Nell Zink – Das Hohe Lied

Aufmerksam geworden bin ich auf „Das Hohe Lied“ durch diesen Beitrag, der mich sofort nach diesem Roman recherchieren ließ. Ja, das hörte sich genau nach meiner Wellenlänge an. Und so war es auch.

Nell Zink erzählt in „Das Hohe Lied“ von drei jungen Leuten, Pamela, Daniel und Joe, die sich in den 80ern in New York kennenlernen und beginnen, gemeinsam Musik zu machen. Sie sind große Punk-Fans, aber keine großen Musiker. Pam und Daniel verlieben sich ineinander, Pamela wird schwanger. Sie beschließen, ungeachtet ihrer Jugend und des Geldmangels, Flora zu bekommen.

Pamela ist von zu Hause abgehauen, braucht also Geld, und wird trotz mangelnden High-School-Abschlusses Programmiererin in einer kleinen Firma. Die 90er bringen ein gutes Einkommen für gute Spezialisten. Daniel arbeitet in einer Zeitarbeitsfirma. Sie wohnen in einem illegalen, abbruchreifen Loft, das sie zeit ihres Lebens begleiten wird. Sie sind zufrieden mit ihrer Situation, nehmen die Welt, wie sie sich ihnen bietet, streben nicht nach Materiellem. Daniel eröffnet ein kleines Label, und sie ziehen durch die Clubs, und schließlich geschieht ein kleines Wunder: eines von Joes Liedern entwickelt sich zu einem Hit.

Fortan lebt Joe zwei Leben: eines als Babysitter Floras, der er eine Welt jenseits der üblichen Denkmuster eröffnet, eines als Rockstar, in der er Drogen und falschen Freunden (in dem Fall einer sehr falschen Freundin) auf den Leim geht. Dennoch läuft alles gut für die drei, bis der 11. September alles ändert.

Daniel und Pam fahren mit Flora zu Pams Eltern nach Washington, die ihr von nun an ein geregeltes, gesichertes Leben bieten. Flora, nun geerdet, mit einer guten Ausbildung, wächst in der Social-Media-Generation heran, mit allen Höhen, Tiefen und Chancen, die diese zu bieten haben. Sie engagiert sich in der Green Party, einer Partei, die neben den demokratischen und konservativen Riesen eine nur minimale Rolle spielt, die aber den Optimismus ihrer Generation spiegelt, der mit dem Wahlkampf Trumps und allem, was danach folgt, einen herben Rückschlag erleidet. Und nicht nur hier wird Floras Unsicherheit gespiegelt, auch in einer sehr persönlichen Frage muss sie sich entscheiden. Können ihr die Personen in ihrem Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, helfen?

Nell Zink hat mit „Das Hohe Lied“ den Zeitgeist genau getroffen. Kurz vor der historischen Wahl, die mehr als jede zuvor zwei so unterschiedliche Richtungen vorgibt, schreibt sie über die Illusionslosigkeit und die Ich-bin-dagegen-Mentalität der 80er Jahre und leitet bis zur Wer-am-lautesten-brüllt-hat-Recht-Mentalität der Gegenwart. Ganz nebenbei führt sie den Leser durch die Ereignisse der letzten 40 Jahre, von der Untergrundbewegung der 80er und das Aufkommen des Grunge über die Bankenkrise bis hin zur Wahl des Mannes ohne Gewissen.

Sie zeigt Mainstream-Culture ebenso wie Subkulturen, Individualität vs. Angepasstheit, Sich-Arrangieren und Aufbegehren. „Das hohe Lied“ ist ein Roman über unterschiedliche Lebensentwürfe, dem (Weiter)Leben mit Verlusten und dem Festhalten an Hoffnung. Es ist ein unbedingt zu empfehlendes Stück Zeitgeschichte und passt perfekt in diese merkwürdige Zeit rund um die Wahlen am 3. November und allem, was dann folgen mag. Und nicht zuletzt ist es ein Roman mit glaubhaften Figuren, die man schnell ins Herz schließt und deren Schicksal man unbedingt verfolgen möchte.

Nell Zink: Das Hohe Lied. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg 2020. OA: Doxology. Ecco Press, Harper Collins, New York 2019. 509 Seiten.

Ich danke dem Rowohlt Verlag für das Rezensionsexemplar. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Eine weitere Besprechung gibt es bei literaturleuchtet.

Kathryn Stockett – Gute Geister (The Help)

Der Roman

Kathryn Stocketts Roman Gute Geister (The Help) ist im amerikanischen Süden, in Jackson, Mississippi, angesiedelt. Er erzählt von einer für damalige Verhältnisse ungehörigen Begebenheit, aus der Sicht von drei Frauen. Auch wenn die Sklaverei lange abgeschafft ist, herrschen im Grunde die gleichen Verhältnisse, außer dass die Hilfen für nicht ganz den Mindestlohn arbeiten. Zwei dieser Hilfen, Aibileen und Minny, erzählen der weißen Skeeter ihre Geschichten. Ihre drei Perspektiven wechseln sich ab.

Aibileens Perspektive eröffnet den Roman, sie beschreibt einen ihrer Arbeitstage und sinniert über die weißen Kinder, die sie großgezogen hat und großzieht, nach. Ihr eigener Sohn ist bei einem Unfall gestorben. Nicht, dass sie sich ihre Trauer anmerken lassen dürfte. Ihre beste Freundin ist Minny, eine ausgezeichnete Köchin, die für die Mutter von Miss Hilly arbeitet, bis Hilly diese ins Altenheim verfrachtet und Minny für sich selbst will. Als Minny ablehnt, verbreitet Hilly Gerüchte über sie, so dass sie keine neue Anstellung mehr findet. Miss Hilly sitzt nun mit Elizabeth Leefolt, Aibileens Arbeitgeberin, und Skeeter in Miss Leefolts Haus und spielt Bridge. Hilly eröffnet ihnen ihre neueste Idee: jede Hilfe muss eine eigene Toilette haben.

Minny, nun arbeitslos nach der Episode mit Hilly, hat wenig Erfolgsaussichten, einen neuen Job zu finden. Durch einen Zufall (ein bisschen nachgeholfen) landet sie bei Celia Foote, die den Mann heiratete, der einst Hillys Freund war. Sie wird von allen geächtet. Aber das ist nicht das einzige, was sie belastet. Zunächst mal kann sie nicht kochen, und Minny wird ihre Lehrerin. Und kommt langsam aber sicher hinter das Geheimnis, das Celia umgibt.

Skeeter hat ihre College-Zeit beendet und wurde nicht „weggeheiratet“. Nun ist sie wieder in ihrem Jugendzimmer und sucht nach ihrem Platz im Leben, stets begleitet vom Konzert ihrer Mutter über all ihre Unzulänglichkeiten. Ihre besten Freundinnen sind Hilly und Elizabeth, die sie gerne verkuppeln möchten, was aber nicht so ganz funktioniert. Skeeter sucht sich einen Job bei einer Zeitung, doch das Beste, was sie als Frau, noch dazu frisch vom College, bekommen kann, ist eine Haushaltskolumne. Kein Problem, sie hat ja nicht ihr Leben lang alles von den Hilfen abgenommen bekommen. Nun bittet sie also Aibileen um Hilfe. Für ihre Kolumne.

Und so kommt die Konstellation zustande, die dann im weiteren Verlauf dazu führt, dass Skeeter, um ihre Karriere voran zu bringen, Aibileen und Minny und noch einige andere Frauen fragt, ihr von ihrem Leben als „The Help“ zu erzählen. Es sind die sechziger Jahre, Martin Luther King wird schon bald von einem Traum sprechen, aber dieser ist bis jetzt nicht erfüllt. Die Realität der Schwarzen in Jackson besteht aus versehrten Körpern und Seelen, weil sie irgendeine Weißenregel missachtet haben.

Je mehr dieser Versehrungen stattfinden, umso mehr Geschichten kommen zutage. Diese sind nicht immer schlecht, aber die meisten sprechen eine eindeutige Sprache. Und sind damit brandgefährlich für alle Beteiligten. Als das Buch schließlich erscheinen soll, muss eine Sicherheit her. Doch kann es die geben?

Der Roman The Help hat mir gut gefallen. Ich habe in letzter Zeit angefangen, mich mit der Black Lives Matter – Bewegung und auch mit Feminismus zu beschäftigen, wobei ich noch unendlich viel lernen muss, und in dieser Hinsicht hat er schon einiges zu bieten. Es handelt sich um eine Geschichte, die ausschließlich aus weiblichen Perspektiven behandelt wird, und zwei dieser Perspektiven sind die von Schwarzen Frauen.

Ich schaue den Film

Ich habe die Buchausgabe mit den Schauspielerinnen der Verfilmung auf dem Cover, ich weiß, dass Octavia Spencer den Oscar für die beste Nebendarstellerin bekommen hat. Nach Beenden des Buches sehe ich mir den sehr erfolgreichen Film an, ich bin neugierig auf die Umsetzung der Perspektiven und ob es geschafft wird, die Stimmen so stark zu machen wie im Buch.

Natürlich nicht. Klar ist von vornherein, wie natürlich bei jeder Verfilmung: der Roman hat 600 Seiten, gekürzt wurde ausgiebig. Aber Kürzen muss nicht unbedingt vereinfachen heißen, was jedoch hier fast überall getan wurde. Lächerlich ist Skeeters Lernkurve, die erstaunten Augen, wenn sie anfängt zu begreifen, was um sie herum geschieht, oder wie die Realität für die anderen Frauen aussieht. Vereinfachung ist hier überhaupt das Wort: Allison Janney, die Skeeters Mutter verkörpert, ist in dieser Rolle, die auch vereinfacht und am Ende unglaublich beschönigt wird, eine absolute Fehlbesetzung. Skeeters Herrenprobleme sind im Film vollkommen überflüssig, und Celias Geheimnis wird auch nur in eine Disney-Version verpackt. Was zur Folge hat, dass diese absolut unangemessene Endszene mit ihr und Minny zustande kommen konnte.

Die starke Vereinfachung geht natürlich auch an Aibileens Figur nicht vollkommen vorbei, aber sie kommt tatsächlich glaubhaft und nachvollziehbar an. Insgesamt gibt es viele schöne Bilder und eine „schöne“ Atmosphäre, aber diese täuschen nicht darüber hinweg, dass Probleme nur angedeutet werden und die Gefahren und Ängste quasi nicht stattfinden.

Ich lese den Essay von Roxane Gay

Parallel zu Gute Geister lese ich den Essayband Bad Feminist von Roxane Gay. Dieser enthält auch einen Essay zu – hauptsächlich – der Verfilmung. Ich hebe mir diesen auf, bis ich das Buch beendet und den Film gesehen habe, damit ich mir selbst ein Bild machen und dann eine andere Meinung einholen kann. Und diese ist anders. Sie sieht zum ersten das Problem, dass eine weiße Frau über Schwarze Frauen schreibt, die aber keine Ahnung hat von dem, wie es wirklich war und so immer nur in der Lage sein wird, eine beschönigte Version wiedergeben zu können.

Gay spricht von der Figur des Schwarzen in Filmen, der auftritt, um dem Protagonisten die weisen Eigenschaften zu verleihen, die er oder sie braucht, um weiterzukommen (Gay, S. 272). Siehe „Ghost – Nachricht von Sam“, „Robin Hood, König der Diebe“ oder „The Green Mile“. Hier tut Aibileen dies für Mae Mobley, Elizabeths ungeliebte Tochter. Skeeters problematischer Umgang mit dem „Erlernten“, das eigentlich so offensichtlich für sie sein sollte, ist ein weiteres Problem. Auch, dass sie sich nicht darüber im Klaren ist, wie sehr sie die Frauen gefährdet, und am Ende auf ihre Stelle verzichten will, um sie zu „beschützen“, ist schwierig.

Die Probleme mit dem Dialekt, der den Schwarzen Frauen gegeben wurde, kann ich nicht beurteilen, da ich den Roman in der deutschen Fassung gelesen habe und auch bei der englischsprachigen Filmversion keine Ahnung habe, ob das authentisch ist oder nicht. Da muss ich ihr glauben. Viele ihrer Punkte konnte ich nachvollziehen, bei einigen hatte ich einige Schwierigkeiten damit.

Der Essay von Roxane Gay war eine hilfreiche Erfahrung für mich, zu überprüfen, wie ich Dinge wahrnehme und was ich als selbstverständlich annehme oder ohne weiteres Nachdenken hinnehme. Ich sehe, ich habe noch einiges zu tun, um Dinge anders einschätzen zu können, aber der Lernprozess läuft.

Kathryn Stockett: Gute Geister. The Help. Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2012. OA: The Help. Amy Einhorn Books/Putnam, New York, 2009. 605 Seiten.

Roxane Gay: Bad Feminist. Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Spielmann. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2019. OA: Bad Feminist. Harper Perennial, New York, 2014. 414 Seiten.

Gloria Steinem – Aufbruch

Ich stand also da in der Buchhandlung und hatte bereits fünf Bücher in der Hand, die mir ins Einfinden in die feministische Literatur helfen sollten, da fielen mir ein pinkes Buch ins Auge und dieses hier, das auf den ersten Blick nicht viel damit zu tun haben scheint. Aber ich nahm diese beiden und brachte die anderen wieder an ihren Platz zurück. Zum Glück (erstmal, die anderen sind ja nicht vergessen).

Aufbruch – das soll es wohl auch für mich sein, denn ich denke, ich habe hiermit die beste Wahl getroffen, einen Einstieg zu finden. Gloria Steinem gibt hier einen Bericht über ihr Leben und ihre Reisen ab, von ihrer Kindheit mit einem Vater, der als Antiquitätenhändler durch die Lande tingelte, bis 2015, als dieses Buch erschien.Es umfasst also achtzig Jahre des Reisens, des Kennenlernens von Land und Leuten, der Begegnungen, die sie nachhaltig geprägt haben.

Als Kind, mit einem derart rastlosen Vater, der nie lange an einem Ort sein konnte, wünschte sie sich ein festes Zuhause. Dennoch hat ihr Vater sie so sehr geprägt, dass sie, als sie nach ihrem Studium nach Indien fuhr, dort auch durch die Lande zog, und seitdem zwar ein Heim hat, aber nie lange dort ist. In Indien machte sie ihre ersten Erfahrungen damit, was es bedeutet, durch ein Land zu Reisen, abseits von touristischen Pfaden, Reiseführern, geleiteten Touren, sondern sich auf Land und Leute einzulassen.

Seitdem tut sie genau das: sie reist – hauptsächlich in den USA – durch das Land, und das Wichtigste, was sie von jeder Reise mitnehmen will, sind die Erzählungen der Menschen. So hat sie selten das Flugzeug genommen, sondern fuhr mit dem Zug, Unmengen an Taxis, mit Freiwilligen, die sie abholten und irgendwo hin brachten. Und diese Menschen hat sie nach ihren Geschichten gefragt, nach ihren Erlebnissen, nach Gedanken zu Aktuellem oder Traditionen, nach dem, was für sie wichtig ist.

Diese Berichte trägt sie hier zusammen (es ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt, sie hat wohl so viele Menschen getroffen). Und ich habe sie voller Faszination und, ja, Dankbarkeit gelesen. So viele Stimmen, von denen ich sonst nie gehört hätte, so viele Erfahrungen, von denen ich nie gelesen hätte, so viele neue Gedanken, die ich sonst nie hätte haben können – das hat mir dieses Buch gegeben.

Sie setzt sich nicht nur intensiv mit dem Feminismus auseinander, mit den Menschen, die mit ihr zusammen gekämpft haben und kämpfen, sondern auch mit der Kultur der Ureinwohner, von denen sie viele getroffen hat. Und so viele Menschen haben sich ihr geöffnet, ihre Geschichten erzählt, mit ihr Projekte initiiert, Ungerechtigkeiten bekämpft. Sie muss schon ein bemerkenswerter Mensch sein.

Sie steht für den intersektionalen Feminismus ein, und erzählt von Freunden und Wegbegleitern, die sich nicht wie sie „nur“ mit Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts auseinandersetzen mussten und müssen. Sie berichtet von diesen Menschen und ihren Kämpfen, und bringt sie der Leserin nahe. Sie hat sich immer für eine bessere Welt eingesetzt, und ich denke, sie hat dazu beigetragen.

Außerdem gibt sie zahlreiche Hinweise, sei es zur Literatur, zu Studien, zu Zeitungsartikeln, die zum Weiterlesen animieren, und dies bei dieser Leserin geschafft haben. Das Buch ist in sieben Kapitel aufgeteilt: In den Fußstapfen meines Vaters, Gesprächskreise, Warum ich nicht Auto fahre, Ein großer Campus, Wenn das Politische privat wird, Surrealismus im Alltag, Was einmal war, kann wieder sein.

Ich möchte es jedem ans Herz legen, denn es handelt sich hier nicht nur um eine Geschichte des Feminismus, sondern auch um eine Geschichte der USA der letzten Jahrzehnte, und es werden Perspektiven mit hineingenommen, die nicht selbstverständlich sind und normalerweise eher klein gehalten werden. Nach der Lektüre ist man reicher.

Gloria Steinem: Aufbruch. Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2019. OA: My Life on the Road. Random House, New York 2015. Leider nur 383 Seiten.

Kathleen Collins – Nur einmal

Kathleen Collins starb 1988 im Alter von 46 Jahren an Krebs. Ihre Tochter packte daraufhin all ihre Sachen in eine Truhe, die sie erst 18 Jahre später wieder öffnete. Und sie fand Theaterstücke, Drehbücher (Kathleen war Filmemacherin), Briefe, ein Tagebuch und Short Stories. Diese Short Stories sind in vorliegendem Band, Nur einmal, versammelt.

Sie zeichnen ein Bild aus den USA der 40er, 50er und 60er Jahre, als Kathleen aufwuchs. Ihre Themen sind die Jugend in den Vereinigten Staaten, als Kind der schwarzen Mittelschicht, das eine gute Bildung genoss, aber doch tagtäglich mit den Fragen nach der Hautfarbe und dem Geschlecht konfrontiert wurde.

Ihre Geschichten haben viele biographische Einflüsse, beschreiben ihre Kindheit ohne Mutter, ihre ersten College-Erfahrungen oder die ersten Männer. Sie sind traurig, sie sind lustig, sie sind fröhlich, und zum Teil sind sie atemberaubend. Man merkt ihr an, dass sie zur Zeit der Beat Generation aufgewachsen ist, ihre Experimente mit Techniken, ihre manchmal atemlose Sprache, das Nah-Am-Leben-Sein, Einflüsse stammen sicherlich daher.

Doch Kathleen Collins hat ihren eigenen Stil entwickelt, hat ihre Erfahrungen z.B. mit dem Filmemachen einfließen lassen, aus der sich Stories ergeben, die sich wie Drehbücher lesen, bei denen man den Film genau vor Augen hat.  Ihre Geschichten sind persönlich, es gibt sehr viel „Ich“, was vielleicht daran liegt, dass sie nie redigiert worden sind, aber ich finde sie genau so gut, genau deswegen. Sie nimmt uns mit in ihre Welt, die manchmal sehr, manchmal gar nicht unterschiedlich von unserer eigenen ist.

Und das ist das Erstaunliche an diesen Geschichten: man bekommt eine neue Erlebniswelt dazu, Einblicke in ein Leben und in eine Zeit, die „lange“ oder sogar „zu lange“ zurückliegen, und doch hat sich skandalös wenig geändert. Vieles aus ihrer Erlebniswelt ist sicher noch für junge Frauen heutzutage wahr. Und manches wird sich wohl nie ändern.

Dennoch sind ihre Geschichten heiter, haben einen positiven Grundton, klagen nicht an, sondern stellen dar, was die Intensität noch einmal erhöht. Ich habe sie sehr gerne gelesen, am Liebsten jedoch mochte ich die im Original titelgebende Story „Was ist nur aus der Liebe zwischen den Rassen geworden?“, die von einer jungen Frau im Jahre 1963 erzählt, dem Jahr, als alles möglich schien, der kurzen Zeit, als die Liebe keine Farben kennt. Diese Geschichte ist in schnellem Tempo verfasst, sie sollte eigentlich vorgetragen oder zumindest laut gelesen werden, um ihren ganzen Sog zu entwickeln.

Die anderen Geschichten haben mir ebenfalls sehr gut gefallen, aber diese ist so intensiv und so nah, dass ich sie sicher noch einige Male lesen werde. Sie sehen, werte Leser, ich empfehle diesen kleinen Band mit Short Stories sehr, sehr gerne und lege ihn allen ans Herz, die intensive Geschichten von Frauen, von Frauen und Männern, von Frauen und Vätern, von Frauen und Geschichte lesen möchten.

Kathleen Collins: Nur einmal. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg. Kampa Verlag AG, Zürich.2018.  OA: Whatever Happened to Interracial Love? Ecco/Harper Collins, New York. 2016. 188 Seiten.

Ich danke dem Kampa Verlag für das Rezensionsexemplar. Meine Meinung wurde in keiner Weise beeinflusst.

Michelle Obama – Becoming

Michelle Obama hat mit ihrer Autobiographie den Jahresbestseller 2018 geschrieben, und auch bei mir lag das Buch unter dem Weihnachtsbaum. Ich wollte mehr über diese Frau wissen, die sich so vielen Anfeindungen ausgesetzt sah und ihre Zeit als First Lady doch mit so viel Integrität, Würde und anscheinend auch Freude durchlebte.

Michelle Robinson wuchs in einem Vorort von Chicago auf, in einer Familie, die nicht reich an Geld, aber doch reich an Liebe war. Das betont sie immer wieder. Ihr Vater war sehr krank, beklagte sich jedoch nie und ging zur Arbeit, so lange es irgendwie ging. Ihre Mutter blieb zu Hause bei den Kinder, Michelle und ihrem älteren Bruder Craig, und focht so manchen Kampf mit ihnen und für sie aus. So z.B. als man Michelle in der zweiten Klasse in eine Abstellkammer von Schulklasse steckte mit der Prämisse, es lohne sich nicht, ihr Bildung zu verschaffen. Michelle wurde dann in eine andere Klasse versetzt.

So zog es sich durch ihre Schulkarriere, bis ihr eine Collegeberaterin sagte, sie sei kein Material für ein Ivy-League-College. Auch hier setzte sie sich durch, studierte Jura und fing dann schließlich in einer Kanzlei in Chicago an. Michelle war und ist eine ordnungsliebende Frau, die gerne plant und weiß, was auf sie zukommt. Unordnung und Spontaneität bereiten ihr Unbehagen. Zudem plagt sie sich seit ihrer Schulzeit immer mit der Frage herum, ob sie gut genug ist. Nun ist sie in einer großen Kanzlei, als schwarze Frau, und ist stolz auf ihren Erfolg.

Und dann lernt sie einen Mann kennen – Barack Obama. Barack, der Spontane, der Belesene, der Chaotische, der Menschenfreund. Es dauert einige Zeit, doch es ist klar, dass er der Mann ihres Lebens ist. Und er wird dieses Leben gewaltig durcheinander wirbeln. Und der erste schwarze Präsident der USA werden, mit ihr an seiner Seite, und all der Kontroverse, die das mit sich bringt.

Michelle Obama berichtet in einem angenehmen, unaufgeregten Stil über ihr Leben. Sie beschreibt, wie ihre liebende Familie ihr immer das Gefühl gegeben hat, dass sie alles schaffen kann, auch wenn die äußeren Umstände oft dagegen sprachen. Sie beschreibt die schwierigen Dinge klar, aber nicht mitleidheischend, sie spricht über die Verwirrungen und über die Fortschritte, und die immer zugrunde liegende Angst, nicht gut genug zu sein.

Barack und sie führen von Beginn an eine Ehe, in der sie sich nicht oft sehen, da er früh in die Politik geht und oft mehrere Tage die Woche unterwegs ist. Dennoch halten sie sich immer „Paarzeit“ frei, in der sie nur für sich da sind und ihre Woche rekapitulieren. Und als die Kinder kommen, wird es für Michelle schwierig, doch mit der Unterstützung ihrer Mutter, und auch mit Eheberatung, finden die beiden einen Weg.

Dann kandidiert Barack für die Präsidentschaft, und Michelle findet ganz neue Seiten an sich. Sie steigt voll in den Wahlkampf ein, will keine Puppe an der Seite ihres Mannes sein, jedoch auch die Kinder nicht vernachlässigen, und stellt sich immer weiter die Frage, ob sie allen und allem gerecht wird.

Sie schaffen es ins White House, und auch hier will Michelle nicht, wie so manch andere Präsidentengattin, einfach da sein, sondern den neuen Einfluss, den sie nun gewonnen hat, auch nutzen. Sie gründet insgesamt vier Initiativen, mehr als jede andere First Lady, hauptsächlich für Kinder, aber auch für Veteranen.

Aber immer wieder und immer deutlicher zeigt sich der Riss, der durch das Land geht. Von Anfang an sind die Republikaner rasend, sie stellen sich gegen alles, was der Präsident vorschlägt, einfach nur um dagegen zu sein. Es ist egal, ob es allen Menschen nützen würde, sie sagen einfach nein. Man sieht, wohin diese Entwicklung geführt hat. Heute sind so viele Menschen überall damit beschäftigt, dagegen zu sein. Will man jedoch eine andere Lösung, einen Weg hören, den sie beschreiten möchten, dann herrscht große Stille. Obama hatte Visionen, er wollte, dass jeder Amerikaner krankenversichert ist, er wollte, dass kein Amerikaner, schon gar keine Kinder, wahllos erschossen wird, und noch so vieles mehr. Man siehe, wohin das Dagegen-Geschrei geführt hat, man betrachte, wie gut es den Menschen im Moment geht.

Und das ist es auch, was mich am meisten beschäftigt nach dem Lesen der Autobiographie: wie viele Menschen es gibt, die einfach nur gegen alles sein wollen. Hier ist mal jemand, der wirklich versuchen will, etwas zu verbessern, der Lösungen anbietet (natürlich nicht immer und ausschließlich, aber es waren welche da), und alles, was als Reaktion kommt, ist: „Es gibt ja gar kein Problem“ oder „Nein, das ist ja alles so falsch“. Gestern las ich die Reaktionen im Spiegel auf Greta Thunberg, und hier ist es das gleiche Geschrei: „Es gibt keinen Klimawandel“, „So ein Mädchen hat doch keine Ahnung, die soll spielen gehen“ und „Ich möchte auf absolut gar nichts verzichten, es geht hier nur um mich, und Zukunftsangst ist irrational“. Der gleiche Vorgang: Sie schreien nieder, sie belächeln, sie machen klein, und fühlen sich selbst so groß.

Das hat jetzt nicht mehr viel mit dem Buch an sich zu tun, aber doch vieles mit der Botschaft, die bei mir hängen geblieben ist: Es ist nicht einfach, sich gegen andere zu stellen, und wenn du wirklich Lösungen hast und klug bist, dann werden sie dich wegen deines Körpers oder sonstiger Dinge klein machen. Lass es nicht zu. Denn (und das ist für mich der wichtigste Satz, den Michelle Obama je sagte): „When they go low, we go high.“

Hierzu kann und sollte man sich inspirieren lassen.

Michelle Obama: Becoming. Aus dem amerikanischen Englisch von Harriet Fricke, Tanja Handels, Elke Link, Andrea O’Brien, Jan Schönherr und Henriette Zeltner. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 2018. OA: Becoming. Crown Publishing Group, 2018. 543 Seiten.

Dennis Lehane – Der Abgrund in dir

**Ich habe mich bemüht, die Spoiler so gering wie möglich zu halten, aber alle potentiellen Leser seien bitte trotzdem gewarnt, ganz ohne kommt die Besprechung nicht aus**

Dennis Lehanes neues Werk „Der Abgrund in dir“ kommt als zweigeteilter Roman zu seinen Lesern. Ist der erste Teil eine Art Charakterstudie, wandelt der zweite Teil diese in eine Art Actiongeschichte um. Ein Teil gefiel mir, einer nicht.

Die Protagonistin in „Der Abgrund in dir“ ist Rachel Childs. Sie wächst nur mit ihrer Mutter auf, die ihr nie verrät, wer ihr Vater ist. Selbst ist die Mutter Autorin eines Bestsellers über Beziehungen; wo sie jedoch ihr Wissen hernahm, war Rachel stets ein Rätsel. Als die Mutter bei einem Autounfall stirbt, nimmt sie ihr Geheimnis mit ins Grab. Doch Rachel gibt die Suche nach ihrem Vater nicht auf. Hier findet sie Verbündete, doch es ist fast unmöglich, auch nur eine Spur von ihm zu finden, vor allem mit den äußerst dürftigen Informationen, die Rachel besitzt.

Sie wird Journalistin, und sie arbeitet hart, um eine der führenden Reporterinnen zu werden. Schließlich schickt man sie nach dem verheerenden Erdbeben nach Haiti. Dort erlebt sie die Hölle auf Erden und wird nie wieder dieselbe sein. Sie erleidet vor laufender Kamera eine Panikattacke und zieht sich daraufhin völlig zurück. Ihre Ehe zerbricht, sie verlässt kaum noch das Haus, bis sie eines Tages durch Zufall einen alten Bekannten wiedertrifft: Brian Delacroix, der ihr bei der Suche nach ihrem Vater half.

Die beiden kommen sich näher, und Brian versucht, Rachel langsam wieder ins Leben zurück zu helfen… Hier beginnt nun der zweite Teil, von dem ich nicht viel erzählen kann, ohne zu spoilern. Die Ereignisse nehmen eine Wendung, die die ganze Geschichte auf den Kopf stellt. Es ist sozusagen der „Spannungsteil“ des Romans, der verfilmt wohl einige gute Actionszenen hergeben würde.

Doch mir hat gerade der erste Teil sehr gut gefallen, ich fand den langsamen Aufbau von Rachels Lebensgeschichte und ihren Problemen äußerst gelungen. Lehane betreibt, wie immer in einer sehr feinen und unaufdringlichen Sprache, eine behutsame Charakterstudie einer zerbrochenen Frau. Mich hätte jetzt interessiert, wie sie wieder ins Leben zurückfindet, wie sie ihre Traumata überkommen kann, ob und wie sie ihre Erlebnisse produktiv verarbeiten kann.

Doch die Wendung im Roman findet einen anderen Weg für Rachel, und mich persönlich hat dieser Weg überhaupt nicht angesprochen. Ich fand, Lehane macht gewissermaßen alles lächerlich, was er vorher so behutsam aufgebaut hat. Klar, die Geschichte liest sich knallerschnell weg, man will sicher wissen, wie es weitergeht, was einen guten Spannungsroman ja auch ausmacht. Aber will man dies, warum dann der ausgedehnte erste Teil?

Für mich beweist der erste Teil wieder einmal, was für ein feiner Schriftsteller Dennis Lehane ist, genau wie schon in Mystic River gefällt mir auch hier sein Schreibstil sehr gut. Auch den Aufbau seiner Figur, mit der ganzen Hintergrundgeschichte über ihre Familie und ihre Traumata, fand ich äußerst gelungen. Doch die Lösung, die er für sie findet, war für mich absolut enttäuschend, das hat die Figur nicht verdient.

So bleibt bei mir ein enttäuschtes Gefühl zurück und der Roman als Empfehlung für eine Abwechslung zwischendurch, aber nicht als Must-read. Schade, Mr. Lehane, da hätten Sie viel mehr draus machen können.

Dennis Lehane: Der Abgrund in dir. Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg. Diogenes, 2018. OA: Since we fell. HarperCollins, New York, 2017. 525 Seiten.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Tara Westover – Befreit

Neulich erreichte mich ein Buchpäckchen (ich liebe das!) und als ich es auspackte, hatte ich „Befreit – Wie Bildung mir die Welt erschloss“ in der Hand. Ich las den Klappentext und war sofort eingenommen, konnte das Wochenende nicht erwarten. Also begann ich Samstag Mittag mit Taras Geschichte und Sonntag Abend legte ich das Buch emotional ausgedörrt und mit Tränenströmen auf meinen Wangen beiseite. Nächtelang habe ich davon geträumt und man sieht – dies ist kein Buch, das einen wieder verlässt.

Aber von vorne. „Befreit“ ist die Autobiographie einer nun 32jährigen Frau. In dem Alter eine Biographie zu schreiben, scheint ein wenig exzentrisch. Aber Tara Westover hat eine Menge zu erzählen. Sie wurde in einem Kaff in Idaho geboren, am Fuß eines Berges, den sie die „Prinzessin“ nennt und der ihr Zeit ihres Lebens Kraft und Ruhe gegeben hat. Anders als ihre Familie.

Sie wächst in einer Mormomenfamilie auf, als jüngstes von sieben Kindern. Ihr Vater ist ein fundamentalistischer Mormone, der glaubt, die Regierung wolle sie einer Gehirnwäsche unterziehen. Und so haben die Kinder weder eine Geburtsurkunde, noch dürfen sie zur Schule gehen. Ihr Vater glaubt, alles, was sie wissen muss, könnten er und seine Frau ihr beibringen. So lernt sie zu lesen und ein wenig Mathematik, aber das war es praktisch.

Ein weiterer Aspekt des Glaubens ihres Vaters ist die tiefe Abneigung gegen die Schulmedizin. Er denkt, alle Medikamente zerstörten den Körper, der doch Gottes Behältnis sei, das man nicht beschmutzen dürfe. Taras Mutter wird auf sein Geheiß hin Hebamme, so dass sie anderen helfen kann, von Krankenhäusern fernzubleiben. Außerdem ist sie gut mit Heilpflanzen und Elixieren, die sie selber macht und so die Familie mit ein wenig Einkommen unterstützt.

Geld – davon ist nicht viel da. Ihr Vater betreibt einen Schrottplatz, die Söhne gehen ihm hier zur Hand. Es ist harte Arbeit, die Metalle zu trennen, und nicht selten geschehen Unfälle. Schwere Unfälle, die dann mit Elixieren behandelt werden. Er ist unter ständigem Zeitdruck, sieht den Profit vor seinen Augen davonwehen, und dementsprechend ist die Arbeitsumgebung. Eines Tages hört er von einem Fall, in dem die Regierung bzw. das FBI mit einer Mormomenfamilie aneinander gerät und projiziert das auf seine Familie, weswegen sie ständig To-go-Rucksäcke bereit stehen haben, sollte die Regierung kommen und sie verfolgen wollen.

Doch Tara wächst damit auf, und da sie so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt hat, ist diese Welt und das Glaubenssystem ihres Vaters alles, was sie kennt. Sie weiß zwar, dass ihre Familie irgendwie anders ist, doch sie denkt, dass ihre Lebensauffassung die einzig richtige sei. Aber Dinge passieren, und sie wird immer mal wieder stutzig, fragt sich, ob das der einzige Weg sei. Mit zehn oder elf hat sie eine Art „Erweckungserlebnis“, als sie bei ihrem Bruder zum ersten Mal professionelle Chormusik hört.

Dieser Bruder ist älter und sieht etwas weiter, er will aufs College und lernt selbständig für die Aufnahmeprüfung. Tara und er sind am engsten unter den Geschwistern, aber das ändert sich, als er aufs College geht und bald darauf ein anderer Bruder, der vor Jahren wegging, wiederkommt: Shawn. Ein Alptraum ganz anderer Art beginnt für Tara.

Viele, viele Dinge geschehen, bis Tara, mit siebzehn Jahren, selbst aufs College geht. Sie ist eine krasse Außenseiterin, hat keine Ahnung von der wirklichen Welt (soweit ein mormonisches College diese widerspiegelt), und hat große Bildungsdefizite. Doch mit jedem Schritt, jedem Häppchen Bildung, das sie sich aneignet, wird sie mehr und mehr zu einer selbständigen Person, die in der Lage ist, Fragen zu stellen.

Diese Fragen werden ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellen, vor allem, als ein schlimmer Unfall geschieht, der ihren Vater noch tiefer in seinen Glauben treibt. Und er will sie retten, vor der Gehirnwäsche, der bösen Welt, vor sich selbst. Doch Tara ist nicht mehr das kleine Mädchen, das sie war, und bekommt von unerwarteten Seiten Hilfe.

Taras Geschichte ist klar und relativ emotionslos geschrieben, sie erzählt, wie es war, hält sich jedoch mit ihren Gefühlen einigermaßen zurück. Dadurch bekommt dieses Buch eine große emotionale Kraft, man wird so tief in ihre Geschichte hineingezogen, wird beteiligt, möchte durch die Tür stürmen und das Mädel da rausholen, man leidet mit und weiß nicht, wie man mit diesem Wahnsinn umgehen soll.

Es ist eine beeindruckende Geschichte über einen Menschenschlag, mit dem man hier in Europa nicht unbedingt vertraut ist. Man stellt sich etwa Trumps Stammwähler in dieser Art vor, wobei Taras Vater wohl niemals wählen würde. Ich weiß nicht, warum die Regierung dort nicht mal nachschaut, zumindest sieht, ob es den Kindern gut geht. Aber es gibt wahrscheinlich keinen Grund, sie weiß ja lange Zeit nicht einmal, dass diese Kinder überhaupt existieren. Und das alles geschieht nicht vor wie vielen Jahren, sondern immer noch, heute, in unserer „modernen“ Welt.

Ich möchte jedem, der nicht ganz zartbesaitet ist, dieses Buch ans Herz legen. Es ist eine Emanzipationsgeschichte, die beide Seiten zeigt, und die herausstellt, dass das Leben nicht schwarz oder weiß ist, sondern viele Facetten hat, und dass das Verurteilen nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Es sollte – zumindest in Auszügen – in Schulen gelesen werden, denn es wird so deutlich, wie wichtig Bildung ist, wenn man sein Leben mündig leben und nicht irgendjemandem nach dem Mund reden will, weil man es nicht besser weiß. Das würde vielen Menschen guttun.

Tara Westover wurde 1986 in Idaho, USA, geboren und lebt heute in Großbritannien. 2008 erwarb sie den Bachelor of Arts and der Brigham Young University. Am Trinity College, Cambridge, machte sie 2009 einen Abschluss als Master of Philosophy und promovierte 2014, nach einem Abstecher an die Harvard University, in Cambridge in Geschichte. „Befreit“ ist ihr erstes Buch. (Klappentext)

Tara Westover: Befreit. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2018. OA: Educated. Second Sally, Ltd., 2018. 444 Seiten.

Ich danke Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar.