Buch #33: Louis-Ferdinand Céline – Reise ans Ende der Nacht

In seinem Nachwort schreibt der Verfasser der neuen Übersetzung, Hinrich Schmidt-Henkel, Folgendes:

Louis-Ferdinand Céline zwingt jeden Leser in die paradoxe Urteilsspannung zwischen Bewunderung für den Stilisten, den Revolutionär der Literatur, und Erschrecken über die blindwütige, menschenverachtende Hetze, deren er fähig war. Diese Spannung wird immer bestehen bleiben. Auch der amerikanische Romancier Philip Roth löst diesen Zwiespalt nicht, er erträgt ihn aber: „Um die Wahrheit zu sagen: Mein <Proust> in Frankreich, das ist Céline! Er ist wirklich ein sehr großer Schriftsteller. Auch wenn sein Antisemitismus ihn zu einer widerwärtigen, unerträglichen Gestalt macht. Um ihn zu lesen, muss ich mein jüdisches Bewusstsein abschalten, aber das tue ich, denn der Antisemitismus ist nicht der Kern seiner Romane (…) Céline ist ein großer Befreier.“

Auch ich habe mir so einige Gedanken darüber gemacht, ob es „in Ordnung“ ist, einen Roman von einem anscheinend ziemlich abscheulichen Menschen, der antisemitische Manifeste während des 2. Weltkriegs verfasste und mit den Nazis geflirtet hat, der ein Kollaborateur war – ob es in Ordnung ist, einen Roman von diesem Menschen gut zu finden. Hier kann jetzt eine lange Diskussion entstehen, ob der Autor und sein Werk identisch sind, ob man ein Werk unter Berücksichtigung aller Aspekte beurteilen soll usw. Wenn dem jedoch so ist, muss ich sagen, dass der Roman 1932 entstanden ist und keine antisemitische Haltung vermuten lässt (die dann vermutlich erst später kam). Dennoch hat der Roman autobiographische Bezüge, und ich nehme an, dass Ferdinands Sicht auf den Krieg ähnlich der Célines ist, und diese ist so ziemlich das Beeindruckendste, was ich je gelesen habe. Kurz: Ich halte nicht viel von der Person Céline (so weit ich über ihn informiert bin), aber ich habe beschlossen, Person und Werk zu trennen.

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Die Reise schildert die Erlebnisse von Ferdinand Bardamu. Er erzählt in der ersten Person und bedient sich einer „authentischen“ Sprache. Die Erzählung setzt ein zur Zeit des 1. Weltkriegs, und der noch nicht 20jährige Ferdinand schließt sich in der anfänglichen Kriegsbegeisterung den Truppen an. Schnell jedoch lernt er, dass am Krieg nichts romantisch oder heldenhaft ist, er will niemanden töten und nicht getötet werden. So laufen alle seine Bemühungen darauf hinaus, dies zu vermeiden und am Leben zu bleiben.

Er schildert den Krieg als eine Kakophonie der Idiotie, was durch den Gebrauch der Sprache eines durchschnittlichen Jungen unglaublich authentisch und eindrucksvoll ist. Eines Tages dreht er durch vor Angst, kommt in eine Psychatrie, die ihn wieder „patriotisch“ und kriegslustig machen soll. Doch er kann seine Angst nicht ablegen, auch nicht mit Hilfe von Elektroschocks und ähnlichen Behandlungen, die sein Gehirn nicht unbeschadet zurücklassen.

Dann ist der Krieg vorbei (man erfährt nicht, wie Ferdinand sich aus der Affaire gezogen hat), und Ferdinand macht sich auf den Weg nach dem Kongo, einer französischen Kolonie. Hier soll er im Dschungel die Zweigstelle eines Handelsunternehmens leiten, doch alles, was im Kongo abläuft, scheint nur eine Parodie des „normalen“ Lebens zu sein. Sein Vorgesetzter lässt zum Beispiel junge Eingeborene jeden Tag zum Appell antreten – wovon diese keine Ahnung haben und wofür keinerlei Grund besteht. Das ganze Leben hier ist surreal, heiß, von Insekten geplagt und von Krankheiten durchsetzt. Als Ferdinand schließlich auf seinem Handelsposten anlangt, findet er nicht mehr als eine Hütte vor, die kurz vorm Zusammenbruch steht.

Hier löst er Robinson ab, den er während des Krieges eines Nachts in Belgien traf, und den er auf seinem Weg immer wieder treffen wird. Am Ende wird dieser Robinson mehr oder weniger sein einziger Freund sein, wenn man dies als Freund begreifen darf. Am nächsten Morgen ist Robinson verschwunden. Ferdinand wird von einem Fieber befallen, und die Eingeborenen bringen ihn in ein Kloster, von wo er an eine Galeere verkauft wird, mit der er schließlich nach New York rudert.

Die Reise ans Ende der Nacht, die eigentlich die Reise auf dem Weg zum Tod ist, geht weiter. Wir folgen Ferdinand von Amerika zurück nach Frankreich, wo er schließlich Arzt wird; aber seine Reise geht immer nur durch die Nacht. Kein Glück, Wohlstand, kein noch so klitzekleiner Happen vom großen Kuchen stehen für ihn bereit. Er hadert mit sich, der Gesellschaft, dem Leben; und es führt ihn doch nirgendwo hin.

Der Klappentext sagt, dies sei „der erbarmungsloseste Roman des 20. Jahrhunderts“. Dies kann ich nicht beurteilen. Aber es ist der erbarmungsloseste Roman, den ich bisher gelesen habe. Bedenkt man, dass er 1932 erschienen ist, kann ich mir vorstellen, wie schockiert die Menschen gewesen sein müssen. Ferdinand nimmt kein Blatt vor den Mund, er schildert die Dinge, wie er sie sieht, erlebt, empfindet. Seine Erkenntnis ist diese:

„Weil ich die Menschen noch nicht kannte. Ich werde nie mehr glauben, was sie sagen, was sie denken. Vor den Menschen, vor ihnen allein muss man Angst haben, immer.“ (21)

und:

Die größte Niederlage bei alldem liegt darin, zu vergessen, vor allem das, was einen hat krepieren lassen, und darin, zu krepieren, ohne je zu begreifen, wie namenlos niederträchtig die Menschen sind. Wenn es einst in die Grube fahren heißt, können wir keine großen Töne mehr spucken, aber wir dürfen trotzdem nichts vergessen, wir müssen aufs Wort genau erzählen, was das Widerwärtigste war, das wir bei den Menschen gesehen haben, dann gibt man den Löffel ab und runter gehts. Genug Arbeit für ein ganzes Leben ist das.“ (33/34)

Céline geht durch alle Gesellschaftsschichten, und an keiner lässt er ein gutes Haar. Seine Welt ist die Aufführung eines absurden Theaterstücks, und nach der Lektüre betrachtet man die Welt anders. Auch wenn das Buch heute nicht mehr so zu schockieren vermag – ich glaube nicht, dass es heute geschrieben werden könnte. Das Theater hat sich verändert. Die Political Correctness lässt uns kein falsches Wort mehr sagen anstelle der Klassenzugehörigkeit; die Militärhierarchie ist einer Arbeitswelthierarchie gewichen; die Verdummung der Menschen geschieht nicht aus der Unmöglichkeit einer Schulbildung sondern aus freien Stücken; die „Aufschreier“ sind verloren gegangen zugunsten einer homogenen Masse, die homogen aussieht und einen homogenen Geschmack hat; kurz: es ist ein anderes Theaterstück, das auf der Bühne gespielt wird, aber es ist nicht unbedingt besser. Und sich daraus befreien zu wollen ist genauso aussichtslos und vergebens.

Céline hat mich bei meinen Eingeweiden gepackt und kräftig durchgeschüttelt. Er hat meine Augen für Dinge geöffnet, von denen ich nicht sicher bin, ob ich sie sehen möchte. Denn dann befindet man sich auch in der Nacht, und hat Gedanken, die einen zum Außenseiter machen. Er reißt den Leser aus der Lethargie, in die man ja doch immer wieder verfällt, er macht unruhig und wütend.

Und ich würde mir wünschen, dass dies Buch Schul- oder doch wenigstens Universitätslektüre würde, in der Hoffnung, vielleicht ein paar nicht gleichgeschaltete Menschlein zu erschaffen. So kann ich lediglich Euch allen ans Herz legen, dies Buch zu lesen. Aber seid gewarnt: Es tut weh.

Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.