Anhand der Figur des Walter Berglund in seinem Roman Freiheit.
Jonathans Franzens Roman Freiheit ist nicht nur eine epische Abhandlung über die Freiheit, die der Mensch hat oder eben nicht hat, nicht nur ein Familienroman, nicht nur ein Entwicklungsroman. Franzen macht auch einige Ansichten deutlich, oder doch zumindest auf einige Dinge aufmerksam.
Seine Figur des Walter Berglund ist das, was auf (Nichtgut)Neudeutsch wohl als „Gutmensch“ bezeichnet wird. Er ist ein liebevoller, unterstützender, verständnisvoller und eben auch sehr, sehr idealistischer Mensch.
Aus diesem Idealismus heraus nimmt er einen Job an, der es ihm ermöglicht, ein Reservat für den Pappelwaldsänger zu erreichen, eine kurz vor der Bedrohung des Aussterbens stehende Vogelart. Da das Interesse der Menschen eher nicht so groß ist, wurde eine Stiftung gegründet, die reiche Menschen dazu bringen soll, sich durch großzügige Spenden wie gute reiche Menschen zu fühlen.
Um den Pappelwaldsänger zu retten, sagte Walter, beabsichtige die Stiftung nun, im Wyoming County, West Virginia, ein zweihundertfünfzig Quadratkilometer großes Areal ohne Straße zu schaffen – momentan werde es noch „Haven Gefilde“ genannt -, das von einer größeren „Pufferzone“ umgeben sei, in der gejagt und Motorsport betrieben werden dürfe. Um sich die Oberflächen- wie auch die Mineralrechte an einer so großen einzelnen Parzelle leisten zu können, müsse die Stiftung zunächst den Abbau von Kohle auf nahezu einem Drittel davon gestatten, und zwar per Gipfelabbau. Und genau diese Aussicht habe die anderen Bewerber abgeschreckt. Der Gipfelabbau, wie er gegenwärtig praktiziert werde, sei ökologisch beklagenswert – Gipfelgestein werde weggesprengt, um die darunterliegenden Kohleflöze freizulegen, umliegende Täler würden mit Geröll aufgefüllt, biologisch wertvolle Bäche zugeschüttet. (282)
Doch, wie so oft auf dieser Welt, ist es nicht so einfach, Gutes zu tun. Man muss Kompromisse schließen, und so ist Walter bereit, den Pakt mit dem Teufel einzugehen. Völlige Zerstörung, um danach für immer ungehindert wieder aufbauen zu können. Denn:
Er hingegen glaube, dass ordentlich durchgeführte Renaturierungsmaßnahmen den Schaden weit stärker in Grenzen halten könnten, als man es für möglich halte, und der große Vorteil eines völlig leergeförderten Bodens sei, dass niemand ihn noch einmal aufreißen werde. (282)
und
„Na, in aller Kürze, der Gipfelabbau hat deshalb so einen schlechten Ruf, weil die wenigsten Inhaber von Oberflächenrechten auf einer richtigen Form der Renaturierung bestehen. Bevor ein Kohleunternehmen seine Mineralrechte wahrnehmen und einen Berg abtragen kann, muss es eine Sicherheit hinterlegen, die erst zurückerstattet wird, wenn das Land wiederhergestellt ist. Das Problem dabei ist, dass diese Inhaber sich mit kahlen, flachen Weiden zufriedengeben, die oft auch noch absacken, weil sie hoffen, dass ein Bauunternehmer des Weges kommt und Luxuswohnungen darauf baut, obwohl es eine gottverlassene Gegend ist. Dabei erhält man tatsächlich einen sehr üppigen und artenreichen Wald, wenn man die Renaturierung richtig macht.“(285)
Ein Teil seiner Bereitschaft, diesen deal with the devil einzugehen, scheint daraus zu resultieren, dass die Umweltzerstörung und das Artensterben nur Symptome einer ganz anderen Krankheit sind. Und dies ist Walters Hauptanliegen.
„Ich habe die Sache zurückverfolgt“, sagte er (Walter, eig.Anm.), „weil ich weiterhin nicht schlafen konnte. Erinnerst du dich an Aristoteles und seine Ursachenlehre? Die Wirk-, die Form- und die Finalursache? Also, Nestraub durch Krähen und Wildkatzen ist eine Wirkursache für den Rückgang des Waldsängers. Und Fragmentierung des Lebensraumes ist eine Formursache davon. Was aber ist die Finalursache? Die Finalursache ist die Wurzel von so ziemlich jedem Problem, das wir haben. Die Finalursache ist: verdammt nochmal zu viele Menschen auf der Erde. Das wird besonders klar, wenn wir nach Südamerika fahren. Ja, der Pro-Kopf-Verbrauch steigt. Ja, die Chinesen räumen dort illegal Rohstoffe ab. Aber das wahre Problem ist der Bevölkerungsdruck. Sechs Kinder pro Familie gegenüber eins Komma fünf. Die Leute versuchen verzweifelt, die Kinder zu ernähren, die ihnen der Papst in seiner unendlichen Weisheit abverlangt, also ruinieren sie die Umwelt.“ (292)
Walter hat die Zahlen parat, er verbringt schlaflose Nächte darüber, verzweifelt, und ist doch weiterhin bemüht, auf das Problem aufmerksam zu machen, hinzuweisen, Krawall zu schlagen, nicht locker zu lassen. Ja, Walter ist kein Philanthrop, seine Welt könnte durchaus auch nur von Pappelwaldsängern und ihren Gefährten bevölkert sein.
„Allein in Amerika“, sagte er, „wird die Bevölkerung in den nächsten vier Jahrzehnten um fünfzig Prozent anwachsen. Überleg dir mal, wie dicht besiedelt die Speckgürtel jetzt schon sind, denk an den Verkehr und die Zersiedelung und die Umweltzerstörung und die Abhängigkeit von ausländischem Öl. Und dann rechne noch fünfzig Prozent dazu. Und das ist nur Amerika, was theoretisch eine viel größere Bevölkerung ernähren kann. Und dann denk an die CO²-Emissionen weltweit, an Völkermord und Hunger in Afrika und an die radikalisierte, chancenlose Unterschicht in der arabischen Welt, an die Überfischung der Weltmeere, an illegale Siedlungen in Israel und an die Han-Chinesen, die Tibet überrennen, an Hundertmillionen Arme im Atomstaat Pakistan: Es gibt kaum ein Problem auf der Welt, das nicht dadurch gelöst oder wenigstens gewaltig gelindert würde, wenn es weniger Menschen gäbe.“ (293)
Nun, das ist recht schlecht möglich. Eine Lösung ist wohl nicht in Sicht, weswegen er hingeht und wenigstens das Wenige zu tun versucht, das er zu tun vermag. Auch wenn dies hoffnungs- und sinnlos erscheint:
„„Was wir in unserem kleinen Rahmen jetzt tun könnten, um ein wenig Natur zu retten und eine gewisse Lebensqualität zu bewahren, wird von den schieren Zahlen erdrückt werden, denn die Menschen können zwar ihre Verbrauchergewohnheiten ändern – das kostet Zeit und Mühe, aber es geht -, doch wenn die Bevölkerung weiterwächst, wird nichts von dem, was wir tun, etwas ausrichten können. Und trotzdem spricht niemand öffentlich über das Problem. Obwohl es auf der Hand liegt und uns umbringt. (293)
Da es sich bei Freiheit um einen Roman handelt und bei Walter um eine fiktive Figur, kann man natürlich wieder hervorragend die Frage stellen, inwiefern die Meinung des Autors eingeflossen ist. Ob er wirklich so extreme Ansichten hat. Ob er genauso denkt wie seine Figur. Ob er gar mit seiner Figur identisch ist.
Aber all dies würde nirgendwohin führen. Denn Franzens persönliche Meinung kennen wir nicht, wir wissen nur, was er getan hat: er hat aufmerksam gemacht. Er hat alle seine Leser auf der ganzen Welt auf die Problematik hingewiesen. Keiner der Leser des Romans konnte sich dem entziehen, es ist unmöglich, die Stellen kurz zu überfliegen, sind sie doch eng in einem der Protagonisten angelegt.
Und so hat Jonathan Franzen nicht nur einen „großen amerikanischen Roman“ geschrieben, er hat noch mehr getan. Er hat seine Leser gezwungen, sich mit Umweltthemen und der Überbevölkerung auseinander zu setzen, was wohl gerade in den USA nicht immer gern gesehen worden sein dürfte. Aber auch mich hat es sehr, sehr nachdenklich gemacht. Nicht, dass ich Lösungen hätte. Nicht, dass Walter und somit wohl auch Jonathan Lösungen hätten. Aber vielleicht gibt es ja jemanden. Der sich Gedanken macht und Vorschläge hat. Das wäre großartig.
Jonathan Franzen: Freiheit. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2012. OA: Freedom. Farrar, Straus and Giroux, New York 2010. 731 Seiten.
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