Nederlandstalig! Maarten t’Hart – Die Netzflickerin

Maarten t'Hart, Bildquelle: Wikipedia

Maarten t’Hart, Bildquelle: Wikipedia

Maarten t’Hart wurde am 25. November 1944 in Maassluis geboren. Er wuchs in einem streng calvinistischen Haushalt auf. Von 1962 bis 1968 studierte er an der Universität Leiden Biologie und arbeitete später als Dozent für Verhaltensbiologie. Seine Doktorarbeit behandelt das Verhalten von Ratten. Sein Romandebüt erschien 1971, 1975 erhielt er für seinen ersten Band Erzählungen den Multatuli-Literaturpreis, seinen Durchbruch hatte er 1978 mit Een vlucht regenwulpen (Ein Schwarm Regenbrachvögel). Maarten t’Hart schreibt in der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, er legt vor allem Wert auf die genau Beschreibung von Land und Leuten. Es gibt viele autobiographische Elemente, und häufig benutzt er einen Ich-Erzähler. Er ist einer der beliebtesten Schriftsteller der Niederlande und lebt in Warmond bei Leiden.

Die Netzflickerin ist ein Roman in drei Teilen. Erzählt wird die Geschichte von Simon Minderhout, der 1914 als Nachzügler geboren wird. Sein Vater hat eine Witwe geheiratet und zusammen ziehen sie in das Dorf Anloo. Hier verlebt Simon eine recht unbeschwerte Kindheit, und wächst in einer wunderschönen Landschaft auf, die von kauzigen Menschen bewohnt wird. Er wird Zeit seines Lebens eine sehr enge Verbindung zu seinem Vater haben.

Der zweite Abschnitt ist der Zeit der Besatzung gewidmet. Simon ist Apotheker, ein Eigenbrötler. Er hat an keiner Widerstandsgruppe teil, da die Leute ihm gegenüber misstrauisch sind. Dies belastet ihn sehr, möchte er doch seinen Teil beitragen. Er ist ein großer Musikliebhaber und fährt regelmäßig nach Delft, um das Philharmonieorchester zu hören. Hierbei trifft er einen Deutschen, der sich genauso für Musik begeistert wie er, aber das wirft natürlich kein gutes Licht auf ihn.

Dann scheint eine Kehrtwende einzutreten: Hillegonda betritt seine Apotheke und bittet um Medizin. Er ist hingerissen von ihr, die keine klassische Schönheit ist, aber jeden mit ihrem Lachen mitreißt. Sie nimmt die Medizin und verschwindet spurlos. Simon geht seiner Arbeit nach und wartet. Und eines Tages steht sie wieder vor seiner Tür. Er folgt ihr nach Hause, kann sich aber den Weg nicht ganz merken. So fährt er immer wieder in den Ort, in dem sie lebt, und kann sie nicht finden. Er findet jedoch ein paar junge Männer, die Kontakt zu ihr haben, und folgt diesen, in der Hoffnung, sie mögen ihn zu ihr führen.

Der dritte Teil handelt von Simon als altem Mann. Er war verheiratet, aber seine Ehe hat nicht gehalten. Seine Liebe zur Musik hat er erhalten, und ein enger Freund ist ein jüdischer Musiker. Dann wird er Opfer einer Erpressung: ein junger Mann tritt an ihn heran und droht, an die Öffentlichkeit zu bringen, was Simon während der Besatzung getan hat. Dieser hält das für lächerlich und provoziert ihn quasi dazu. Und dann geht ein medialer Lynchmob los, wie er leider nur allzu bekannt ist. Simon wird beschuldigt, die jungen Männer verraten zu haben, was zu ihrer Tötung führte.  Auf einmal tauchen eine ganze Menge Menschen auf, die etwas über ihn zu sagen haben. In Tv-Shows werden Dinge diskutiert, die so weit hergeholt sind, dass man eigentlich lachen sollte, wäre es nicht so traurig.

rehart01Simon, der Einzelgänger, hat kein Netz, das ihn auffängt. Nur sein jüdischer Freund hält ironischerweise zu ihm. Das Bedürfnis nach einem Sündenbock ist aber anscheinend so groß, dass die Angelegenheit nicht zur Ruhe kommt. Nach und nach stellt sich heraus, dass der junge Mann, der die Sache angestoßen hat, Hillegondas Enkel war. Er trifft sie nach all den Jahren wieder und versucht sich zu erklären – aber wird er sie überzeugen können, nachdem sie fünfzig Jahre an seine Schuld geglaubt hat?

Die Netzflickerin ist ein sehr vielschichtiges Buch. Zuerst einmal vermag Maarten t’Hart es mit seiner wundervollen Sprache, den Leser in dieses Land und diese Landschaft zu versetzen, als habe er niemals woanders gelebt (und leben wollen). Im zweiten Teil, zum Beispiel, geht Simon jeden Tag ein hoofdje picken, was bedeutet, dass er einen Spaziergang zum Hafen und durch die Dünen macht. Allein dieser Ausdruck wird mich immer begleiten, ich werde ab jetzt auch hoofdjes picken, auch wenn ich keine Dünen zur Verfügung habe.

t’Hart erzählt die Geschichte eines Außenseiters, der von allen misstrauisch beäugt wird, und der im Grunde genommen nie eine Chance hatte. Er war als Hinzugezogener und introvertierter Mann von vornherein nicht involviert, und als die ganze Geschichte ins Rollen kommt, wird er mit Freuden hervorgeholt und als Sündenbock präsentiert. Und das ist der Teil der Geschichte, der mich wirklich beeindruckt hat. Dieser mediale Kreuzzug, der leider nur allzu alltäglich geworden ist, zieht los, einen Menschen zu verurteilen, und es ist vollkommen egal, was für Beweise existieren. Was wichtig ist, ist, dass es interessant ist, dass es dreckige Wäsche ist, dass es Quote bringt. Die Art und Weise, wie Maarten t’Hart dies darstellt, bleibt eine Zeit lang bei einem, lässt einen nachdenken, und vor allem unterstützt es bei vorzeitigen Verurteilungen. Und das ist, wie die letzten Tage gezeigt haben, mal wieder aktueller denn je.

Maarten t’Hart: Die Netzflickerin. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Piper, München/Zürich 2000.