Buch #40: Arthur Conan Doyle – Die Abenteuer des Sherlock Holmes

Wenn man heutzutage nach einfacher Zerstreuung sucht, drückt man den Knopf eines Gerätes – der Fernseher, der PC, der Laptop, das Tablet oder auch das Handy geben einem unzählige Möglichkeiten. Nun bin ich zwar kein großer Fan all dieser Dinge, aber immer zu haben für eine gute TV-Serie. Diese findet man am Häufigsten in den USA, aber wer meiner Meinung nach immer wieder eine neue Meßlatte hervorbringt, ist die BBC. Und so konnte ich nicht glücklicher sein, als vor einiger Zeit meine Lieblingsserie entstanden ist: Sherlock. Ein brillanter Benedict Cumberbatch verkörpert auf geniale Weise einen Sherlock Holmes in der heutigen Zeit, unterstützt von einem auf seine Weise nicht minder guten Martin Freeman als Dr. Watson.

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Zu der Zeit, als Arthur Conan Doyle seine erste Sherlock-Holmes-Geschichte veröffentlichte, A Study in Scarlet 1887, war an diese Möglichkeiten natürlich nicht zu denken. Aber dennoch kann ich mir vorstellen, dass seine Geschichten einen ähnlichen Effekt auf die Leute hatten. Er erschuf eine Serie, in deren Mittelpunkt ein brillanter Detektiv steht, und mit jeder neuen Geschichte gab es eine Fortsetzung. Also nahm, so wie man heute den Fernseher anstellt, das Buch zur Hand und „guckte“ Folge für Folge.

Nun kennt man Arthur Conan Doyle heute hauptsächlich eben für diese Geschichten; was aber nicht so viele Menschen wissen, ist, dass er hauptberuflich Arzt war. Eben diese Tatsache versetzte ihn in die Lage, eine vollkommen neue Art von Held zu erschaffen. Dieser Held lebt von seiner Beobachtungsgabe. Er bemerkt die kleinsten, vermeintlich unerheblichsten Dinge, und seine brillante Kombinationsgabe lässt ihn seine Fälle fast lösen, indem er in seinem Sessel sitzt und nachdenkt.

Er ist kein strahlender Held, und wahrscheinlich ist es furchtbar anstrengend, mit ihm zurechtzukommen. Seiner Brillanz auf der einen Seite steht sein Unvermögen im einfühlsamen Umgang mit seinen Klienten und nicht zuletzt seinem Freund, Dr. Watson, gegenüber. Auch wenn dies in der Fernsehserie viel deutlicher gemacht ist, kann man es auch in den Geschichten finden. Er ist ein Einzelgänger, und es liegt in der Natur der Sache, dass er sich oft genug keine Freunde macht, wenn er einmal in einem Fall gefangen ist.

Dennoch kann Sherlock Holmes seine wichtigen Fälle nicht alleine bestehen. Er braucht seinen Gegenpart – Dr. Watson -, der ihm zuhört, dem er seine Gedankengänge logisch erklären muss und der ihm Fragen stellt – all dies gehört zum Prozess des Lösungfindens. Dr. Watson erzählt Sherlocks Fälle aus seiner Sicht, er schreibt seine Erlebnisse nieder und lässt die Leser so teilhaben am Geheimnis und der stufenweisen Auflösung. Man ist genauso im Dunkeln wie Watson und bekommt ein Indiz nach dem anderen geliefert. Beste Unterhaltung des Abends am Kaminfeuer, wenn man sich zurücklehnt und als Hobbydetektiv versucht.

Und so bin ich in letzter Zeit zusammen mit Dr. Watson hinter Sherlock Holmes hergelaufen, habe mit ihm diskutiert, habe Fragen gestellt und gerätselt – und mich dabei bestens unterhalten. Die Abenteuer des Sherlock Holmes beinhalten zwölf Geschichten, die alle äußerst merkwürdige Fälle behandeln. Allen, die seine Geschichten noch nicht kennen, möchte ich empfehlen, den Fernseher ausgeschaltet zu lassen und das Buch in die Hand zu nehmen, sich zurückzulehnen und mitzurätseln.

Es ist immer spannend, manchmal lustig, und einmal wird sogar Sherlock Holmes ausgetrickst – von einer Frau! Wer Sherlock kennengelernt hat, weiß, was das für ihn bedeuten muss. Aber er kann auch nachsichtig und feinfühlig sein, was zwar selten vorkommt, und einen dann doch überrascht. So sind diese Geschichten – auch wenn man schon ein paar hinter sich hat, kommt man ihnen nicht so leicht auf die Schliche. Und so hat man mit jeder Neuen seine eigene neue Herausforderung.

Arthur Conan Doyle wäre vielleicht nicht so glücklich über das Bild, das wir heute von ihm haben. Sein Sherlock Holmes wurde so populär, dass er ihn schließlich umbrachte, um die Möglichkeit zu haben, auch andere Dinge zu schreiben und dafür beachtet zu werden. Heute ist er Teil der Popkultur, es gibt immer wieder neue Kinofilme und eben die unvergleichliche Fernsehserie.

Dieses Mal spreche ich eine doppelte Empfehlung aus: lasst Euch von den Fällen mitreißen, nehmt das Buch zur Hand und genießt das Rätseln! Und dann schaut Euch diese Serie an, wenn möglich, im Original. Daran könnt Ihr sehen, wie zeitlos dieser Held ist, und dass er uns wohl noch eine ganze Zeit lang begleiten wird.

P.S.: Auch wenn Dr. Watson Sherlock Holmes für tot erklärt, ist dieser Mensch so gerissen, dass man sich da nicht sicher sein kann… alle, die die Serie gesehen haben, wissen: im September gibt es neue Folgen!

P.P.S.: Die Geschichten funktionieren nicht nur am Kamin, ich denke, sie sind auch am Strand eine hervorragende Ergänzung.

Arthur Conan Doyle: The Adventures of Sherlock Holmes. Published in Penguin Popular Classics 1994

Buch #39: E.L. Doctorow – Ragtime

E.L. (Edgar Lawrence) Doctorow wurde am 6. Januar 1931 als Kind russisch-jüdischer Einwanderer der zweiten Generation geboren. Er wuchs in der Bronx auf. Nach seinem Studium gab er mehrere Zeitschriften heraus und unterrichtete ab 1982 an der New York University am eigens für ihn errichteten Lehrstuhl englische und amerikanische Literatur. Für seine Bücher hat er fast alle namhaften Preise erhalten, darunter den PEN/Faulkner Award, den National Book Award oder den National Book Critics Circle Award für Ragtime. Er lebt in New York.

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Ragtime spielt Anfang des letzten Jahrhunderts in New York, genau genommen von 1902 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Es gibt drei verschiedene Handlungsebenen. Zum einen wird von einer typischen wohlhabenden Familie erzählt, deren Darstellung in Stereotypen vorgenommen wird. So haben wir „Vater“ und „Mutter“, den „Bruder“ der Mutter, den „Sohn“. Der „Vater“ ist Inhaber einer Fabrik für Feuerwerkskörper, in der auch der „Bruder“ arbeitet.

Dieser ist die Verbindung zur zweiten Handlungsebene. Sie beschreibt unter anderem Evelyn Nesbit, eine Schauspielerin, mit der der Bruder eine Affaire hat. Nach der Scheidung von ihrem Mann sieht sie eines Tages einen Straßenmaler, Tate, mit seiner wunderschönen Tochter. Sie dringt in das Leben der Beiden ein, bis sie schließlich mit ihnen zu einer Kundgebung der Anarchistin Emma Goldman geht, auf der Evelyn als Frau entlarvt wird, die ihren Körper für Vorteile verkauft. Tate, der nicht möchte, dass seine Tochter mit derartigen Personen in Berührung kommt, flieht mit ihr aus der Stadt. Seine Geschichte wird weiterverfolgt; durch einen glücklichen Zufall wird aus dem armen Maler ein wohlhabender Mann, der die gesellschaftliche Leiter aufsteigt. Eines Tages werden sich die Familie und der Maler mit seiner Tochter in den Ferien kennenlernen.

Der dritte Handlungsstrang erzählt von Coalhouse Walker, einem schwarzen Jazzpianisten. Eines Tages findet „Mutter“ im Garten ein schwarzes Baby und nimmt dieses und seine Mutter in ihr Haus auf. Coalhouse Walker wirbt lange um die Mutter des Kindes, und schließlich willigt sie ein, ihn zu heiraten. Nach einem seiner Besuche wird er von Feuerwehrleuten in seinem Wagen festgehalten, und das Ganze artet soweit aus, dass der Wagen beschmutzt und kaputt ist. Coalhouse Walker will Gerechtigkeit, und seinen Wagen sauber und repariert wieder, woraufhin er nur ausgelacht wird. Eine Einmischung seiner Verlobten endet für diese tödlich. Nun, da Coalhouse nichts mehr zu verlieren hat, setzt er drastischere Mittel ein, um Gerechtigkeit zu erlangen. So schmeißt er zum Beispiel Bomben, die der „Bruder“ für ihn gebaut hat. Eines Tages  besetzt er ein Haus Pierpont Morgans‘ und die Geschichte nimmt ihren Lauf…

Nicht nur sind die drei Handlungsstränge kunstvoll miteinander verwoben, Doctorow hat auch viele historische Persönlichkeiten in die Handlung eingebunden. So lesen wir zum Beispiel von Harry Houdini und seiner Begegnung mit Erzherzog Franz Ferdinand, John Pierpont (JP) Morgan begegnet uns ebenso wie Henry Ford. Und Siegmund Freud, Carl Gustav Jung und  Sándor Ferenczi befinden sich just zu dieser Zeit auf einer Dienstreise in den Vereinigten Staaten.

Ich habe beim Lesen den Eindruck gehabt, Doctorow habe gerade die Zeitung gelesen und erzähle nun von seiner Lektüre. Er ist ein guter Erzähler und bringt dem Zuhörer die Ereignisse auf der Welt nahe. Sein Erzählstil ist recht sachlich und neutral, er berichtet ohne zu werten. Und doch schafft er ein eindrucksvolles Panorama dieser Zeit, der verschiedenen Gesellschaftsschichten und ihrer jeweiligen Lebensweisen. Wichtige und weniger wichtige Ereignisse runden das Bild ab. Er erreicht, dass der Leser tatsächlich in diese Zeit zurückversetzt wird, so als höre man von jemanden, der gerade die Nachrichten gesehen hat. Oder die Zeitung las.

Ich muss sagen, dass mich diese neue Herangehensweise sehr fasziniert hat, und kann nur jedem empfehlen, selber einen Blick darauf zu werfen. Die Zeit, die er für sein Gesellschaftsporträt gewählt hat, ist natürlich auch sehr interessant, auf der einen Seite bahnt sich ein Krieg an, in den Fabriken gehen die ersten ernsthaften Streiks los, und Schwarze wurden attackiert, aber auch verteidigt. Eine neue Gesellschaft steht in ihren Startlöchern, und Doctorow wirft den Focus auf einige Ausschnitte eines Querschnitts dieser Gesellschaft. Das ist interessant und das ist gut gemacht. Deshalb: Lesen!

Ragtime wurde 1981 von Milos Forman verfilmt, außerdem wurde es als Musical auf die Bühne gebracht.

E.L .Doctorow: Ragtime. Aus dem amerikanischen Englisch von Angela Praesent.

Buch #38: Elias Canetti – Die Blendung

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk, heute Russe/Bulgarien, in eine Familie mit sephardisch-jüdischem Hintergrund geboren. 1911 zog die Familie nach Manchester, nach des Vaters Tod 1912 nach Wien. 1916 zogen sie in die Schweiz und 1921 nach Deutschland. Ab 1924 studierte Canetti in Wien Chemie, besuchte aber auch Veranstaltungen von Karl Kraus. Ab 1925 widmete er sich dem Massen-Phänomen, das ihn sein Leben lang beschäftigen sollte.

1931 beendete er Die Blendung, die aber erst 1935 erschien. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er mit seiner Frau nach London. Er verfasste mehrere Werke, 1960 erschien Masse und Macht, sein anthropologisches Hauptwerk. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Büchner-Preis, den Nelly-Sachs-Preis, den Pour-le-Mérite-Orden und schließlich 1981 den Literaturnobelpreis. Am 14. August 1994 starb er in Zürich.

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Ich hatte Euch die Rezension schon für Dienstag versprochen. Dass es nun doch bis heute gedauert hat, bis ich mich dazu überwinden konnte, das Buch tatsächlich zu Ende zu lesen, gibt schon den ersten Hinweis auf das Folgende. Die Blendung ist in drei Hauptteile unterteilt, die jeweils mehrere Unterkapitel haben.

Der erste Teil heißt Ein Kopf ohne Welt. Hier lernen wir Peter Kien kennen, der bedeutendste Sinologe seiner Zeit. Er ist durch und durch Wissenschaftler, lebt nur für seine Gedanken und seine Bücher. Sein Leben bestreitet er sehr bescheiden mit Hilfe einer Erbschaft; für seine wissenschaftlichen Arbeiten Geld zu nehmen, findet er geschmacklos. Seit acht Jahren beschäftigt er eine Haushaltshilfe, Therese. Eines Tages wird ihm bewusst, wie gut sie zu seiner umfangreichen Bibliothek ist, und sie bringt ihn dazu, sie zu heiraten.

Dies war der größte Fehler seines Lebens. Er hatte seine kleine Welt, und auch wenn sie niemanden einschloss, hat er niemanden vermisst. Nun hat er Therese und Sorgen um Dinge wie Möbel, ein Testament und dergleichen mehr. Er kann nicht mehr arbeiten und spielt Machtspielchen mit ihr, die er schließlich verliert. Sie setzt ihn vor die Tür.

Hier beginnt Teil zwei, Kopflose Welt. Kien lernt Fischerle kennen, einen schachspielenden Kleinkriminellen, der zwergenwüchsig ist und einen Buckel hat. Fischerle nimmt Kien unter seine Fittiche, hofft er doch, langfristig genug Geld zu bekommen, um aus seinem Elend in einem Wiener Bordell zu entkommen in Richtung einer glänzenden Zukunft als Schachspieler in Amerika. Einerseits hilft Fischerle Kien bei Dingen, die er selber nicht schafft, z.B. regelmäßig zu essen oder zu schlafen. Dann wiederum nimmt er ihn hintenrum aus. Eine ganz große Hilfe ist er Kien auch bei der Aufbewahrung von dessen Kopfbibliothek, die dieser sich anstelle seiner Echten angeschafft hat, die er ja nun verloren hat. Nach und nach vertraut Kien Fischerle immer mehr und Fischerle kommt seinem großen Traum immer näher…

Kiens Bruder Georg, oder nun Georges, kommt im dritten Teil, Welt im Kopf, nach Wien. Er findet Peter als vollkommenes Wrack, dem übel mitgespielt wurde. Georg ist früh nach Frankreich ausgewandert, wo er zunächst Frauenarzt war, bevor er erfolgreich in die Psychiatrie wechselte. Dies hilft ihm nun auch, Peter zu helfen…

Soweit ganz grob die Geschichte. Kien ist ein weltfremder Wissenschaftler, und alle anderen (bis auf seinen Bruder) bemühen sich nach Kräften, ihn auszunutzen. Hier wird ein Schlag Menschen vorgestellt, der einen bis ins Innerste vor Ekel schütteln lässt. Natürlich ist in Kiens Geschichte Therese, die Frau, das Inbild allen Übels. Aber auch bei mir hat sie heftigste Reaktionen ausgelöst, eine so dumme, geldgierige, hinterliste Person…

Dass ich so empfunden habe, möchte ich als das Einzige herausstellen, was mich wirklich an diesem Roman fasziniert hat: die Art der Beschreibung. Man wechselt nämlich von Person zu Person in deren Gedankenstrom, und ihre Taten erscheinen immer als Ergebnis dieses Gedankenstroms. So ist man immer ganz nah bei der Person, und wenn man ganz nah bei Therese ist, bekommt man das dringende Bedürfnis, diese Person von sich abzuwaschen. Das ist genial gemacht, aber nicht weniger abschreckend. Und so ist es bei fast jeder Person, Canetti gibt uns den Abschaum mit allen seinen niederen Gelüsten und stellt dagegen den weltfremden Wissenschaftler, dem eben diese Gelüste fremd sind. So sieht man immer und immer wieder, wie sich Missverständnisse ergeben, Personen aneinander vorbeireden und Konflikte nur noch mehr wachsen, die mit einem einzigen klärenden Wort hätten aus der Welt geräumt werden können.

Mich hat das verstört und abgeschreckt. Ich habe mich geekelt, und teilweise musste ich das Buch weglegen. Insgesamt ist es recht einfach und flüssig zu lesen, das Fordernde ist, dass man die Bereitschaft haben muss, sich so intensiv mit diesen Personen auseinanderzusetzen. Georges Kien nimmt am Ende etwas von dem Schrecken, aber ich werde das Buch in ziemlich schlechter Erinnerung behalten. Es hat ein paar geniale Züge, aber insgesamt fand ich es fürchterlich.

Und nun bin ich auf Eure Reaktion gespannt, denn ich habe ja einige sehr positive und freudige Kommentare erhalten bei den Textschnipseln. Bitte erklärt mir doch, warum Ihr dieses Buch für so großartig haltet! Bei mir hat es leider nur den ganz negativen Nerv getroffen, und ich möchte jedem raten, der es lesen möchte:  Spar Dir die Zeit!

Buch #37: Jeffrey Eugenides – Middlesex

Jeffrey Eugenides wurde am 8. März 1960 in Grosse Pointe, einem Vorort von Detroit, geboren, in dem auch dieser Roman zu großen Teilen spielt. Eugenides  ist ein Schriftsteller mit griechischen Wurzeln, die er in Middlesex zum Teil verarbeitet. Nach dem Roman The Virgin Suicides (Die Selbstmord-Schwestern) ist Middlesex sein zweiter Roman. Er wurde 2003 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

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Middlesex erzählt die Geschichte von Calliope, einem griechisch-stämmigen amerikanischen Mädchen, das in Detroit aufwächst. Ausgehend von der Geschichte ihrer Großeltern, die nach dem Brand von Smyrna nach Amerika auswandern, wird die Geschichte ihrer Familie nachvollzogen, die fast 100 Jahre umfasst. Callies Großeltern, Desdemona und Lefty,  stammen aus einem kleinen Dorf, und auf dem Schiff nach Amerika heiraten sie. Hiermit setzen sie eine Reihe von genetischen Mutationen in Gang, die ihren Höhepunkt in Callie finden.

Callie wird als Hermaphrodit geboren, was aber niemand bemerkt. So wächst sie als Mädchen heran, bis in ihrer Pubertät schließlich merkwürdige Dinge geschehen. Sie erlebt ihre erste große Liebe mit einem Mädchen, sie bekommt einen Bart, hat eine recht tiefe Stimme und keine weiblichen Rundungen, geschweige denn ihre Periode. Nach einem Unfall und der Entdeckung ihrer Doppelgeschlechtlichkeit, sucht die Familie einen Spezialisten auf, der feststellt, was wirklich mit Callie los ist.

Sie bräuchte nur eine kleine Operation, und ihre Geschlechtsmerkmale wären vollkommen weiblich, in Kombination mit Hormonen eine gute Therapie. Warum allerdings der 41-jährige Cal seine Lebensgeschichte erzählt, sollte jeder für sich selbst entdecken.

Nach den Textschnipseln habe ich eine ganze Menge Vorschusslorbeeren für dieses Buch bekommen. Das macht mich eigentlich von Grund auf misstrauisch, und ich bin eher skeptisch an den Roman herangegangen. Nun muss ich aber sagen, dass er  auch mir sehr gut gefallen hat.

Denn Middlesex ist vieles in einem: er erzählt eine typische Einwanderergeschichte und er gibt ein Beispiel für die Erfüllung des American Dream, aber auch den Preis, den man hierfür bezahlen muss. Eine coming-of-age-Geschichte nimmt großen Platz ein, die jedoch einzigartig ist, aufgrund der großen Verwirrungen, die der Hermaphroditismus mit Cal/lie anstellen. Und nicht zuletzt wird am Beispiel einer ehemalig großen Arbeiterstadt und ihrem Niedergang ein Stück amerikanischer Geschichte erzählt, von der Prohibition bis zu den Rassenunruhen in den 60ern, von kleinen und großen Gaunern, von der Hippie-Bewegung bis zur Schwulen-/Lesben-Bewegung. Am Ende kommt es für meinen Geschmack ein bisschen zu dicke, und die Geschichte Berlins auch noch hineinzupacken war doch ein wenig viel in meinen Augen.

Großen Raum nimmt die Geschlechterfrage ein. Ist man mehr durch die Genetik geprägt oder durch die Gesellschaft und Erziehung? Sollte Callie ein Mädchen bleiben, obwohl ihre Geschlechtsmerkmale männlich sind? Bis in die Pubertät ist sie als ganz normales Mädchen aufgewachsen, das sich zwar manchmal etwas anders gefühlt hat, das aber im Grunde genommen angepasst war. Eugenides widmet dieser Frage großen Raum. In Form Dr. Luces, der sich Callies annimmt, sie untersucht und ihr schließlich rät, ein Mädchen zu bleiben, gibt er eine Menge Fakten und Überlegungen zu diesen Fragen.

Allerdings muss ich auch sagen, dass es mir manchmal fast schon ein wenig zu viel war. Es sind sehr viele Dinge in dieses Buch gepackt, und auch wenn ich nicht den Eindruck hatte, dass etwas zu kurz gekommen ist, wären ein paar Handlungsstränge weniger für mich auch in Ordnung gewesen. Sprachlich ist das Buch sehr angenehm, man kann es im Grunde leicht herunterlesen, was bei der Schwierigkeit mancher Fakten und ihrer tollen Vermittlung ein großes Verdienst von Eugenides ist.

Insgesamt kann ich den Roman jedem empfehlen, der gerne eine etwas ungewöhnliche Geschichte liest und amerikanische Geschichte mag. Ich habe ihn gerne gelesen, auch wenn er nicht mein neues Lieblingsbuch geworden ist. Aber ich habe auf jeden Fall ein paar tolle Figuren kennengelernt, und Aspekte der amerikanischen Geschichte, die ich vorher nicht kannte.

Weitere lesenswerte Rezensionen bei Philea  und Flattersatz .

Jeffrey Eugenides: Middlesex. Deutsch von Eike Schönfeld.

Buch #36: Thomas Pynchon – Die Enden der Parabel

Thomas Pynchon wurde 1937 auf Long Island, New York, geboren. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University und war ein Schüler Nabokovs. Nach Erscheinen seines ersten Romans, V., im Jahre 1963, schottete er sich vollkommen von der Außenwelt ab; er lebt irgendwo an der amerikanischen Westküste. Seit diesem Zeitpunkt sind seine Bücher die einzigen öffentlichen Spuren seiner Existenz. – Das finde ich ziemlich stark von Pynchon, wenn sein Werk draußen ist, kann er ja nichts mehr daran ändern, es liegt dann im Auge des Betrachters, liegt daran, was dieser daraus macht. Und Pynchon entzieht sich der ganzen Interpretiererei, indem er sich dem ganzen Literaturbetrieb entzieht. Er entlässt seine Bücher, und dann sind sie auf sich allein gestellt.-

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Die Enden der Parabel ist 1973 erschienen und gilt heute als Pynchons Opus Magnum. Magnum ist es auf jeden Fall, es umfasst 1200 kleinbedruckte Seiten in der Taschenbuchausgabe, und diese sind nicht so leicht zu verdauen – was man auch an der Zeit ersehen dürfte, die es mich gekostet hat, es mir einzuverleiben. Opus Magnum ist es aber auch in jeder anderen Hinsicht: Mehrere hundert Figuren treten auf, es gibt zahlreiche Handlungsstränge und Nebenschauplätze, chronologisch wird vor- und zurückgesprungen, es gibt Rückblenden in die Zeit der frühen Besiedlung Amerikas und Vorausblenden in die, ich schätze, 70er Jahre. Ihr seht schon, hier ist es nicht einfach, eine Handlung zu erzählen.

Deswegen will ich dies auch nur grob tun. Man könnte als Protagonisten den GI Tyrone Slothrop bezeichnen. Dieser wurde als Kind einer Pawlowschen Konditionierung unterzogen, aufgrund derer er, wenn eine Bombe sich nähert, eine Erektion bekommt. Die Handlung spielt zuerst in London gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, weswegen diese Eigenheit sehr nützlich sein konnte, und weiterhin in Deutschland nach Ende des Krieges. Hier sucht Slothrop nach den Gründen seiner Konditionierung, und nach einer bestimmten Rakete, der 00000, die ein Schwarzgerät birgt und von dem Slothrop sich erhofft, einige Antworten zu erfahren.

Hinter dieser Rakete und dem Schwarzgerät sind mehrere Personen her, ein russischer Offizier – Tschitscherin – ebenso wie ein deutscher SS-Mann – Blicero, der Herero (Angehöriger eines afrikanischen Stammes) Enzian und einige Nebenfiguren. Dann gibt es noch die niederländische Agentin Katje, die immer wieder auftaucht und in alles verstrickt zu sein scheint.

Von all diesen Figuren (und noch vielen mehr) werden Geschichten erzählt, persönliche, vor oder während des Krieges, Interaktionen zwischen den Figuren, kurze zufällige Treffen oder lange Vorausbestimmtes. Oft folgt man auch ihren Gedankengängen, die sich nicht selten im Nirgendwo verlieren. Oder es handelt sich um Drogenphantasien, oder manchmal auch Träume, von denen man nicht weiß, ob es sich um Realität oder einen Trip handelt.

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Die Darstellung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die sogenannte Zone, beschreibt ein Land, das seiner Ordnung enthoben wurde und noch keine neue Ordnung gefunden hat. Jeder denkt an seinen Vorteil, ob es sich um die Schmugglerin handelt oder den Jungen, der sein Frettchen sucht. Drogen spielen eine sehr große Rolle, und Geschlechtsverkehr. Hier geht alles, was geht. Pynchon beschreibt Dinge, von denen ich jetzt eigentlich lieber hätte, sie wären meiner lebhaften Phantasie nicht zum Fraß vorgeworfen worden. Jeder mit jedem und jeder mit allem und alles ist möglich. Näher gehe ich nicht darauf ein, um die zarten Seelchen zu schonen, aber es ist teilweise schon harter Tobak.

Dieses Buch ist der reine Wahnwitz. Dies ist das erste Mal, das ich nicht so erfahrenen Lesern abraten möchte. Die Story ist unglaublich komplex, und man darf nicht zu sehr aus der Handlung kommen – was mir fast passiert wäre. Man braucht Zeit und Muße, und oft genug einen guten Magen. Hat man all dies, wird man für die Arbeit jedoch sehr belohnt. Pynchon bedient sich einer unglaublichen Sprache, in ein paar Worten schafft er es, Bilder heraufzubeschwören, die einem den Atem nehmen, gleich, ob im Positiven oder im Negativen. Er beschreibt Zustände, wie das schon kommentierte „Die Zivilisten sind jetzt draußen, die Uniformen innen.“, und trifft es mitten ins Mark. Ich habe sehr oft gedacht, Wahnsinn, wie macht der das bloß?!

Und dies nicht nur bei den Bildern, sondern im Grunde genommen bei dem ganzen Buch. Es ist mir unbegreiflich, wie jemand auf die Idee kommt, ein derartiges Buch zu schreiben, seine Leser derart zu bombadieren mit Personen, Handlungssträngen, Anekdoten, Einwürfen, Einschüben, Gedichten, Liedern, mit Anleihen aus der Wissenschaft, der Musik, der Technik, Religionen, Filme, Märchen und – Schweinen, die wohl Pynchons Lieblingstiere sind. Es ist eine Tour de Force, dieses Buch, und es fordert viel, aber wer sich mal auf einen genialen Trip begeben möchte, dem kann ich es nur ans Herz legen. Allerdings ist es auch ein Buch, das man wohl mehrmals lesen muss, denn vieles wird sich wohl erst nach und nach erschließen. Also, im Großen und Ganzen halte ich das Buch durchaus für lesenswert, aber es ist keine Lektüre zur Entspannung, die man nebenher liest, diese Buch möchte die ganze Aufmerksamkeit.

Thomas Pynchon: Die Enden der Parabel. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz

Buch #35: Ernest Hemingway – Wem die Stunde schlägt

Ernest Hemingway wurde 1899 geboren und starb 1961. Er war einer der bekanntesten amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts,  wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und erhielt den Literaturnobelpreis. Sein Markenzeichen ist ein knapper Schreibstil. Er war außerdem Reporter und Kriegsberichterstatter, Abenteurer, Hochseefischer und Großwildjäger. Dies hielt mich bisher auch eher davon ab, mich mit ihm zu beschäftigen, was sich als eine ziemliche Lücke erweist.

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„Wem die Stunde schlägt“ handelt von vier Tagen im Leben Robert Jordans. Dieser ist Amerikaner, Dozent für Spanisch und hat sich ein Jahr lang beurlauben lassen, um im Spanischen Bürgerkrieg zu kämpfen. Sein Befehlshaber, der Russe Golz, schickt ihn zu einem Guerillatrupp in den Bergen; hier soll er mit ihrer Hilfe eine Brücke sprengen, was der Auftakt zu einem großangelegten Angriff gegen die Faschisten werden soll. Robert Jordan (er wird fast ausnahmslos mit Vor- und Zunamen bezeichnet) gelangt also zu der Guerillatruppe, die von Pablo angeführt wird. Dieser kämpft schon sehr lange gegen die Faschisten, wird jedoch allmählich kriegsmüde. An seiner Seite steht Pilar, eine jener starken Frauenfiguren, die solche Kriege hervorbringen, ehemalige Prostituierte und ungemein lebenstüchtig, die die Zügel immer in der Hand und den Trupp beisammen hält.

Dann gibt es den alten Anselmo, der zu kämpfen scheint, weil etwas ihm sagt, dass das faschistische Regime falsch ist, der sich aber nicht mit dem Töten von Menschen abfinden kann. Dennoch, wenn es der Sache dient und im Endeffekt zum Frieden beiträgt, ist er bereit zu tun, was getan werden muss. Noch ein paar weitere Mitglieder gibt es, Männer, die von der Sache überzeugt, aber doch keine Krieger sind.

Sie alle haben vor einiger Zeit geholfen, einen Zug zu sprengen, erfolgreich, und haben bei dieser Gelegenheit ein junges Mädchen mitgenommen, Maria. Ihre Eltern wurden von den Faschisten erschossen, sie nahm man gefangen, hat ihr das Haar geschoren und sie vergewaltigt, immer wieder. Nun, da sie entkommen ist, hat Pilar sich ihrer angenommen und versucht, die seelischen und körperlichen Wunden zu lindern. Als sie auf Robert Jordan trifft, ist ihr Haar schon ein Stück nachgewachsen, es ist also schon eine Weile her.

Als Robert Jordan zu der Gruppe kommt, ist es, als käme er in eine Familie. Pilar und Anselmo sind ihm sofort sehr nahe, mit Pablo bekriegt er sich, und in Maria verliebt er sich, wie sie sich auch in ihn.

Robert Jordan findet also in diesen Tagen, genau genommen in den 72 Stunden vor der Sprengung, so etwas wie Glück. Große Teile des Romans sind ein innerer Monolog Robert Jordans. Wir erfahren hier seine Geschichte, sowohl die, die zurückliegt in Amerika, als auch die, die geschehen ist, seit er in Spanien kämpft. Er macht sich Gedanken darum, wie gefährlich sein Auftrag ist, und dass er vielleicht das, was andere ein „Leben“ nennen, in diese 72 Stunden pressen muss; dass er es kennenlernt, aber im Grunde nur einmal kurz sehen darf. Weit beeindruckender sind allerdings die Passagen, in denen er mit sich hadert. Wenn er sich nicht sicher ist,  wo die Berechtigung zu töten anfängt und wo sie aufhört. Was man tun darf, um „die gerechte Sache“ durchzusetzen und wann man eine Grenze überschreitet.

Unterstützt werden diese Gedanken von Pilar, die von ihren Erlebnissen erzählt, wie sie die Vernichtung der Faschisten in den Dörfern mitgemacht hat, welche Grausamkeiten stattgefunden haben, und dass sich hier beide Seiten sehr gleich sind. Dann ist da auch Anselmo, der Alte, der an die Freiheit glaubt und daran, dass jeder Mensch sein Schicksal selbst bestimmen können soll; und der doch fast nicht in der Lage ist, einen Menschen zu töten, der zwar weiß, dass er „der Sache dient“, aber fast daran zugrunde geht.  Und dann Maria, die Robert Jordan nach und nach von ihren Erlebnissen berichtet, und doch nichts weiter will, als ein normales Leben und ein kleines bisschen Glück.  Und immer tickt die Uhr weiter, immer näher rückt der Zeitpunkt des Kampfes, der für alle einen ungewissen Ausgang bereithält…

Dieser Roman hat mir einiges abverlangt. Oft habe ich ihn beiseite legen müssen, zum Beispiel nach Pilars Schilderungen. Ich habe zusammen mit Robert Jorden mit der Frage gerungen, wo die Grenze ist, wie weit man gehen darf, wie weit eine Sache  „gerecht“ und „richtig“ ist. Kann man es – auch im Krieg – rechtfertigen, Menschen zu töten, und wenn ja, wie? Ab wann steht man auf einer Stufe mit den „Bösen“? Aber dann ist es doch auch so, dass man nicht zusehen kann, wie andere die Macht an sich reißen, mit Gewalt, und versuchen, ein totalitäres System zu errichten auf den Rücken derer, die sich nicht wehren können.

Die Sprache ist einfach gehalten, es geht um „normale Menschen“, die in die Situationen geraten, und die mit ihrem Gewissen ausmachen müssen, was sie tun oder getan haben. Das Buch konfrontiert einen mit vielen Fragen, auf die es vielleicht keine Antworten gibt, die man sich aber – meiner Meinung nach – durchaus einmal stellen sollte. Ich habe dieses Buch als beklemmend, aber auch als bereichernd wahrgenommen; und ich denke, dass es nicht schaden kann, wenn man mal sein Gewissen prüft, auch wenn das keine angenehme Sache ist. Man lernt auf jeden Fall etwas über sich.

Informationen zu Ernest Hemingway stammen aus dem gleichnamigen Wikipedia-Artikel, abgerufen am 3.3.2013

Ernest Hemingway: Wem die Stunde schlägt. Deutsche Übertragung von Paul Baudisch.

Buch #34: Jack Kerouac – On the Road (Die Urfassung)

Warnung!

Bitte lesen Sie nicht weiter, wenn Sie völlig zufrieden damit sind, einfach nur zu leben.

Bitte lesen Sie nicht weiter, wenn Sie sich für nichts wirklich begeistern können.

Bitte lesen Sie nicht weiter, wenn Sie sich über nichts wirklich aufregen können.

Bitte lesen Sie nicht weiter, wenn Sie eine menschliche Amöbe sind, essen, verdauen, arbeiten, sich beschallen lassen und es für das höchste der Gefühle halten, einen neuen Wagen, einen neuen Flachbildschirm, ein neues Handtelefon oder etwas Ähnliches zu besitzen. Und die Sicherheit des voraussehbaren Morgen, und Übermorgen usw.

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Denn dann wird Ihnen dies hier nichts sagen. Dieser Text, der laut Legende an 22 Tagen, genau genommen zwischen dem 2. und dem 22. April 1951, entstand, auf einer einzigen langen Rolle Papier, ohne einen Absatz geschrieben, wird Ihnen vorkommen wie ein verrückter Hipster, der sich nicht in die Gesellschaft eingliedern will. Der nicht akzeptieren kann, Teil eines in Konformismus erstarrten Systems zu sein, der nichts von Homogenität und Konsens hält, sondern „mehr“ vom Leben erwartet. Was dieses „mehr“ ist? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber um die Suche nach diesem „mehr“, diesem „ES“, geht es in On the Road. Die Urfassung nennt alle Personen bei ihren richtigen Namen, nicht wie in der ersten Buchfassung. So haben wir also Jack Kerouac, der von Neal Cassady hört, und dieser kommt ihm vor wie „a dream come true“. Dieser Neal ist angeblich der durchgeknallteste, furchtloseste Typ, ein Typ, der macht, was ihm gerade in den Sinn kommt, der sein eigenes Leben in den Vordergrund stellt, seine Gefühle, die glücklichen Momente ebenso wie die unglücklichen, alles kostet er aus, dieser Neal, alles saugt er in sich auf. Jack Kerouac erzählt nun von seinen Reisen mit Neal, der immer unterwegs ist, immer auf der Suche. Wir fahren mit ihnen von der Ost- an die Westküste und zurück, trampen, machen Halt, überführen Wagen, fahren diese oder selbst gekaufte Wagen zu Schrott im Bemühen, uns möglichst schnell fortzubewegen, wir fahren Zug oder Überlandbus, kurz, wir sind immer auf der Straße. Wir ver- und entlieben uns, für eine Stunde, einen Tag, eine Lebenszeit, Personen kommen und gehen, begleiten uns ein Stück des Weges, ein Lied lang, eine Stunde, eine Nacht, eine Woche, sie verschwinden und tauchen wieder auf, ständig ist alles in Bewegung. Neal ist verheiratet mit Louanne, die er verlässt, zu der er zurückkehrt, die die einzige Frau zu sein scheint, die ihn zu verstehen mag und teilweise an dem Vagabundenleben teilhat. Dann wieder schmeißt sie ihn raus, läßt sich scheiden, konkurriert mit der neuen Frau an Neals Seite, gewinnt ihn zurück. Auch die Beziehung ist immer in Bewegung. Auf unserem Trip treffen wir Allen Ginsberg, Verfasser des legendären „Howl“, der eine Liaison mit Neal hatte. Wir treffen Bill Burroughs, den Verfasser von Naked Lunch und verfolgen seine Trips. Wir begegnen Hobos, Pennern, Gelegenheitsarbeitern, kurz, dem „Aussatz“ Amerikas, die hier allzu menschlich werden. Wir haben großartige Momente mit Musikern, die in ihrer Melodie aufgehen und „ES“ fast finden und an ihr Publikum weitergeben, wir hören unglaublich dumme und unglaublich tolle Sätze. Wir fliegen hoch und fallen tief. Wir werden enttäuscht, wir entzweien uns von Neal, wir sehen ihn wieder und geraten erneut in seinen Bann. Wir fahren und fahren, wir leben. Und über allem das Land, das großartige, erschütternd schöne und ebenso schreckliche Land, das oft weh tut, vor Schönheit, vor Ekelhaftigkeit. Wir pfeifen auf das, was die Gesellschaft erwartet, und wünschen es uns doch manchmal. Kurz davor springen wir aber wieder auf und düsen ab. Neues zu entdecken. „ES“ zu finden. Wir hören nächtelang Neals Erzählungen zu, wie er sich über banalste Dinge begeistern kann, wie er jede Einzelheit einer Begegnung wiedergibt, wie er uns totquatscht und uns mitreißt, und man weiß nie, was als Nächstes kommt. Keine Sicherheit. So viel ist sicher.

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Ich kann diejenigen durchaus verstehen, die keinen großen Gefallen an dem Buch finden. Die meinen, es sei übertrieben, und dieses Leben sei nicht das Richtige. Ich kann verstehen, wenn Menschen die Sicherheit vorziehen. Wenn sie sich lieber in die Gesellschaft integrieren und ihre Meinung zurückhalten. Oder nein, das kann ich nicht verstehen, aber ich weiß, dass die meisten Menschen dieses Leben vorziehen. Und ich respektiere es. Ich jedoch finde mich auf der anderen Seite wieder. Ständig auf der Suche nach dem „ES“, nach etwas, das „mehr“ ist, das mir zeigt, dass das nicht alles gewesen sein kann. Und ständig die Enttäuschungen. Aber auch die Hochgefühle, wenn man ein paar Liedzeilen hört und einfach loslegen muss, wenn man etwas liest, und gar nicht darüber hinwegkommen kann, gefolgt vom Tiefpunkt, an dem einen alle anblicken mit tiefem Stupor und einem ein „ach, schön für dich“ hinhauchen. Und dann dieser innere Furor, der mich seit einer Woche beherrscht, in der ich Jack und Neal kennengelernt habe und für kurze Zeit mit ihnen zusammensein dürfte. Ich dürfte mit ihnen reisen, an ihren Gedanken, an ihren Ausuferungen teilhaben, fliegen und stürzen, die wunderschöne und die abgrundtief hässliche Welt sehen. Kurz, dieses Buch kam zur rechten Zeit, und ich bin so begeistert, wie man von einem Buch zur rechten Zeit nur sein kann. Ich wünschte, ich hätte einen Neal in meinem Leben, einen derart begeisterungsfähigen Menschen, und ich wünschte, ich könnte so durch die Welt reisen, ohne Angst. Aber das ist heutzutage als Frau alleine wohl immer noch nicht drin. Und so kann ich Euch nur erzählen, wie die Lektüre für mich war, dieses Buch, das scheint, als fange jemand an zu erzählen und rede zwei Tage und drei Nächte, und ich sitze mit ihm an der Bar, trinke ein Bier, rauche eine Zigarette und lasse mich von seiner Begeisterung einhüllen. Die Welt braucht ein wenig mehr Begeisterung. Und Empörung. Und weniger Gleichmut. Und nun, da meine Reise mit Jack und Neal zu Ende ist, kann ich wieder fallen. Und werde hoffentlich eine neue Begeisterung finden.

Jack Kerouac: On the road. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2011. OA: On the Road: The Original Scroll. Viking Penguin, New York, 2007.

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