Dinge. Er wird zunehmend in eine andere Realität gezogen, und irgendwann weiß er nicht mehr, was wirklich ist und was nicht.

Haruki Murakami hat ein wundervolles Bild geschaffen, in dem er alle wichtigen männlichen Personen einen Vogel hören lässt: den Aufziehvogel. Dieser wird nie gesehen, nur gehört. Das Geräusch, das er macht, erinnert an eines dieser Spielzeuge, die man aufziehen muss, und beim Aufziehvogel hört es sich so an, als würde er die Welt aufziehen, damit sie sich weiter dreht. Er erscheint jedoch nur in wichtigen Situationen, die das Leben der Handelnden verändern.

Die Frauen hingegen sind allesamt mysteriöse Wesen, die nie ganz greifbar sind. Sie helfen oder verwirren, geben Rat und verschwinden. Und doch sind alle Handelnden, auch durch die Geschichte hinweg, die zur Zeit des zweiten Weltkriegs beginnt, miteinander verbunden.

Wie schon in meinem Artikel zum magischen Realismus beschrieben, verschwimmen die Welten, die „reale“ und die „hinter allem liegende“ miteinander. Es geschieht etwas – oder doch nicht. Personen sind real oder nicht. Zusammenhänge finden zueinander und driften wieder auseinander. Und all dies macht diesen Roman zu einem der spannendsten, die ich je gelesen habe.

Dies ist nur eine sehr grobe Zusammenfassung. Ich möchte ich auch nicht mehr ins Detail gehen, denn ich hoffe, dass jeder, ausnahmlos jeder, dieses Buch liest und es für sich selbst entdeckt.

Es war auch schön, etwas darüber zu lernen, wie der zweite Weltkrieg von der anderen Seite der Welt erlebt wurde, die Schlachten in der Mandschurei, die russischen Kriegsgefangenenlager, aus einer Sicht, die mir bisher unbekannt war.

In Japan wirft man Haruki Murakami oft vor, zu „westlich“ zu sein. Er ist mit westlichen Büchern aufgewachsen und mit westlicher Musik. Meiner Meinung nach schlägt er mit diesen Einflüssen eine Brücke zwischen einer mir fremden und einer mir bekannten Welt, genauso wie er eine Brücke schlägt zwischen dem Realen und dem Unbekannten, Dunklen, das in uns allen schlummert.

Ich freue mich, dass noch mehr seiner Bücher auf der Liste sind und ich weiterhin das Vergnügen haben werde, in Haruki Murakamis Gedankenwelt einzutauchen. Dieser Roman wird jedenfalls an die Spitze meiner Rangliste springen.