Buch #14: Gabriel García Márquez – Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit? Ja. Hundert Jahre Alleinsein? Nein. Denn dies ist die Geschichte einer ganzen Familiensippe, der Buendías. Ursula und José Arcadio, Cousine und Cousin, heiraten und läuten damit das Schicksal einer Familie ein, das hundert Jahre währen soll.

Sie haben zwei Söhne, José Arcadio und Aureliano. Und nun wird es kompliziert. Denn alle männlichen Nachkommen werden entweder den einen oder den anderen Namen tragen. José Arcadio, der ungestüme und immer wissensdurstige Mann, der tatkräftig ist und ohne Rücksicht auf Verluste durchs Leben schreitet, und Aureliano, der gewissenhafte, nachdenkliche Gegenpart, der mit den Prinzipien.

Es werden viele Frauen geliebt, Schwestern, Tanten, Cousinen, und auch Außenstehende. Und es werden viele Söhne gezeugt. Und hier wird es wieder einfach. Man muss sich nicht jeden Einzelnen merken, denn die Familiengeschichte dreht sich im Kreis. Es ist, als ob das Schicksal immer wiedergeboren würde.

Über allem steht Ursula, die Matriarchin, die die ganze Sippe beisammenhält. Wenn das Schicksal alles zerstört, baut Ursula es wieder auf. Und Melchíades, der Zigeuner, der im ersten José Arcadio den Wissensdurst auslöst, den dieser nie löschen können wird. Melchíades, der sich in einem Zimmer des gewaltigen Hauses einschließt und dort unentzifferbare Notizen anfertigt. Und der nach seinem Tod das Zimmer weiter bewohnt, bis sich das Schicksal der Familie endgültig vollzieht. Nach hundert Jahren.

In diese vielfältige Familiengeschichte eingewoben ist das Schicksal eines Dorfes. Das der erste José Arcadio mit einigen Männern gegründet hat und das hundert Jahre des Auf und Ab erlebt.  Erfindungen werden gemacht, Krieg geführt, neue Technologien kommen und gehen. Und am Ende… wird auch das Dorf seinem Schicksal zugeführt.

Und auch hier gibt es wieder die Welt der Geister. Die Menschen, die ihr Schicksal nicht erfüllen konnten, leben neben den noch lebendigen Menschen. Sie geben Rat oder machen Anmerkungen, sehen manchmal Dinge voraus und manchmal wissen sie über die Vergangenheit zu berichten.

All dies ergibt eine kolossale Geschichte, die überladen ist mit Geschichten. So viele José Arcadios und Aurelianos ziehen vorüber, dass manchmal nur kurz, über ein paar Seiten hinweg, ihre Geschichte erzählt wird. Ein kurzes Aufglimmen eines Familienmitglieds, und schon ist es vorüber.

Verderben in voller Blüte

Dazu dieses Land, glühendheiß, in einem Sumpf gelegen, und der tägliche Kampf gegen die Unbillen. Insekten, Ameisen, Termiten, Schmetterlinge, es kreucht und fleucht, und es ist heiß und schwül, oder es regnet über Jahre hinweg. Menschen kommen und gehen, hinterlassen Dinge und fordern sie wieder ein; Liebe wird erfüllt, nur um vom Tod unterbrochen zu werden. Vielleicht wird sie in der Welt der Geister weitergeführt, man weiß es nicht.

Auch wenn mich dieser Roman schon sehr berührt hat, ist er mir doch zu überladen. Ein paar handelnde Personen weniger wären für mich auch okay gewesen. Andererseits kommt nur so das ewig sich drehende Schicksalsrad zur Geltung, nur so kann die Geschichte funktionieren. Und dazu gehören auch all die Verrücktheiten, die vielleicht dem Inzest, vielleicht der Erziehung, vielleicht diesem Ort geschuldet sind.

Ich bin nun um ein tolles Zitat reicher, das ich Euch nicht vorenthalten möchte:

„Die Welt wird an dem Tag im Arsch sein“, sagte er damals, „wenn die Menschheit erster Klasse reist und die Literatur im Gepäckwagen.“

(Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit, S. 450)

Ich fühle mich jetzt auf jeden Fall, als sei ich aus der flirrenden Hitze eines kolumbianischen Dorfes wiedergekommen, als hätte ich eine Unmenge neuer Menschen kennengelernt. Die Geschichte ist ein Rätsel und gleichzeitig rund. Wenn man nicht darauf besteht, jeden einzelnen Strang unbedingt nachzuvollziehen und es bei der Lektüre etwas locker angehen lässt, ist es eine durchaus Vergnügliche. Also, insgesamt ist es nicht mein liebstes der bisher gelesenen Bücher, aber durchaus lesenswert.