50 Shades of what? Ich habe in letzter Zeit so viele Rezensionen über diesen „Skandalroman“ gelesen, dass ich immer wieder schmunzeln muss. Das Geschichtchen sei anstößig, und vollkommen verwegen sei es, so etwas zu schreiben, und dies dann auch noch zu lesen, und es zuzugeben… hui.
Nun ja, hui. Da sieht man doch, dass wir inzwischen wieder in einer ziemlich konservativen Welt leben. Wenn dies Aufsehen erregen kann, dann ist wohl etwas in den adretten Vorgärten schief gelaufen.
Begeben wir uns doch einmal 53 Jahre zurück. In die USA im Jahr 1959. Ein 45jähriger Mann, der nach 15 Jahren Drogensucht wieder clean ist, erzählt von seinen Erlebnissen und veröffentlicht, was er unter Einfluss so ziemlich aller möglichen Drogen geschrieben hat. Drei Jahre hat es gedauert, bis er veröffentlichen dürfte. Und ich kann sagen, das ist gerechtfertigt, denn die Leküre ist skandalös.
„Das Opiatvirus ist heutzutage das Weltgesundheitsproblem Nummer Eins.
Da Naked Lunch dieses Gesundheitsproblem behandelt, ist es notwendigerweise brutal, obszön und abstoßend. Krankheit ist oft widerwärtig, und die Einzelheiten sind nichts für schwache Mägen.
“ (313)
Dies erfährt man aber erst im Nachwort. Bis man dorthin gelangt, hat man sich durch 300 Seiten Drogenrauschs gearbeitet. Und dies in der Cut-Up-Technik, die ich hier schon näher beschrieben habe. Es dauert, bis man anfängt, zu verstehen. Verschiedene Schauplätze wechseln sich ab, verschiedene Figuren kehren wieder… aber nichts hängt zusammen. Wahrscheinlich genauso wenig, wie etwas im Leben eines Drogensüchtigen zusammenhängt, von einer Nadel zur nächsten kann alles ganz anders sein.

Es gibt fiktive Gesellschaften, Orte, an die man immer wieder zurückkehrt, und ein paar Handelnde, deren Weg man sich zusammenstückelt. Aber im Grunde gibt es keine Handlung. Aber dies ist auch gar nicht nötig. Das Leben eines Junkies läuft ja auch nicht ab wie eine Geschichte, die chronologisch erzählt wird. Eher ist es so:
„Gab mir in Gegenwart von D.L. eine Spritze. Suchte in meinem nackten, schmutzigen Fuß nach einer Vene… Süchtige kennen
keine Scham… Sie nehmen auf den Abscheu der anderen keine Rücksicht. Es ist fraglich, ob Scham beim Fehlen sexueller Libido existieren kann… Die Scham des Süchtigen schwindet mit seinem sexuell indifferenten Kontaktbedürfnis, das ebenfalls von der Libido abhängt… Unpersönlich betrachtet der Süchtige seinen Körper als ein Instrument, das das Medium, in dem er lebt, absorbiert. Mit den kalten Händen eines Pferdehändlers schätzt er das Gewebe ab. „Keinen Zweck, es hier zu versuchen.“ Tote Fischaugen fliegen über eine verwüstete Vene. (82)“
Dieses Buch ist ein Rausch. Es hat Höhen und Tiefen, geht auf Turkey, ist wieder voll drauf, hat Halluzinationen, macht eine Entziehungskur… und dies vor 53 bzw. 56 Jahren noch genauso wie heute. Dieses Buch wird nicht alt, solange es die „Opiatsucht“ gibt. Und auch wenn wir heute in einer Welt leben, in der es keine sogenannten „Tabus“ mehr gibt, in der wir offen mit Pornographie und allem Mörderischen, das uns im Fernsehen so gezeigt wird, umgehen – das alles ist gar nichts gegen dieses Buch.
(Achtung, bei schwachen Nerven die nächsten Abschnitte nicht lesen)
„Der Präsident ist süchtig, aber aufgrund seiner Position kann er sich nicht direkt versorgen. So läßt er sich durch mich befriedigen… Von Zeit zu Zeit treten wir in Verbindung, und ich lade ihn wieder auf. Auf den zufälligen Beobachter wirken diese Kontakte wie homosexuelle Akte, aber die wirkliche Erregung ist im Grunde genommen nicht sexuell, und der Orgasmus ist die Trennung, nachdem die Aufladung vollzogen ist. Die erigierten Penisse werden in Berührung gebracht – wenigstens wendeten wir diese Methode am Anfang an, aber die Berührungspunkte nutzten sich ab wie Venen. Jetzt muß ich meinen Penis manchmal unter sein linkes Augenlid schieben.“ (82/83)
„Das Hohe Tier legt dem Jungen die Schlinge um den Kopf und zurrt den Knoten mit zärtlicher Geste hinter dem linken Ohr fest. Der Penis des Jungen ist geschrumpelt, seine Eier sind hart. Er blickt starr geradeaus und atmet schwer. Das Hohe Tier schleicht um den Jungen herum, packt ihn am Hintern und liebkost seine Genitalien mit rätselhaften spöttischen Verrenkungen. Mit einer Reihe von Stößen rückt er dem Jungen von hinten zu Leibe und schiebt ihm seinen Schwanz in den Arsch. Im Stand vollführt er kreisende Bewegungen.
Die Gäste zischeln einander zu, stubsen sich an und kichern.
Plötzlich stößt das Hohe Tier den Jungen weg von seinem Schwanz nach vorn in Leere. Mit den Händen auf den Hüftknochen gibt er dem Jungen Halt, hebt sie mit rätselhaft stilisiertem Schwung und bricht dem Jungen das Genick. Ein Zittern durchläuft den Körper des Jungen. In drei heftigen Wallungen richtet sich sein Penis auf, zieht das Becken hinterher, ejakuliert sofort.“ (91)
Ich denke, das reicht, um Euch einen Eindruck zu geben. Es ist ekelhaft, es ist abstoßend, und doch ist es wohl genau so. Auch das ist eine Realität, in der wir leben. Auch wenn wir versuchen, es auszublenden, und das Anstößigste unserer Zeit ein Sado-Maso-Romänchen ist – es ist Realität, ob es uns gefällt oder nicht. Und William S. Burroughs hat dies auf eindrucksvolle Weise klar gemacht. Er erzählt seine Erfahrungen, weist darauf hin, wie verschiedene Drogen wirken, und er setzt sich auch mit den unterschiedlichen Arten des Entzugs auseinander.

Diese mögen heute überholt sein, die Drogensucht ist es nicht. Man sollte dieses Buch allen Jugendlichen zu lesen geben, vielleicht überlegt der oder die ein oder andere es sich doch nochmal, bevor sie in diese Welt abtauchen. Ich für meinen Teil kann nur sagen, ich habe mich selten so geekelt, und ich möchte dieses Buch wirklich nicht noch einmal lesen.
Nichts desto trotz empfehle ich es. Als Einblick in eine Welt, die gerne totgeschwiegen wird, als eine Realität, die auch existiert, als Aufdeckung so mancher Heuchelei, die unsere Welt heutzutage oder immer schon begleitet, und nicht zuletzt als absolut sprachgewaltig und anschaulich.
Es ist nicht leicht zu verdauen, aber durch die Art, wie das Buch vorliegt, mit der Cut-Up-Technik und der wortgewaltigen Sprache, entwickelt es einen Sog, dem man nicht entkommen kann. Man legt es angeekelt beiseite, nimmt es aber irgendwann doch wieder zur Hand. Ein Buch, das polarisiert, und es noch eine ganze Zeit lang tun dürfte, wenn gewisse Schatten wieder nur eine kurze Lichtreflexion geworden sind.
(Die Zitate stammen aus: William S. Burroughs: Naked Lunch. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 2000)
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