Buch #42: Doris Lessing – Das goldene Notizbuch

Doris Lessing wurde 1919 als Doris May Tayler in Kermanschah (Iran) geboren. 1925 zog ihre Familie von Persien nach Südrhodesien, dem heutigen Simbabwe, wo sie ein hartes Leben auf dem Land führte. Den Besuch der Klosterschule brach Doris Lessing im Alter von 14 Jahren ab. Sie hatte eine schwierige Kindheit, die sich in ihren Texten widerspiegelt. 1939 heiratete sie Frank Charles Wisdom, von dem sie 1943 geschieden wurde, und 1945 heiratete sie den deutschen Emigranten Gottfried Lessing, dessen Namen sie auch nach der Scheidung 1949 beibehielt.  Das goldene Notizbuch stammt aus dem Jahr 1962 und gilt gemeinhin als ihr Hauptwerk, auch wenn Doris Lessing selbst die Romane des Zyklus Canopus in Argos als ihr Hauptwerk bezeichnet. Sie erhielt zahlreiche Preise, darunter 2007 den Nobelpreis für Literatur.

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Das goldene Notizbuch beinhaltet eine Handlung auf mehreren Ebenen. Die Rahmenhandlung mit dem Titel „Ungebundene Frauen“ besteht aus fünf Teilen und erzählt die Geschichte der Schriftstellerin Anna Wulf. Sie ist geschieden und hat eine Tochter, ihre Freundin Molly, mit der sie zeitweise unter einem Dach lebt, ist ebenfalls geschieden und hat einen Sohn. Anna und Molly führen lange Gespräche über ihre Sicht der Welt und ihre Probleme als „ungebundene Frauen“, mit den Kindern, mit der Umgebung, mit den Ex-Ehemännern und mit den Männern, die sie kennenlernen. Anna hatte eine fünf Jahre währende Beziehung mit Michael, der sie verlassen hat, was sie nie ganz verwinden konnte. Die beiden Frauen leben in einer Welt, in der ungebundene Frauen gesellschaftlich nicht geachtet sind, aber diese Gesellschaft meiden sie größtenteils. Aber auch wenn sie nicht bereit sind, sich auf ein Leben als Ehefrau, als Anhängsel, als Haushälterin und Mutter einzulassen, ist ihre größte Hoffnung doch immer noch, den Mann zu finden, den Mann, der sie so nimmt, wie sie sind, und sie ihr eigenständiges Leben leben lassen.

Anna hat einen erfolgreichen Roman geschrieben über ihre Zeit in Afrika, als sie dort als junge Frau mit der Kommunistischen Partei versucht hat, dem Volk zu helfen. Dies ist ihr einziger Roman, sie leidet unter einer Schreibblockade. Diese rührt zum Teil daher, dass es ihr als Schriftstellerin unmöglich ist, eine Figur als komplexes Wesen mit all seinen Facetten darzustellen. Daher beginnt sie, vier Notizbücher zu führen. Jedes Notizbuch soll eine Facette ihrer Persönlichkeit behandeln. So will  sie sich selbst als Person in ihrer Ganzheit erfassen.

Das schwarze Notizbuch ist der Zeit in Afrika gewidmet, ihren Erlebnissen dort, die zu ihrem Roman „Frontiers of War“ geführt haben. Sie ist als  Mitglied einer Gruppe von Kommunisten damit beschäftigt, die Bevölkerung zu informieren, sie etwas zu „lehren“, sie in ihrer Entwicklung voranzubringen. Doch ist die Gruppe aus so unterschiedlichen Mitgliedern besetzt, dass allein ihre Dynamik Herausforderung genug ist. Der Rassismus sitzt tief in der Bevölkerung, und die Weißen durch die Unterstützung der Schwarzen aufzubringen, mündet letztendlich in einer Katastrophe. Aber nicht nur ihre Zeit in Afrika wird beschrieben, auch die Entwicklung nach dem Erscheinen des Romans und seine Rezeption werden erfasst.

Das rote Notizbuch erzählt von ihren Erfahrungen mit dem Kommunismus bzw. der Kommunistischen Partei. Für diese ist sie nicht nur in Afrika, auch zurück in London bleibt sie ihr treu, tritt sogar ein. Doch nach und nach beginnen Zweifel zu nagen, Zweifel an Russland, dem Mutterland des Kommunismus, Zweifel an der KP in England und Zweifel an ihrem Tun, an der Sinnhaftigkeit und daran, ob sie etwas bewirkt. Dazu kommt der Preis, den sie zahlen muss: der Kampf, ihren Idealismus angesichts der Geschehnisse in Russland und Afrika aufrecht zu erhalten, das wachsende Misstrauen der Bevölkerung gegen die Partei und ihre Mitglieder, und der geringer werdende Glauben an die Partei.

Das gelbe Notizbuch befasst sich mit Annas aktueller Arbeit als Schriftstellerin. Ihre Überlegungen und ihre Erlebnisse verarbeitet sie in einem Text über „Ella“, ihr Alter Ego. Ella lebt ebenfalls alleine, hat eine enge Freundin, im Gegensatz zu Anna einen Sohn (der den Namen von Annas großer Liebe, Michael, trägt), und im Grunde genommen hat sie die gleichen Probleme wie Anna.

Das blaue Notizbuch ist eine Art Tagebuch, über lange Strecken nur mit Zeitungsartikeln oder Überschriften beklebt. Es beinhaltet aber auch den Versuch, ihren Tagesablauf minutiös wiederzugeben, in der Hoffnung, das Erleben genau so darzustellen, wie es erlebt wurde. Es ist aber am Ende doch nur eine Aufzählung von Tätigkeiten, Tagesabläufen in all ihrer Banalität.

Der Versuch, ihre Persönlichkeit in ihre Facetten aufzuteilen, scheitert. Es ist Anna unmöglich, alles aufzunehmen, die Person als komplette und komplexe  Person darzustellen. Dazu kommt, dass sie einen Mann als Untermieter aufnimmt, der an einer gespaltenen Persönlichkeit leidet. Er ist quasi das, was sie in ihren Notizbüchern versucht hat zu erreichen. Sie wollte sich aufspalten, er ist aufgespalten, und mehr noch, er lebt jede dieser Persönlichkeiten voll aus. Das macht ihn kaputt, und es zerstört auch fast Anna. Sie sieht, dass die Notizbücher ihr Ziel nicht erreichen, und schließt alle mit einem dicken schwarzen Strich ab.

Nun lässt Anna wieder alle Handlungsstränge, alle Lebensbereiche, alle Persönlichkeiten zusammenfließen, im Goldenen Notizbuch. Sie wird wieder eine Person. Der Roman schließt dann mit dem letzten Teil von „Ungebundene Frauen“ ab.

Es ist also ein sehr komplexer Roman, der viele Aspekte abhandelt. Die verschiedenen Erzählebenen sind dazu da, die Schwierigkeit herauszuarbeiten, das Leben in seiner Komplexität zu beschreiben. Es finden sich viele Reflexionen darüber, wie schwierig dieser Vorgang ist. Aber dies ist nicht alles.

Der Roman wurde lange Zeit als Manifest für den Feminismus gebraucht, auch wenn Doris Lessing sich ausdrücklich dagegen wehrt, nur diese eine Sichtweise zu sehen. Allerdings beinhaltet er sehr ausdrücklich Frauenthemen, vom weiblichen Orgasmus über die Menstruation, von der Schwierigkeit, sich als Frau zu behaupten und das Leben zu leben, das man möchte, ohne in der Abhängigkeit eines Mannes zu sein, vielmehr mit ihm auf gleicher Höhe. Wie schwierig es manchmal ist, alleine zu sein, sich nicht auf einen faulen Kompromiss einzulassen, um diese Einsamkeit zu beenden. Oder wie man sich auf einen faulen Kompromiss einlässt, um von den Männern als „exotisches Wesen“ angesehen zu werden, eine Frau, die gut fürs Bett ist, die interessant und spannend ist, die man jedoch nicht in seinem Heim an seiner Seite haben möchte. Oder, wenn die Einsamkeit zu groß wird, oder man sich doch verliebt, die unglaubliche Einfachheit, mit der man sich selbst aufgibt, seine ganze Persönlichkeit dem Mann zu Füßen schmeißt, der, wenn er ihrer überdrüssig ist, sie mit eben diesen Füßen tritt.

Auch sucht Anna eine Psychiaterin auf, von der sie sich einerseits Hilfe erhofft, deren Hilfe sie aber auch immer wieder verweigert. Es ist ein Kampf zwischen diesen beiden Frauen, der den Kampf Annas mit sich selbst widerspiegelt, ihren Problemen, ihren Ängsten.

Dann wird auch noch das Feld der Politik behandelt, der Idealismus, der sich als hohl entpuppt, die Versuche, zu helfen, die im Nichts verlaufen. Auch hier findet eine lange Entwicklung statt, die ein wichtiger Teil von Annas Persönlichkeit ist.

Bestimmt habe ich jetzt noch einiges vergessen, aber das ganze ist auch so schon komplex genug. Aber jetzt kommt der Clou: ich habe mich unglaublich schwer getan mit dieser Rezension, da mir nicht gelingen wollte, diese Komplexität mit der Leichtigkeit von Doris Lessing wiederzugeben. Die über 800 Seiten sind nämlich in einer leichten und angenehmen Sprache verfasst, durch die Abgrenzung in die verschiedenen Ebenen behält man immer den Überblick, und Doris Lessing, die das Verfassen dieses Romans für sich selber als „eine Art Ausbildung“ beschrieben hat, die „ihr Denken über Literatur tief greifend und nachhaltig verändert hat“ (Nachwort, S. 839), vermag es, den Leser mit Leichtigkeit in den Bann zu ziehen. Dabei stellt sie ganz nebenbei essentielle Fragen, die mich noch jetzt grübeln lassen.

Der Roman spielt hauptsächlich in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, aber wieviel hat sich an der Rolle der Frau wirklich geändert? Wie viele Frauen haben immer noch lieber die Sicherheit, auch wenn sie dafür einen Kompromiss eingehen müssen? Wie viele Frauen warten nur darauf, weggeheiratet zu werden, und wie viele Männer wollen wegheiraten, aber trotzdem noch „Spaß“ haben?  Wie hat sich das Bild der Hausfrau und Mutter wirklich verändert, wo es doch so schön einfach ist, sie als „gering“ abzutun, weil sie nicht arbeiten, und die arbeitenden Frauen als „gering“, weil es ihnen so schwer gemacht wird, Hausfrau und Mutter zusätzlich zu sein? Wie sieht es mit dem Idealismus aus, dem Willen und dem Kampf, etwas zu verändern? Ist es eher möglich heutzutage, aktiv etwas zu tun, oder noch unmöglicher?

Es gibt noch eine Menge mehr Fragen, die ich aber jedem empfehlen möchte, für sich selbst herauszufinden, und sich selbst zu stellen. Mich hat dieser Roman umgehauen, ich habe es zugleich als tröstlich und verstörend empfunden, dass sich Frauen vor fünfzig Jahren, als die Emanzipation erst ins Rollen kam, die gleichen Fragen stellten wie ich es heute oft tue. Dass viele alleinstehenden Frauen als mindestens „merkwürdig“ angesehen werden, weil sie keine Kompromisse mit ihrem Leben eingehen. Ich schreibe und schreibe, und habe noch nicht einen Bruchteil dessen ergriffen, was ich eigentlich alles loswerden möchte. Daher nun nur noch die Empfehlung: lesen und etwas daraus lernen!

Doris Lessings Reaktion auf den Gewinn des Nobelpreises.

Doris Lessing: Das goldene Notizbuch. Aus dem Englischen von Iris Wagner.