Buch #4: Rohinton Mistry – Das Gleichgewicht der Welt

Ich habe das Buch gerade beendet und muss erstmal die Tränen wegwischen. Das schaffen nicht viele Bücher, aber dieses war wirklich harter Tobak. Es sollte besser heißen: Das ganze Elend der Welt. Nichts befindet sich im Gleichgewicht in diesem Buch, es sei denn, man wolle die eine Wagschale mit „persönlichem Vorteil“ und die andere mit „Willkür“ bestücken, oder „Ungerechtigkeit“ gegen „Intoleranz“ antreten lassen.

Ich habe vorher nicht viel Ahnung von Indien gehabt, außer, dass es sich um eine aufsteigende Nation handelt, die aber immer noch viele Züge aus ihrer Zeit der Kasten hat und in vielen Bereichen immer noch Dritte Welt ist. Jetzt wünschte ich, ich würde das alles gar nicht wissen, was ich jetzt gelernt habe.

Aber der Reihe nach. Fangen wir mit den Hauptpersonen an, ich würde hier vier Charaktere benennen.das-gleichgewicht-der-welt

Zum ersten haben wir Dina Dalal, die als junges Mädchen ihren Vater verliert und von ihrem Bruder großgezogen wird, der ihr jedoch alle weitere Bildung verweigert und sie nur verheiraten will. Sie ist aber eine Person mit einem eigenen Kopf, lernt Rustom kennen und lieben, und heiratet ihn gegen den Willen ihres Bruders. Das Glück währt allerdings nur kurz, Rustom kommt nach drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Dina hat nun die Möglichkeit, bei ihrem Bruder zu leben oder neu zu heiraten, doch nach einer Zeit der Trauer meldet sich ihr Dickkopf wieder und sie beschließt, ihr Leben unabhängig weiterzuführen.

Sie nimmt Nähaufträge an, doch bald werden ihre Augen zu schlecht. Über eine Freundin kommt sie mit einer Firma in Kontakt, die sie anstellt, bestimmte Kleidermodelle zu fertigen, wofür wiederum sie zwei Schneider anstellen muss. Außerdem vermittelt die Freundin ihr den Kontakt zu dem Sohn einer Schulfreundin, der an der Uni der Stadt studiert und eine Unterkunft sucht; sie vermietet ein Zimmer an ihn.

Dieser Junge ist Maneck. Er wächst in einem Bergdorf auf, in dem die Eltern einen kleinen Laden haben und selbstgemachte Cola verkaufen. Die Dorfbewohner sind alle wie eine Familie, und er hat eine sehr schöne Kindheit. Dann kommt er in das Alter für eine weiterführende Schule und wird weggeschickt. Seine Eltern können nicht mit seiner Abwesenheit umgehen, und verstehen es nicht, ihm zu zeigen, dass sie ihn vermissen und sie nur eine gute Ausbildung für ihn wollen. Die er vor allem dann braucht, als eine Autobahn in der Nähe gebaut wird, die viel Verkehr und damit Restaurants, große Ladenketten und natürlich auch die bekannten Colamarken mit sich bringt, was sowohl die unberührte Gegend als auch das Geschäft in den Ruin treibt. Als die Schule vorbei ist, schicken seine Eltern Maneck deswegen aufs College, wo er ein Jahr lang Kühltechnik studieren soll.

Er fühlt sich verraten und ungeliebt, und fährt schweren Herzens davon. Er ist der reflektierende Part in der Geschichte, der das Schicksal und die Menschen hinterfragt, sich aber auch in andere hineindenkt und andere Sichtweisen hinzusteuert. Da er im Wohnheim, in dem er zuerst wohnt, nicht zurecht kommt, zieht er eines Tages zu Dina. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten lernen sich die beiden zu mögen, sie ergänzen sich in ihren Temperamenten und öffnen einander ebenso immer wieder die Augen, wie sie einander helfen, Rückschläge und Elend durchzustehen. Sie werden eine innige Wohngemeinschaft.

Diese wird ergänzt durch Ishvar und Omprakash, kurz Om. Deren ganze Geschichte hier zu erzählen, würde einerseits den Rahmen sprengen, und andererseits wohl jede etwas zarter besaitete Seele aus der Fassung bringen. Hier nur soviel. Sie gehören einer der unteren Kasten an (nicht der untersten), und setzen sich über ihr Erbe der Gerberei hinweg, als sie sich zu Schneidern ausbilden lassen. Ishvar ist Oms Onkel, nach dem Tod des Vaters übernimmt er die Verantwortung für ihn. Als die Arbeit immer weniger wird, gehen sie auf Arbeitssuche in die Stadt. Über mehrere Stationen landen sie schließlich bei Dina, die die beiden fest anstellt.

In Indien herrscht zu dieser Zeit der „Ausnahmezustand“. Die Ministerpräsidentin hat die Wahlen gefälscht, dies nachträglich für legal erklären lassen und dann den Ausnahmezustand verhängt. Hier ist nun alles möglich. Ob ganze Slumdörfer zu einer ihrer Reden gekarrt werden, ob diese Slumdörfer im Dienste der „Stadtverschönerung“ von einen Tag auf den anderen niedergerissen werden, ob Personen von der Straße von der Polizei eingesammelt und zu einem Staudammprojekt gebracht werden, um dort unbezahlte Sklavenarbeit zu verrichten, ob Personen willkürlich im Sinne der „Überbevölkerungseindämmung“ kastriert werden… nichts wird in dieser Welt geahndet.

Ergänzt wird die Handlung um die vier Personen durch eine Vielzahl an Nebenfiguren, von denen einige unglaublich liebenswert und einige unglaublich abstoßend sind, doch so schafft Rohinton Mistry ein komplettes Universum mit allen Arten an Persönlichkeiten, vor allem aber der nicht vom Leben bevorzugten.

All dies erzählt Rohinton Mistry in einer sehr anschaulichen Sprache, und es ist ein bisschen so wie bei einem Autounfall: überall ist Blut, aber niemand kann wegsehen. Dies alles hier zieht einen ebenso in den Bann, und man hofft die ganze Zeit auf eine zumindest kleine Besserung, auf ein bisschen Glück.

Und tatsächlich, wer diesen Weg auf sich nimmt, wird mit der ursprünglichen Art von einem kleinen bisschen unschuldigen Glücks belohnt. Als die vier schließlich nach langem Misstrauen und vielen Verletzungen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft werden, zu einer Art Familie… das ist so unschuldig, und so zart und vorsichtig, dass es einem das Herz zerbricht.

Endgültig erledigt wird dies jedoch am Ende. Ich will hier nicht beschreiben wie es ausgeht, ob das Glück Bestand hat oder ob auch das nur eine weitere Laune des bösartigen Schicksals der Figuren war, und wie sie weiterleben – oder nicht – das mag ich eurer Entdeckungslust überlassen.

Wie gesagt, dies ist kein Buch für zarte Seelen, das ist ein Blick in den Abgrund der Hässlichkeit. Aber es ist wirklich sehr gut geschrieben, und man möchte im Namen der Figuren das Karma und alle Götter verfluchen, denn wenn das ihre Auffassung von Gerechtigkeit ist, haben sie es nicht anders verdient.