Nederlandstalig! Marcel Möring – Im Wald

Marcus Kolpa, den wir bereits aus Der nächtige Ort kennen, hat inzwischen seine große Liebe Chaja geheiratet und mit ihr eine Tochter, Rebecca, bekommen. Doch als Rebecca ein halbes Jahr alt ist, verschwindet Chaja spurlos, von einem Tag auf den anderen ist sie weg.

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Foto: unsplash.com

Als nach Jahren immer noch kein Lebenszeichen von ihr aufgetaucht ist, entschließt sich Marcus, mit seiner Tochter fortzuziehen. Er hat einen sehr erfolgreichen Roman geschrieben, weswegen er sich jetzt eine Art Burg auf einem Hügel – oder Berg, wie die Holländer sagen – leisten kann. Ein großes, düsteres Haus, auf einem Hügel im Wald gelegen, weit weg von allen und jedem. Das ist, was ihm vorschwebt, weg von der Welt, in die Einsamkeit. Die einzige Person, die sie täglich sehen, ist Frau Sanders, die Haushälterin, die eine wichtige Bezugsperson für Rebecca darstellt.

Marcus hingegen schottet sich vollkommen von der Welt ab. Er kann nicht verstehen, was passiert ist, mit Chaja, warum sie so plötzlich spurlos verschwand, und er kann es nicht akzeptieren. Die einzige, die ihn aus seiner eigenen Welt holen kann, ist Rebecca. Als sie zur Schule gehen soll, beschließt sie, es nicht zu tun, weswegen Marcus sie zu Hause unterrichtet, und in diesen Jahren bilden die beiden eine unzertrennliche Einheit.

Doch Rebecca entwickelt früh eine starke, unabhängige Persönlichkeit, Künstlerin will sie sein, und das riesige Haus bietet ihr genug Platz, ihre ersten Versuche zu machen. Ebenso wie der große Wald um sie herum ihr große Freiheit und Selbständigkeit bietet, so dass sie früh unabhängig, aber doch immer noch in einer Einheit mit ihrem Vater lebt.

im-waldAls Rebecca zur Kunstschule geht, stirbt Marcus‘ Mutter. Diese Frau, die immer so weit von ihm entfernt war und vor Jahren nach Israel ging, wirft eine Menge neuer Fragen auf. Und von hier an fängt Marcus‘ so mühsam in festen Bahnen und Riten gehaltenes Leben zu schwanken…

Marcus Kolpa ist eine Grüblerfigur. Er ist sehr gebildet und intelligent, aber all dies hilft ihm nicht, sein Schicksal zu verstehen. Er wendet sein ganzes erworbenes Weltwissen an, testet es, verwirft es, kommt einen Schritt weiter, geht zwei zurück. Er hat nur einige armselige Puzzlestückchen, aus denen sich beim besten Willen kein Bild erkennen lässt, aber er bemüht sich, ein Bild entstehen zu lassen.

Wie weit er zurückgehen muss und wo er letztlich fündig wird, lässt Marcel Möring den Leser hier miterleben. Auch wir bekommen nur Puzzlestückchen, und da der Roman aus Marcus‘ Perspektive geschrieben ist, sind es eingefärbte Stückchen. Im Wald ist kein Spannungsroman, es ist ein verkopfter Roman. Und das habe ich sehr gemocht. Wir haben einen gebildeten, klugen Mann, zu gebildet, klug und verkopft, als es für ihn gut ist, und wir haben ein Schicksal, das mit allem auf ihn eingedroschen hat, ohne ihm die Vorlagen zu geben.

Seine Routine, die er für seine Tochter entwickelt, und die Fürsorge für sie sind oft das Einzige, das ihn dazu bringt, weiterzumachen. Ich habe ihn gemocht, auch wenn er oft in seinen Routinen erstickt, stillsteht, zaudert… Das Schicksal holt sich letztlich doch, was es haben will, oder?

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Marcel Möring, Bild: mustreads.nl

Marcel Möring hat mich bisher immer begeistern können, mit seiner Klugheit, seiner hervorragenden Sprache, aber vor allem mit der Stimmung, die er immer zu kreieren weiß. Seine Bücher lassen einen ganz tief in seine Welt eintauchen, sie sind nicht actionlastig, aber entwickeln einen Sog, und mir persönlich haben seine Figuren bisher immer gut gelegen. Er gibt Denkanstöße, lässt seine Figuren Weltbilder anprobieren und verwerfen, verzweifeln und hoffen, und der Leser ist gefangen in seinem Bann.

Und ich bin gespannt auf den dritten Teil der Trilogie.

Marcel Möring: Im Wald. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 2014. OA: Louteringsberg, De Bezige Bij, Amsterdam 2011.

Ich bedanke mich bei Random House für das Rezensionsexemplar.

Nederlandstalig! Marcel Möring – Der nächtige Ort

Marcel Möring wurde am 5. September 1957 im niederländischen Enschede geboren. 1991 erhielt er für seinen ersten Roman Mendel den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, den wichtigsten Debütpreis des Landes. Weitere seiner Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Romane sind große Publikumserfolge, allen voran In Babylon. Marcel Möring lebt mit seiner Familie in Rotterdam.

nächtige ortEs ist der 5. Mai 1945, die Niederlande sind befreit und Jakob Noach kriecht aus seinem Loch. Buchstäblich. Er hat die letzten drei Jahre in einem Erdloch verbracht, in das ihn ein freundlicher Bauer brachte, als er aus Amsterdam zurückkam und seine Familie nicht mehr vorfand. Jakob stiehlt ein Fahrrad und fährt in die Stadt, nach Assen, zu dem Geschäft seiner Eltern, das nun ein Schild mit dem Namen Völkische Buchhandlung Hilbrandts schmückt. Der neue Mieter will nicht weichen, und so vertreibt Jakob Noach ihn. Denn eines hat er sich geschworen: er will Rache, und er will nie wieder Hunger haben.

Als ihm nach mehreren Jahren des Wartens und nächtlicher Besuche des Bahnhofs klar wird, dass seine Eltern und sein Bruder nicht wieder zurückkommen werden, hat er eine Vision. Er sieht seine drei Töchter, hört sie ihre Namen sagen, und er sieht, wie die Stadt zu dem geworden ist, was sie ist. Von nun an arbeitet er hart, zuerst im Schuhladen seiner Eltern, und als er etwas Geld zusammen hat, macht er einen Dessousladen auf, ein gewagtes Unterfangen in der Niederlande der Nachkriegszeit, aber da er eine Lehre in Amsterdam gemacht hatte und gut ist in dem, was er tut, bleibt die Kundschaft nicht lange aus. Er ist erfolgreich.

Er findet eine Frau und heiratet sie, und sie haben drei Töchter, ganz wie in seiner Vision. Seine Töchter liebt er, soweit er das kann, seine Frau hat das Nachsehen. Denn so sehr er sich auch anstrengt, so erfolgreich er ist, er hat doch nur Leere in sich, den Verlust seiner Eltern und seines Bruders. Der neue Wohlstand bringt ihm auch keine Akzeptanz oder Unterstützung, er ist immer noch ein Jude, der in den protestantischen Niederlanden in keinen Rat und keine Gesellschaft aufgenommen wird. Doch er hat auch eine Vision für die Stadt, und so beginnt er, sie für sich selbst auszuführen.

Er kauft alte Geschäfte, Fabrikgebäude und Häuser auf, bis ihm quasi die Innenstadt Assens gehört. Und nun baut er alles so um, dass in Assen ein richtiges Einkaufszentrum entsteht, mit einem großen Kaufhaus als zentralem Anlaufspunkt und vielen Geschäften darumherum. Die Stadt wird wohlhabend unter Jakob Noachs Führung. Doch die Leere in ihm bleibt.

Dann finden wir uns Anfang der 80er Jahre wieder, es ist eine warme Juninacht und die Nacht des Jahres in Assen, da am nächsten Tag ein großes TT-Rennen, ein Motorrad-Rennen, stattfindet. An diesem Wochenende wächst die Stadt auf das Vielfache an, Menschenmengen strömen hin, eine Kirmes wird aufgebaut, es gibt Bierzelte, und an allen Zapfanlagen hängen Menschen und lassen sich volllaufen.

In dieser Nacht kommt Markus Kolpa in seine Heimatstadt zurück, und obwohl er diese Stadt hasst und sie in ihrer ganzen spießigen Kleinbürgerlichkeit hinter sich gelassen hat, ist er hier, um seine Jugendliebe Chaja wiederzusehen, die Tochter von Jakob Noach. Markus ist ein Intellektueller, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, eine Meinung zu haben und diese kundzutun, auch wenn es den Menschen gegen den Strich geht. Sein Leben ist gepflastert mit vielen Frauen, doch die eine, die ihm nicht aus dem Kopf geht, ist Chaja.

Jakob Noach ist in dieser Nacht ebenfalls unterwegs, und er findet einen Führer in der Person vom Juden von Assen, der ihn durch die nächtliche Stadt führt und ihn dazu bringt, sich Fragen über sein Leben zu stellen. Denn obwohl er so viel erreicht hat, hat er nichts erreicht, denn in seinem Inneren ist nichts anders geworden nach all den Jahren.

Wir folgen den Männern also in dieser Nacht durch die Stadt, die Möring als eine Art von Sodom und Gomorrha darstellt, ein Ort, an dem für eine Nacht alles Schlechte zusammenkommt. Hier fließen viele kleine Geschichten mit ein, werden verflochten mit den Geschichten von Jakob und Markus, und am nächsten Morgen werden alle wieder ausgespuckt, schmutzig und mit einem Kater, aber im Grunde keinen Schritt weiter als am Abend zuvor.

Ich habe Marcel Möring durch In Babylon kennengelernt, und dieses Buch habe ich vor Jahren verschlungen und geliebt. Nun sah ich Der nächtige Ort in der Bibliothek liegen und war neugierig. Die Neugier ist befriedigt, das Buch läßt mich jedoch leicht unzufrieden zurück. Mörings Sprache ist wirklich großartig, er versteht es, verschiedene Themen wie das Judentum und Philosophie, Geschichte, Verzweiflung und Schicksal zu einem wunderbaren Teppich zu verweben.

Und der erste Teil des Buches, derjenige über Jakob Noach, ist meiner Meinung nach brillant, da er die Verwirrung, Wut, Angst des Überlebenden sprachlich wiederspiegelt, durch Endlossätze, abgehackte Sätze, Einschübe, durch Sätze, die quer über die Seite stehen und solche, die mit ein paar Punkten in der Mitte enden… Dann kommt aber der Teil der Nacht vor dem TT-Rennen, und von dem Konzept der „Höllennacht auf Erden“ bin ich nicht richtig überzeugt. Dazu ist es mir dann doch nicht düster genug, da die meisten Menschen doch nur betrunken sind und den Quatsch machen, den Menschen machen, wenn sie betrunken sind. Auch die großen Fragen, die die beiden Herren sich stellen, bleiben am Ende in der Luft hängen, so dass man dann genauso weit ist wie vorher.

Alles in allem hat mir das Buch gut gefallen, vor allem wegen der großartigen Sprache und der Experimentierfreudigkeit Mörings, auch wenn das Konzept nicht immer aufgeht. Für alle, die an niederländischer Literatur – die einen ganz anderen Umgang mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs hat – interessiert sind, würde ich jedoch eher In Babylon vorschlagen, oder etwas von Harry Mulisch oder Leon de Winter.

Marcel Möring: Der nächtige Ort. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Luchterhand 2009.