Jonathan Franzen – Freiheit

„Warum die Konservativen, die doch immerhin alle drei Gewalten der Bundesregierung dominierten, noch immer so in Rage waren – auf respektvolle Zweifler am Irakkrieg, auf schwule Paare, die heiraten wollten, auf den faden Al Gore und die vorsichtige Hillary Clinton, auf gefährdete Arten und deren Fürsprecher, auf Steuern und Benzinpreise, die so niedrig wie in kaum einem anderen Industrieland waren, auf die Massenmedien, deren Besitzer doch selbst zu den Konservativen gehörten, auf die Mexikaner, die ihnen den Rasen mähten und ihr Geschirr spülten -, war für Walter ein Rätsel.“ (S.642/643)

freiheitWalter ist eine Seele von Mann. Er ist friedfertig, hat Verständnis, hört zu, hilft, vermittelt. Aber auch ihn bringen Dinge in Rage: die Überbevölkerung und die daraus resultierende Zerstörung des Lebensraums. Aber bis Walter anfängt, seiner Wut entsprechend zu handeln, geht viel Zeit ins Land.

Er hat keine glückliche Kindheit gehabt, Walter, aber als er ans College kommt, wendet sich sein Glück. Er findet einen Freund fürs Leben – den Musiker Richard Katz. Und er findet seine große Liebe – die Basketballspielerin Patty Emerson. Auch diese beiden hatten keine glückliche Kindheit, und erhoffen sich von der Zukunft Großes. Allerdings sieht dieses sehr unterschiedlich bei den Dreien aus.

Nachdem Patty einige Zeit zwischen Walter und Richard hin- und hergerissen ist, heiratet sie schließlich Walter und erfüllt sich ihren Traum: die perfekte Vorstadtfamilie, in der alles harmonisch abläuft und das Zusammenleben erstrebenswert ist. Sie haben zwei Kinder, Jessica und Joey. Und eben dieser Joey wird so gar nicht, wie Patty ihn brauchen kann: er weiß immer alles besser, stellt alles in Frage, ist wahnsinnig intelligent und zieht zu den Nachbarn, um mit deren Tochter zusammenzuleben. Als er auf der Highschool ist.

Patty kommt mit dieser Situation nicht zurecht, alles, was sie sich erträumt hatte, löst sich in Luft auf. So leidet auch ihre Ehe zu Walter. Dieser wiederum vergräbt sich in seiner Arbeit, versucht, Gutes zu tun und sieht sich mit gigantischen Hürden konfrontiert. Und Richard wird lange brauchen, bis er Erfolg hat, aber dieser Erfolg basiert auf ganz besonderen Freunden: Walter und Patty. Und so umkreisen sich die drei in immer anderen Konstellationen, kollidieren, streben voneinander weg und wieder aufeinander zu.

Freiheit kreist um die Freiheit der Individuen, und die Frage, inwiefern sie tatsächlich existiert oder ein reines Gedankenkonstrukt ist. Franzen gibt seinen Figuren „Freiheit“ – an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben haben sie die Möglichkeit, genau das zu tun, was sie sich immer gewünscht haben, und dies mit Erfolg. Lauter glückliche Menschen, sollte man annehmen.

Doch eine Entscheidung für etwas ist gleichzeitig auch immer eine Entscheidung gegen etwas, und dies ist doch im Grunde genommen die einzige Freiheit, die es gibt: Entscheidungen zu treffen. Denn genau dann hört die Freiheit auf, wenn man die Konsequenzen seiner Entscheidungen tragen muss. Auch dies lässt Franzen seine Figuren spüren, er führt sie geradezu vor auf ihrem Höhenflug mit der anschließenden Talfahrt.

Aber auch hier spielt das Leben, wie es nun einmal spielt: Nach dem tiefen Fall fährt die Achterbahn wieder aufwärts, damit der Sturz abgebremst wird, und auch wenn die Bahn in den Kurven arg hin- und hergeschüttelt wird, kommt sie doch am Ende am Ziel an.

Wie zerzaust die Mitfahrenden danach sind, ist eine andere Geschichte. Und eine dieser Geschichten erzählt Jonathan Franzen in seinem Roman, und man sollte ihn unbedingt lesen. Und sich vor einem schlechten Gewissen, einigen Wutanfällen und ständigen Hinterfragungen wappnen. Die gibt Franzen einem nämlich immer mal wieder mit auf den Weg. Wie kleine Schläge auf den Hinterkopf oder mitten in die Fresse rein. Es kommt auf jeden Fall an.

© Beowulf Sheehan

Jonathan Franzen: Freiheit. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2012. OA: Freedom. Farrar, Straus and Giroux, New York 2010. 731 Seiten.

Jonathan Franzens Die Korrekturen wurden schon rezensiert.

Nederlandstalig! Tessa de Loo – Die Zwillinge

22052016155[1]Lotte bekommt von ihren Kindern einen Aufenthalt in Spa geschenkt, um ihre Arthrose zu lindern. Dort trifft sie unverhofft auf Anna – ihre Zwillingsschwester, die sie fast ein Leben lang nicht mehr gesehen hat. Anna ist glücklich, sie zu sehen, Lotte jedoch sträubt sich, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Doch Anna bleibt konsequent, und unerbittlich entrollen sich zwei Lebensläufe, die vom gleichen Ursprung aus zwei vollkommen verschiedene Richtungen nehmen, einer in Deutschland, einer in den Niederlanden, einer unter den Nazis, einer im Widerstand, einer mit vielen Wunden, einer mit vielen Wunden.

Nachdem Annas und Lottes Vater verstorben ist, die Mutter war schon länger tot, werden die beiden Mädchen getrennt bei Verwandten untergebracht. Anna kommt in ein kleines katholisches Dorf zum Bruder ihres Vaters, Onkel Heinrich, der einen kleinen Bauernhof hat und froh ist, die Hilfe zu bekommen. Lotte, die wie ihr Vater unter Tuberkolose leidet, wird zu holländischen Verwandten gebracht, die sie pflegen können. Die Mädchen warten auf ein Wiedersehen, doch ihre Leben schieben sich vor ihre immer verschwommener werdenden Erinnerungen.

Anna, ein kluges und aufgewecktes Kind, bekommt keine Schulbildung, sie soll von früh bis spät auf dem Hof schuften. Unter der neuen Frau Onkel Heinrichs wird es richtig schlimm, so schlimm, dass irgendwann der Dorfpfarrer einschreitet und sie mitnimmt. Von hier an entspinnt sich ein Lebenslauf, der sie durch ganz Deutschland und nach Österreich führt, immer unter dem Eindruck vom Krieg und den Nazis, wovon sie im Grunde nichts versteht und immer versucht zu helfen.

Lotte hingegen wächst bei Sozialisten auf, und nach dem Überwinden ihrer Krankheit hat sie ein recht normales Leben, zwar mit einem sehr exzentrischen Vater, aber auch einer liebevollen Familie. Ihr Vater, Musikliebhaber, lässt alle möglichen Menschen, die seine Leidenschaft teilen, in ihrem Haus ein- und ausgehen, und so wächst Lotte unter Menschen auf, die etwas gemeinsam haben, das nichts mit Rasse oder Vorurteilen zu tun hat. Bis auch in den Niederlanden der Krieg ankommt und Leute anfangen zu verschwinden, und man sich für eine Seite entscheiden muss.

Vor der Kulisse Spas erzählen sich die Schwestern ihre Lebensläufe, Anna versucht, Lotte verstehen zu lassen, wie es für sie war, aber Lotte gibt sich blind. Für sie ist alleine die Tatsache, dass Anna Deutsche ist, genug, sie zu verurteilen. Aber nach und nach zeigt sich, dass Anna teuer dafür bezahlt hat und vielleicht nicht alles so einfach ist, wie es nach außen hin scheint…

Dies nur ein kurzer Einblick in einen Roman, der zwei komplexe Lebensläufe erzählt, anhand dessen zwei Länder im Krieg dargestellt werden. Das eine sieht sich ausschließlich als Opfer, das andere will die Täterrolle nicht komplett übernehmen, und in langen Gesprächen wird offenbar, dass das Urteil nicht ganz so leicht auszusprechen ist, wie man das gerne hätte.

Tessa de Loo hat mit Die Zwillinge einen wundervollen und wichtigen Roman über Schuld und Vergebung geschrieben, über Aufarbeitung, über Macht und Machtlosigkeit, und wie sehr man Kind der Umstände ist. Was man mit dieser Erkenntnis anstellt, bleibt einem selbst überlassen, aber das Nachdenken ist angestoßen.

Wer nicht nachdenken möchte, bekommt auf jeden Fall einen interessanten und spannenden Roman, in der die Zeit des Zweiten Weltkriegs anschaulich und in interessante Lebensgeschichten verpackt dargestellt wird. Tessa de Loo schildert zwei glaubhafte Lebensläufe, die, obwohl sie sich kaum berühren, doch immer wieder ineinander verschränkt werden. Durch die mehr oder weniger abwechselnde Erzählweise bleibt die Spannung erhalten, man möchte mehr erfahren, und zwar von beiden Geschichten.

Ich kann mir vorstellen, dass dies bei Erscheinen des Buches nicht jedem Leser gepasst haben mag, denn die Vorurteile der beiden Völker sind (oder vielleicht bald waren?) so, wie sie die beiden Figuren verkörpern. Tatsächlich hat der Roman in den Niederlanden viel Aufsehen erregt, und die Reaktionen waren durchaus zwiegespalten.

Dennoch: Nach der Lektüre hat sich vielleicht die eine oder andere Ansicht geändert. Und deshalb möchte ich diesen Roman jedem empfehlen, und sei es auch nur, weil es eine tolle Geschichte ist. Alles weitere möge jeder für sich selbst entdecken.Bild: ad.nl

Tessa de Loo: Die Zwillinge. Deutsch von Waltraud Hüsmert. btb, München. 1997. OA: De Tweeling. Uitgeverij De Arbeiderspers, Amsterdam. 1993. 478 Seiten.

Tessa de Loo wurde als Johanna Tineke Duyvené de Wit am 15. Oktober 1946 in Bussum, Niederlande, geboren. Sie war Lehrerin, bis sie 1983 die Erzählungen Die Mädchen von der Süßwarenfabrik veröffentlichte. Die Zwillinge bekam 1994 den Von-der-Gablentz-Preis und den Publieksprijs. Er wurde 2002 unter der Regie von Ben Sombogaart verfilmt, mit Thekla Reuten, Ellen Vogel, Nadja Uhl und Gudrun Okras in den Hauptrollen. Tessa de Loo lebt heute in Portugal.

Nederlandstalig! Anna Enquist – Das Meisterstück

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Der Maler, der Schreiber, die Beobachterin und die, die den größten Verlust erfuhr – das „Meisterstück“ (Foto:mg)

Anna Enquist ist ausgebildete Konzertpianistin. Dies ist ihrem Romandebüt aus dem Jahre 1994, Das Meisterstück, deutlich anzumerken. Sie hat diesen Roman wie ein komplexes Musikstück geschrieben, in dem eine Leitmelodie herrscht, um die sich andere Melodien ranken. Sie werden eingeflochten, aufgegriffen, variiert, um dann wieder in die über allem stehende Melodie eingefügt zu werden.

Diese Melodie ist Alma, Mutter von Oscar und Johan. Sie steht über allen anderen Melodien, spielt in sie hinein, beeinflusst sie, schreibt sie um. Sie hat ihre Söhne allein groß gezogen, nachdem ihr Mann Charles, Maler und Musiker, sie verlassen hat, um in Amerika Karriere zu machen; und sie ist nach wie vor ein Dreh- und Angelpunkt im Leben der nun erwachsenen Männer.

Ihr Sohn Johan hat seinem Vater nachgeeifert und ist ebenfalls Maler geworden. Nun steht seine große Stunde an, die Ausstellung, die sein Meisterstück zur Krönung hat. Alle sollen sie kommen, Alma, seine Mutter, sein Bruder Oscar, der Journalist ist, seine Ex-Frau Ellen, die einen unbeschreiblichen Verlust erfahren hat, und ihre Freundin Lisa, die Psychoanalytikerin. Nach seiner Ausstellungseröffnung soll es ein großes Festessen geben, für das alle beteiligten Personen auf ihre Art planen.

Enquist greift nun einen Handlungsstrang nach dem anderen auf, verwebt sie miteinander und leitet sie ineinander über. So macht Lisa sich Gedanken über die bevorstehende Feier und führt alle Melodien kurz ein, ansatzweise, angedeutet, bis sie an die Reihe kommen, sich zu entfalten. Und so erfährt man die Lebensgeschichten der verschiedenen Personen. Johans und Ellens Ehe aus ihren beiden Perspektiven, den unglaublichen Verlust aus beiden Perspektiven, der Umgang damit aus beiden Perspektiven. Hin und her geht die Melodie, geht die Handlung.

Unterbrochen wird sie von Almas Geschichte, die sich aufgrund einer dummen Bemerkung Johans Hoffnung macht, ihr Mann könne zum Fest zurückkehren. Die alte Dame ist aufgeregt wie seit Jahrzehnten nicht mehr, versucht, sich in ihrer Unbeholfenheit attraktiv für den Mann zu machen, der sie vor so vielen Jahren verschmähte. Ihren anderen Sohn, Oscar, wühlt diese Nachricht ebenfalls sehr auf, aber auf eine negative Weise. Er hat die Vaterrolle übernommen, wollte seine Mutter wieder glücklich machen, hat für Johan gesorgt. Doch all seine Bemühungen wurden nie gesehen, sein Talent nicht beachtet, der Jüngere ihm immer vorgezogen. Und so rächt er sich zunächst auf die ihm eigene Weise, indem er einen Schmähartikel über Johan verfasst, nicht ahnend, welche Ereignisse er damit in Bewegung setzt…

Ellens Melodie ist eine traurige, auch wenn ein paar fröhliche Anklänge zu vernehmen sind. Ihr Leben ist überschattet von Verlust und Trauer, ihre Geschichte eindrücklich und berührend dargestellt. An ihrer Seite ist ihre Freundin Lisa, die Psychoanalytikerin, die den Beobachterposten einnimmt, sich vorsichtig in die Melodien einwebt und aus der nahen Distanz erzählt.

Alle Melodien führen am Ende zu einem großen Finale, der Ausstellung, auf der so viele Hoffnungen ruhen. Aber wird dieses Finale in Dur oder in Moll enden?

Anna Enquist ist mit ihrem Erstlingsroman ein ganz großes Buch gelungen, fast ein Meisterstück. Es gelingt ihr, fünf grundverschiedene Handlungsstränge kunstvoll miteinander zu verweben, sie ineinander greifen zu lassen, das Tempo anzuziehen, wieder zurückzunehmen, den Leser immer wissen zu lassen, dass Paukenschläge folgen werden. Nur wann, nur wann? Ein wundervoll komponierter Roman, der mit einer unglaublich bildhaften Sprache aufwartet (schießlich ist Anna Enquist auch Lyrikerin), und den Leser mitzureißen vermag, der atemlos den verschiedenen Handlungssträngen folgt, um am Ende im Ausstellungssaal zu stehen, keuchend, erwartungsvoll, ahnend, was sich da anbahnt.

Wenn Sie einen großartigen niederländischen Roman lesen möchten, lesen Sie diesen. Und hoffen, dass das Debüt dieser Schriftstellerin nur der Anfang war, und ihr weiteres Werk weitere Höhen erklimmt.

Anna Enquist: Das Meisterstück. Deutsch von Hanni Ehlers. Deutscher Taschenbuchverlag, München. 1997. OA: Het meesterstuk. Uitgeverij de Arbeiderspers. 1994. 316 Seiten.

Foto: Bianca Sistermans

Anna Enquist, eigentlich Christa Widlund-Broer, wurde am 19. Juli 1945 in Amsterdam geboren. Sie studierte Klavierspiel und klinische Psychologie in Den Haag und Leiden. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Essays und Romane.  Der Roman „Das Meisterstück“ ist ihr Debüt, er stand wochenlang auf den niederländischen Bestsellerlisten, 1995 erhielt er den Preis für den besten Erstlingsroman.

Nederlandstalig! Margriet de Moor – Sturmflut

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„Heute wurde also alles hinweggefegt.“ (183)

„Sie fängt seinen Blick auf, erkennt, daß er Angst hat, und hört es dann auch. Das Geräusch ist anfangs abstrakt. Eine Art Rauschen, anschwellend. Einen Moment muß sie an eine Heuschreckenplage denken, dann an eine tausendköpfige Armee, die von der anderen Seite der Insel sehr schnell angestampft kommt. Zeit, zu erschrecken, bekommt sie nicht. Die gesamte Aussicht verschwindet. Eine grauenhaft hohe Walze pechschwarzen Wasser steigt aus dem Nichts auf und rollt heran.“ (160)

Armandas Patenkind feiert seinen Geburtstag, aber aus einer Laune heraus bittet sie ihre Schwester Lidy, an ihrer Stelle zur Feier nach Zeeland zu fahren. Es ist der 31. Januar 1953, der Tag vor der Sturmflut. Diese Sturmflut kam durch Bedingungen und Konstellationen zustande, die nur sehr selten so zusammentreffen, und löschte weite Teile Südhollands aus. Sie kostete allein in den Niederlanden 1.835 Menschen das Leben, auch England und Belgien waren betroffen.

Lidy begibt sich also auf die Reise, und auch wenn das Wetter ungemütlich ist, kommt es ihr nicht ungewöhnlich vor. Sie feiern den Geburtstag, und mitten in der Nacht wird sie aus dem Bett geholt: Ein Auto wird gebraucht. Sie fährt mit Simon Cau, einem Bauern, der auch für die Deiche auf der Insel zuständig ist, zu verschiedenen Punkten, und erfasst nicht so recht, wie ernst die Lage ist. Er hingegen sieht, dass die Deiche alle alt und marode, großenteils schon vor der Flut ausgehöhlt sind und begreift, dass sie die Nacht nicht überstehen werden.

Sie versuchen, die Menschen zu warnen, aber die meisten denken sich, sie sitzen den Sturm aus. Und so fahren sie zurück zu Caus Hof, den sie allerdings nicht mehr erreichen, denn das Wasser kommt. Sie können sich ins Nachbarhaus retten, in dessen Dachfirst sich im Laufe der Nacht eine kleine Schar an Gestrandeten zusammenfindet. Bis am nächsten Tag das Haus weggespült wird.

Die Geschichte ist aus der Perspektive der beiden Schwestern erzählt, mehr oder weniger abwechselnd. Armandas Geschichte geht aber nach Lidys Tod weiter (ich spoilere hier nicht, das steht von Anfang fest), zeigt, wie sich ihr Leben nach der Katastrophe weiterentwickelt. Sie und Lidys Mann unternehmen in der nächsten Zeit alles, um Lidy zu finden, um wenigstens ihre Überreste begraben zu können. Sie kümmert sich auch um Lidys zweijährige Tochter, der sie zur Mutter wird.

Und ganz allmählich schlüpft Armanda in Lidys Rolle, als ob sie ihre Schwester damit am Leben erhalten könnte. Dieses Leben ist aber immer zweigeteilt, zersetzt von Schuldgefühlen. Denn hatte sie Lidy nicht gebeten, nach Zeeland zu fahren?

Margriet de Moor erzählt in Sturmflut eine der größten Flutkatastrophen, die die Niederlande je heimgesucht haben, anhand des Schicksals von zwei Schwestern, die unmittelbar hineingesogen werden. Die eine macht die Flut mit, die andere muss mit dem Überleben zurechtkommen. Ich denke, dass es vielen Menschen so gegangen ist damals, und dass das Schicksal der Schwestern exemplarisch ist für viele andere. Es gibt Einschübe, von handelnden Personen an diesem Abend, wie einem Meteorologen, und Erklärungen von Wissenschaftlern, warum Wasser und Sturm sich gerade so tödlich trafen, ebenso wie „Einschätzungen“, was alles anders hätte sein können, wäre nur einer der Faktoren anders gewesen.

All dies erzählt Margriet de Moor in einer sehr nüchternen Sprache, es ist schon fast ein dokumentarischer Stil, den sie benutzt. Dennoch meint man, selbst den kalten Wassermassen ausgeliefert zu sein, den Sturm brüllen zu hören, die Menschen und Tiere schreien zu hören. In einer nicht so nüchternen Sprache wäre dies wohl nicht zu ertragen gewesen.

Aber die Katastrophe ist nicht die einzige Handlung, dem, was nachher kommt, wird mehr Platz eingeräumt. Eine einzige Sturmnacht kann Leben für immer verändern. Menschen müssen mit ihrer Hilflosigkeit und ihren Schuldgefühlen weiterleben, so schwer das fallen mag. Am Ende stellt sich die Frage, welches Leben „mehr“ war.

Sturmflut ist ein Roman, der mich sehr beeindruckt hat. Nicht nur, weil ich das Meer über alles liebe und, solange ich denken kann, immer wieder an die niederländische oder belgische Küste in Urlaub gefahren bin, diese Landschaftsbeschreibungen also reale Bilder bei mir hervorrufen. Auch schafft Margriet de Moor es, eine Stimmung heraufzubeschwören, die dem Leser den Atem nimmt, die ihn hoffen und verzweifeln lässt. Und doch weiß man, wenn die Natur es will, hat der Mensch nichts auszurichten.

Auf Wikipedia gibt es einen ausführlichen Artikel über die Sturmflut, wie sie zustande kam, was passierte, und welche Maßnahmen ergriffen wurden. Wer sich dafür interessiert, möge hier klicken.

Margriet de Moor wurde am 21. November 1941 als Margaretha Maria Antonetta Neefjes in Noordwijk geboren. Sie studierte am Koninklijk Conservatorium in Den Haag Klavier und Gesang, im Zweitstudium Kunstgeschichte und Archäologie. Mit ihrem Mann eröffnete sie einen Salon für Künstler, in dem sie Videoporträts herstellte. Ihr erster Roman Erst grau dann weiß dann blau erhielt den AKO Literatuurprijs. Sie spricht fließend Deutsch und lebt heute in Bussum.

Margriet de Moor: Sturmflut. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag München Wien 2006. OA: De verdronkene. Uitgeverij Contact, Amsterdam 2005. 350 Seiten.

Nederlandstalig! Jessica Durlacher – Der Sohn

flagge„Nach allem, was passiert ist, weiß ich jetzt zumindest eines ganz sicher: dass die Besorgnis meines Vaters um uns nicht umsonst war. Wer so magisch denkt wie ich, könnte sogar behaupten, dass er uns mit dieser gigantischen Besorgnis beschützt hat. Unter seinem wachsamen Blick und seiner erbitterten Lenkung blieben uns Katastrophen, Unglücksfälle und Kriege erspart – und nach seinem Tod ging auffällig viel schief. Oder anders ausgedrückt: Bis zu seinem Tod war alles gutgegangen, aber dann war es damit vorbei. Vielleicht war das Schicksal ihm etwas schuldig gewesen, nach all dem, was es ihm angetan hatte, und als er nicht mehr war, gab es dann kein Halten mehr.“ (13)

Sara Silverstein, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, hat gerade ihren Vater verloren. Herman Silverstein war Jude, und hat mit viel Glück den Holocaust überlebt. Seine Mutter hatte er zum letzten Mal gesehen, als diese auf dem Weg in die Gaskammer war. Und seine Geschichte prägt auch das Leben seiner Töchter, die er immer nur beschützen will und für die er strenge Regeln aufstellt, die er aber auch abgöttisch liebt.

Sara ist mit Jacob, einem Filmproduzenten, verheiratet, der auch in Hollywood Erfolg hat, weswegen die Familie mit ihrem Sohn Mitch und der Tochter Tess lange in den USA gelebt hat. Deswegen nimmt Mitch nun auch ein Studium in Berkeley auf, während der Rest der Familie in den Niederlanden zurückbleibt. Dann passiert es ganz plötzlich: Herman Silverstein fällt von einer Leiter, kommt ins Krankenhaus und stirbt aufgrund eines Keims. Und nun ist nichts mehr wie vorher. Sara hat den Halt in ihrem Leben verloren, den ihr Vater ihr immer gab.

Aber das ist bei Weitem nicht alles. Sara wird auf ihrer Joggingrunde überfallen und belästigt. Und dann wird in ihr Haus eingebrochen, ihr Mann Jacob wird angeschossen und Tess sagt nicht, was mit ihr passiert ist. Derweil hat Mitch sich in den USA den Marines angeschlossen und absolviert in der Zeit das boot camp, das ihm keinen Kontakt nach Hause ermöglicht.

Sara ist verzweifelt, sie weiß nicht, was mit ihrem Leben geschieht, und fängt an, in den Sachen ihres Vaters zu wühlen. Dort stößt sie auf interessante Dinge… Sollte am Ende alles zusammenhängen?!der sohn

Jessica Durlachers Roman Der Sohn ist sehr komplex, so viele Rädchen greifen ineinander, dass ich mir manchmal gewünscht hätte, sie hätte sich ein wenig zurückgehalten. Dann wiederum meistert sie es, allen Rädchen gerecht zu werden, und hat somit ein Panorama von Schuld und Opfern, vor Angst Gelähmten und Kämpfern geschaffen, das sich über 70 Jahre zieht, vom 2. Weltkrieg bis zur heutigen Zeit.

Sie tut dies in einer, wie ich es empfunden habe, sehr emotionalen Sprache. Ich habe schon viele von Frauen geschriebene Bücher gelesen, aber noch nie ist mir dies so bewusst gewesen. Die Perspektive und die Art und Weise ihrer Erzählung ist sehr weiblich. Sie erzählt als Mutter, als Ehefrau und als Tochter, und der Leser ist vollkommen in dieser Perspektive verankert. Das war für mich sehr intensiv, eben weil mir dies noch nicht so vorher begegnet ist. Und die Geschichte ist eine Emotionale, die mit ihren Wendungen und Hintergründen manchmal nicht ganz einfach zu verdauen ist.

Sie sehen also, dieses Buch hat mich ziemlich begeistert. Diese Perspektive bekommt man selten geliefert, und dann noch in einer so komplexen Geschichte. Ich kann aber auch verstehen, dass man sich damit schwer tun könnte, da man sich darauf einlassen muss, da man schlecht abstrahieren und sich außen vor halten kann.

Der Sohn ist sicherlich kein Roman für Jedermann, dazu ist er zu speziell. Aber er ist ein Roman, den man nicht zu oft vorgesetzt bekommt, und deswegen für alle Leser ein weiteres Puzzlestück in ihrem Lesekosmos bedeuten kann. Außerdem kann man bei diesem wie bei vielen niederländischen Romanen sehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust immer noch andauert, intensiv, dass die Geschichte noch nicht aufgearbeitet ist. Und dies sollte in einer Zeit wie der heutigen, in der viele die Auswirkungen, die Nachwehen, die Schuldgefühle klein reden und aus dem Gedächtnis verbannen wollen, doch immer wieder deutlich gemacht werden. Deswegen: aus meiner Perspektive eine Empfehlung!

Jessica Durlacher wurde am 6. September 1961 in Amsterdam geboren. Sie ist Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Übersetzerin. Ihr Vater  war der Soziologe Gerhard Durlacher, der als einziger seiner Familie Auschwitz überlebt hat. Mit seinen Berichten und Erzählungen wurde er zu einem wichtigen Zeitzeugen, was von Jessica Durlacher fortgesetzt wurde. Sie schreibt vor allem von Eltern, die den Holocaust überleben und ihren Kindern, die in und mit dieser Erinnerung aufwachsen.

Jessica Durlacher ist mit Leon de Winter verheiratet, mit dem sie in Bloemendaal und Kalifornien lebt. Sie haben zwei Kinder, die Tochter ist Solomonica de Winter. Somit hätten wir die Schreiber-Familie also komplett.

Jessica Durlacher: Der Sohn. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag AG Zürich, 2012. OA: De Held. De Bezige Bij, 2010. 408 Seiten.

Buch #37: Jeffrey Eugenides – Middlesex

Jeffrey Eugenides wurde am 8. März 1960 in Grosse Pointe, einem Vorort von Detroit, geboren, in dem auch dieser Roman zu großen Teilen spielt. Eugenides  ist ein Schriftsteller mit griechischen Wurzeln, die er in Middlesex zum Teil verarbeitet. Nach dem Roman The Virgin Suicides (Die Selbstmord-Schwestern) ist Middlesex sein zweiter Roman. Er wurde 2003 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

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Middlesex erzählt die Geschichte von Calliope, einem griechisch-stämmigen amerikanischen Mädchen, das in Detroit aufwächst. Ausgehend von der Geschichte ihrer Großeltern, die nach dem Brand von Smyrna nach Amerika auswandern, wird die Geschichte ihrer Familie nachvollzogen, die fast 100 Jahre umfasst. Callies Großeltern, Desdemona und Lefty,  stammen aus einem kleinen Dorf, und auf dem Schiff nach Amerika heiraten sie. Hiermit setzen sie eine Reihe von genetischen Mutationen in Gang, die ihren Höhepunkt in Callie finden.

Callie wird als Hermaphrodit geboren, was aber niemand bemerkt. So wächst sie als Mädchen heran, bis in ihrer Pubertät schließlich merkwürdige Dinge geschehen. Sie erlebt ihre erste große Liebe mit einem Mädchen, sie bekommt einen Bart, hat eine recht tiefe Stimme und keine weiblichen Rundungen, geschweige denn ihre Periode. Nach einem Unfall und der Entdeckung ihrer Doppelgeschlechtlichkeit, sucht die Familie einen Spezialisten auf, der feststellt, was wirklich mit Callie los ist.

Sie bräuchte nur eine kleine Operation, und ihre Geschlechtsmerkmale wären vollkommen weiblich, in Kombination mit Hormonen eine gute Therapie. Warum allerdings der 41-jährige Cal seine Lebensgeschichte erzählt, sollte jeder für sich selbst entdecken.

Nach den Textschnipseln habe ich eine ganze Menge Vorschusslorbeeren für dieses Buch bekommen. Das macht mich eigentlich von Grund auf misstrauisch, und ich bin eher skeptisch an den Roman herangegangen. Nun muss ich aber sagen, dass er  auch mir sehr gut gefallen hat.

Denn Middlesex ist vieles in einem: er erzählt eine typische Einwanderergeschichte und er gibt ein Beispiel für die Erfüllung des American Dream, aber auch den Preis, den man hierfür bezahlen muss. Eine coming-of-age-Geschichte nimmt großen Platz ein, die jedoch einzigartig ist, aufgrund der großen Verwirrungen, die der Hermaphroditismus mit Cal/lie anstellen. Und nicht zuletzt wird am Beispiel einer ehemalig großen Arbeiterstadt und ihrem Niedergang ein Stück amerikanischer Geschichte erzählt, von der Prohibition bis zu den Rassenunruhen in den 60ern, von kleinen und großen Gaunern, von der Hippie-Bewegung bis zur Schwulen-/Lesben-Bewegung. Am Ende kommt es für meinen Geschmack ein bisschen zu dicke, und die Geschichte Berlins auch noch hineinzupacken war doch ein wenig viel in meinen Augen.

Großen Raum nimmt die Geschlechterfrage ein. Ist man mehr durch die Genetik geprägt oder durch die Gesellschaft und Erziehung? Sollte Callie ein Mädchen bleiben, obwohl ihre Geschlechtsmerkmale männlich sind? Bis in die Pubertät ist sie als ganz normales Mädchen aufgewachsen, das sich zwar manchmal etwas anders gefühlt hat, das aber im Grunde genommen angepasst war. Eugenides widmet dieser Frage großen Raum. In Form Dr. Luces, der sich Callies annimmt, sie untersucht und ihr schließlich rät, ein Mädchen zu bleiben, gibt er eine Menge Fakten und Überlegungen zu diesen Fragen.

Allerdings muss ich auch sagen, dass es mir manchmal fast schon ein wenig zu viel war. Es sind sehr viele Dinge in dieses Buch gepackt, und auch wenn ich nicht den Eindruck hatte, dass etwas zu kurz gekommen ist, wären ein paar Handlungsstränge weniger für mich auch in Ordnung gewesen. Sprachlich ist das Buch sehr angenehm, man kann es im Grunde leicht herunterlesen, was bei der Schwierigkeit mancher Fakten und ihrer tollen Vermittlung ein großes Verdienst von Eugenides ist.

Insgesamt kann ich den Roman jedem empfehlen, der gerne eine etwas ungewöhnliche Geschichte liest und amerikanische Geschichte mag. Ich habe ihn gerne gelesen, auch wenn er nicht mein neues Lieblingsbuch geworden ist. Aber ich habe auf jeden Fall ein paar tolle Figuren kennengelernt, und Aspekte der amerikanischen Geschichte, die ich vorher nicht kannte.

Weitere lesenswerte Rezensionen bei Philea  und Flattersatz .

Jeffrey Eugenides: Middlesex. Deutsch von Eike Schönfeld.

Buch #24: Jonathan Franzen – Die Korrekturen

Ich habe so meine Marotten: Bücher werden von Anfang bis Ende gelesen, niemals nehme ich das Ende vorweg. Reihen werden von Band 1 an chronologisch gelesen. Verfilmungen werden erst dann angeschaut, wenn ich das Buch gelesen habe. Und allem, was gehypt wird, stehe ich zutiefst misstrauisch gegenüber.

Mit den Korrekturen habe ich nun so ein gehyptes Buch. Jonathan Franzen gewann mit ihm den National Book Award, war Finalist für den Pulitzer-Preis und verkaufte dieses Buch weltweit bisher 2,85 Millionen Mal. Im Klappentext steht, „er hat ein Werk der Weltliteratur geschaffen, das – seiner Menschlichkeit, vor allem aber der literarischen Reichtümer wegen – aus unseren Regalen bald nicht mehr wegzudenken ist“.

Es handelt sich bei den Korrekturen um einen Familienroman. Erzählt wird die Geschichte der Familie Lambert, Alfred und Enid mit ihren Kindern Gary, Chip und Denise. Die Lamberts leben im Mittelwesten der USA, jenem Landstrich, der viel aus Traditionen schöpft, ein wenig „zurückgeblieben“ ist und weder landschaftlich noch kulturell viel zu bieten hat.

Alfred und Enid sind seit 48 Jahren verheiratet, aber sie stecken in einer Ehe fest, die sie nie hätten schließen sollen. Alfred ist ein Mann mit Prinzipien, der sich in seiner Privatsphäre am wohlsten fühlt und gerne alles mit sich selbst ausmacht. Enid hingegen hatte gehofft, einen Mann zu heiraten, der stark ist und ihr etwas bieten könne. Nun, sie hat ein Haus und eine Familie, sie sind nicht reich und nicht arm, geleistet haben sie sich Zeit ihres Lebens aber nicht viel, von ein paar Reisen einmal abgesehen.

Ihre Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem der Vater meist auf der Arbeit ist, und ihre Mutter ständig etwas auszusetzen hat. Keines der Kinder kann je etwas richtig machen. Und alle Kinder gehen, sobald sie ihre Highschool abgeschlossen haben, möglichst weit weg.

Gary, der Älteste, der sich stets mit einem gewissen Grad an Humor der Enge des Familienlebens und der elterlichen Ansichten entzogen hat, wird Abteilungsleiter bei einer Bank, heiratet eine wunderschöne Frau und bekommt mit ihr drei Söhne. Diese Frau jedoch versucht ihm eine Depression einzureden, wenn sie nicht bekommt, was sie will. Sie verbündet sich mit den Kindern und hetzt sie gegen sich auf.

Als Enid schließlich den Wunsch äußert, ein letztes Mal Weihnachten mit allen Kindern zu Hause zu feiern, gerät Gary in eine Zwickmühle: Er möchte seiner Mutter die Freude machen, aber Caroline, seine Frau, tut alles dagegen, was in ihren Möglichkeiten steht…

Chip, der zweite Sohn, ist Geisteswissenschaftler geworden. Immer trägt er sich mit dem Gedanken, in den Augen seiner Eltern versagt zu haben, dass er nicht Anwalt oder Arzt geworden ist, was seinen Eltern in der Heimat doch ein gewisses Ansehen verleihen würde. Selbst als angehender Professor fühlt er sich, als sei dies alles nichts wert, und schließlich setzt er alles aufs Spiel und beginnt eine Affäre mit einer Studentin. Dieses Spiel verliert er, er verliert seinen Job und findet sich in New York wieder, wo er sich als Drehbuchschreiber versucht und zwischendurch als Lektor arbeitet. Eines Tages bekommt er aber ein gutes Angebot, das ihm helfen könnte, seine inzwischen erwirtschafteten Schulden begleichen zu können und das auch noch eine Menge Vergnügen verspricht: Ein litauischer Geschäftsmann verdingt ihn als Internetbetrüger. Dies geht solange gut, bis in Litauen politische Unruhen ausbrechen…

Denise, die Person, mit der ich eigentlich am Meisten anfangen konnte, ist das Nesthäkchen. Ihre Mutter hatte so viele Hoffnungen in sie gesetzt, das hübsche und kluge Mädchen hätte einen wundervollen Ehemann in der Nähe finden und eine wundervolle Familie gründen können. Doch sie ging ans College, das sie aber nach einiger Zeit schmiss, um als Köchin zu arbeiten. Hier ist sie sehr erfolgreich. Sie heiratet ihren Chefkoch, doch als sie alles von ihm gelernt hat und ihm überlegen ist, zerbricht die Ehe.

Sie bekommt ein Angebot von einem reichen Mann, ein Restaurant mit ihm zu eröffnen. Dieser Mann, dessen Ehe nicht mehr so richtig rundläuft, begleitet sie auf einer Reise durch Europa, um sich kulinarische Ideen zu holen. Kommt es, wie es kommen muss? Fast. Aber die Entwicklung, die tatsächlich stattfindet, ist eine überraschend andere…

Derweil verfällt Alfred immer mehr. Er hat Parkinson, Depressionen, Demenz und ein Nervenleiden in den Beinen. Seine klaren Momente, oder zumindest die, die seiner Außenwelt Beachtung schenken, werden immer seltener. Enid bemüht sich, so gut es geht, alles beisammen zu halten. Aber sie hat ein Hüftleiden und ist mit ihrem Mann vollkommen überfordet. Sie kann ihm seine Eigenheiten, seine Abweisung und Insichgekehrtheit während der langen Jahre ihrer Ehe nicht verzeihen. Sie kann ihm nicht verzeihen, dass die anderen Männer ihren Frauen so viel mehr bieten. Sie kann ihren Kindern nicht verzeihen, dass sie nicht die Leben leben, die sie sich ausgemalt hat.

Ihr größter Wunsch ist es nun, noch einmal die ganze Familie um den Weihnachtstisch zu scharen. Ein letztes Zusammentreffen, wie in glücklicheren Jahren. Mit ihrem Mann, der sich kümmert, und allen Kindern und Enkelkindern.

Doch wie wird es um Alfreds Gesundheit bestellt sein? Kommt Garys Familie doch ein letztes Mal mit? Macht Denise sich frei aus dem Restaurant? Und Chip, der in Litauen ist? Wird Enids Wunsch erfüllt werden – und wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Dieser Roman hat unglaublich viele Facetten, und ich bin froh, dass ich ihn trotz meiner Vorbehalte gelesen habe. Diese habe ich auch größtenteils aufgegeben, auch wenn das Nörgelige Enids, ihre ständige Unzufriedenheit und ihr ständiges Beschweren mich mit der Zeit schon ziemlich genervt haben. Sprachgewaltig ist dieser Roman ohnegleichen, die Bilder, die Franzen heraufbeschwört, haben oft eine dermaßen kühle Poesie, dass es einem den Atem verschlägt.

Auch fand ich die Entwicklung sehr interessant. Durch Rückblenden erfährt man, wie die Ehe begonnen hat, welche Stimmung im Haus herrschte, als die Kinder klein waren. Viele kleine Begebenheiten führten zu dem, was die Personen heute sind. Die Korrekturen, die die Kinder ihrem Leben auferlegt haben, um nicht so zu werden wie ihre Eltern, haben nicht immer zum gewünschten Ziel geführt.

Alle Personen strampeln sich ab, um ein einigermaßen zufriedenes Leben zu führen, aber alle Personen sind auch zerfressen von Schuldgefühlen darüber, nicht so zu sein, wie sie sein sollen. Ein ständiges Dilemma, das einige umpopuläre Entscheidungen treffen lässt, aber doch immer nachvollziehbar bleibt.

Der Roman hat mir insgesamt gut gefallen, vor allem die Sprache Franzens. Ich glaube allerdings nicht, dass er nachhaltig hängen bleiben wird, dafür war er an einigen Stellen doch zu seicht und hat zu oft auf etwas herumgeritten. Allerdings kann ich ihn empfehlen, denn die Lektüre geht leicht von der Hand, und irgendetwas in den Personen findet man mit Sicherheit auch in sich selbst oder seinem Leben wieder.

Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt, 2002