Buch #63: Nadine Gordimer – July`s Leute

„Warum kommen sie hierher? Warum zu uns?“ (S. 29)

Diese Frage stellt July`s Frau Martha ihm, als er in seinem Heimatdorf auftaucht und seine „weiße Familie“ mit sich bringt. Diese Familie ist die Familie Smales, bestehend aus Bam und Maureen, mit ihren drei Kindern Gina, Royce und Victor. Sie mussten aus der Stadt fliehen, da die Rassenunruhen, bei denen die Schwarzen die Macht übernehmen sollten, zu nahe kamen.julys leute

July, ihr Boy (so bezeichnet er sich selbst) hat sie in ihren Geländewagen gepackt und ist mit ihnen in sein Heimatdorf geflohen. Er hat ihnen die Hütte seiner Mutter gegeben und ein paar Sachen fürs tägliche Leben. Er hilft ihnen aus, bringt ihnen Tee oder Feuerholz. Er ist immer noch ihr Diener.

Nun ist die Familie Smales im Niemandsland gelandet, ein kleines Dorf mit ein paar Hütten, in dem sich die Menschen von dem kargen Land ernähren und mit dem, was sie haben, zurechtkommen. Sie jedoch sind völlig aufgeschmissen. Sie kennen die Pflanzen nicht, die Tiere nicht, haben kein Immunsystem, das das Flusswasser abwehren kann, und einer ihrer größten Besitztümer ist eine hastig auf der Flucht eingesteckte Rolle Toilettenpapier.

Doch sie richten sich ein. Ein Radio liefert spärliche Informationen über den Zustand in der Stadt, doch stets bleibt die Hoffnung bestehen, wieder zurückgehen zu können, dass dies nur ein vorübergehender Zustand ist, den man aussitzen kann. Doch es zieht Tag um Tag, Nacht um Nacht an ihnen vorbei, ohne, dass sich etwas an ihrer Situation ändert, ohne, dass es Neuigkeiten gibt.

Was sich ändert, sind die Personen. Die Kinder passen sich schnell an, freunden sich mit den Kindern des Stammes an und werden zu ihresgleichen. Anfangs noch mit Händen und Füßen, sprechen sie bald in einer Sprache, die sie alle verstehen, übersetzen auch für die Eltern. Sie verwildern, nehmen dieses neue Leben jedoch großenteils einfach hin.

Für ihre Eltern ist es schwieriger. Sie hatten immer von sich gedacht, tolerante Menschen zu sein, gut für ihre Angestellten zu sorgen. Keine abfälligen Worte fielen in ihrem Haus, sie „zeigten jedem Respekt“, gaben July Freiheiten und vertrauten ihm. Und nun vertrauen sie ihm ihr Leben an, sind vollkommen von ihm abhängig.

Am Anfang bleibt das Arbeitgeber-Arbeitnehmer- oder das Herr-und-Boy-Verhältnis noch einigermaßen bestehen. Doch je weiter die Zeit schreitet, desto weniger bleibt davon übrig. July übernimmt Aufgaben, Verantwortung und schließlich das Auto der Familie. Die Smales finden sich all dessen beraubt, was sie einst ausgemacht hat, und versinken in einer tiefen Sprachlosigkeit. Es gibt nichts zu besprechen, sie bleiben stumm, das Leben ist auf das Körperliche reduziert, und sie nehmen sich ganz anders wahr in der Welt.

Aber auch für Julys Familie bedeuten die Geschehnisse einen tiefen Umschwung. Er ist auf einmal immer da, wo er zuvor nur alle zwei Jahre zu Besuch kam. Er schickte Geld, das nun nicht mehr kommt, und seine Frau, die vorher an ihren Briefen feilte und nur die wirklich wichtigen Sachen mit ihm teilte, ist nun täglich mit ihm konfrontiert.

Nadine Gordimer hat mit ihrem schmalen Roman Julys`s Leute eine eindringliche Charakterstudie verfasst. Er handelt zwar von einer großen Revolution, einem großen Umbruch, aber das eigentliche Thema sind die Menschen, die davon betroffen sind. Sie nimmt Personen von beiden Seiten, die sich plötzlich mit einer umgekehrten Situation konfrontiert sehen und sich also mehr oder weniger in der Welt des jeweils anderen einrichten müssen.

Das geht nicht konfliktfrei über die Bühne, und diese Konflikte schildert Gordimer hier. Aber mehr noch schildert sie eine große Sprachlosigkeit, einen Zustand, der geprägt ist von Angst und Hoffnungslosigkeit, und wie auf einmal alles anders wird, alles anders wahrgenommen wird. July`s Leute ist ein karges Buch, ein Roman, der ganz dicht bei den Menschen ist, in dem nicht viel und doch alles geschieht. Ein Buch, das sich zu lesen lohnt.

Nadine Gordimer: July`s Leute. Aus dem Englischen von Margaret Carroux. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main, 1994. OA: July`s People. Jonathan Cape Ltd., London, 1981. 207 Seiten.

Photo: nobelprize.org

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Nadine Gordimer wurde am 20. November 1923 in Springs, Transvaal, heute Gauteng (Südafrika), geboren. Ihre Romane, Erzählungen und Essays machten sie zu einer Autorin von Weltruf. Diese behandeln vor allem die südafrikanische Apartheidspolitik und deren Folgen für sowohl die schwarze als auch die weiße Bevölkerung. Sowohl in öffentlichen Auftritten als auch in ihren Werken setzte sie sich beharrlich für die Emanzipation der Schwarzen in ihrem Heimatland ein. Nadine Gordimer gilt als eine der wenigen modernen Autorinnen, denen es gelungen ist, politische Themen ohne ästhetische Einbuße in ihrem Werk zu verarbeiten. 1974 erhielt sie den Booker Prize, 1991 den Nobelpreis für Literatur. Sie starb am 13. Juli 2014 in Johannesburg.

Buch #20: J.M. Coetzee – Elizabeth Costello

Da hätten wir nun also meinen ersten Coetzee. Ich weiß auch nicht, warum ich bisher noch nicht mit dem Werk des Literatur-Nobelpreis-Trägers in Berührung gekommen bin. Dieser Roman war vielleicht auch nicht der geeignete Einstieg, aber manchmal muss man eben nehmen, was die Bibliothek hergibt.

Elizabeth Costello ist eine Mischung aus Roman und Essayistik, was es einigermaßen schwierig macht, es zu rezensieren.  Die Protagonistin ist eine „alte Dame“, eine Schriftstellerin, die in jungen Jahren einen Bestseller geschrieben hat, indem sie aus der Perspektive von Leopold Blooms Frau Molly schrieb, des Leopold Bloom aus Ulysses. Heute verbringt sie ihre Tage damit, zu verschiedenen Gegebenheiten Vorträge zu halten.

So ist das Buch auch in acht Lehrstücke unterteilt, plus einem Nachtrag. Fast jedes Lehrstück schildert eine Vortragssituation, sei es, dass ihr ein Preis verliehen wird, oder auf einem Kreuzfahrtschiff etwas für bildungshungrige Reisende erzählt, auf einem Kongress spricht oder bei einem Abendessen.

Sie setzt sich mit verschiedenen Themen auseinander (wie ich las, sind viele dieser Lehrstücke schon vorher von Coetzee veröffentlicht worden), unter anderem zum Humanismus und den Humanwissenschaften, über das Böse, über Erotik in der Literatur, und – was mich am Meisten beeindruckt hat – über den Missbrauch der Tiere durch den Menschen.

Hierbei eckt sie immerzu an. Sie ist nicht mehr jung, und lebt langsam mit der Einstellung, dass sie zu alt sei, um ihre Meinung zu vertuschen. So spricht sie sie gerade heraus, was meistens auf keinerlei Zustimmung trifft, sondern vielmehr auf Ablehnung, und oft löst sie hitzige Diskussionen aus.

Sie ist nicht wirklich sympathisch, meine Zuneigung hat sie dennoch erworben, eben durch ihre Art, etwas zu reflektieren, und Dinge auszusprechen, auch wenn sie bei der feinen Abendgesellschaft nicht am rechten Platz zu sein scheinen.  Sie hat mir einiges zu denken gegeben, und ich konnte das Buch nicht einfach durchlesen, ich musste immer wieder unterbrechen, nochmal lesen, Notizen machen – aber ich habe es gern getan.

Sie erreicht nicht oft etwas mit ihren Diskussionen und Meinungen, obwohl sie Leute dazu bringt, darüber nachzudenken. Und sie hat auch keine Patentlösungen. Wenn sie zum Beispiel die Schlachthofthematik anspricht, ist es bei ihr genauso wie in meinem Leben – die Gesprächspartner wollen eine Patentlösung. Trägt man als Vegetarier Lederschuhe, meinen diese Gesprächpartner, sie könnten einen allein dadurch schon ad absurdum führen. Auch Elizabeth erfährt, dass die Menschen lieber ihre Augen davor verschließen, als sich damit auseinander zu setzen.

Das letzte Kapitel ist eine Auseinandersetzung mit Kafka, sie befindet sich in einer Situation, in der sonst nur Kafkas Protagonisten erscheinen. Sie ist in einer Art Nachwelt, und dort muss sie vor einem Gericht beschreiben, an was sie glaubt. So sehr sie aber versucht, dem Gericht verständlich zu machen, dass sie eigentlich an nichts glaubt, so absurd sind die Reaktionen.

Ich habe die Lektüre sehr genossen, auch wenn sie einiges von mir verlangt hat. Kein typischer Roman, aber viele Dinge werden angesprochen, über die man einmal nachdenken sollte. Somit empfehle ich dieses Buch für ruhige Stunden, in denen man Zeit hat, nachzudenken.