Esi Edugyan – Washington Black

„Ich war vielleicht zehn, elf Jahre alt – genau kann ich das nicht sagen -, als mein erster Master starb.“

So beginnt Esi Edugyans Roman „Washington Black“, und in diesem Satz ist schon so vieles angelegt. Washington wurde von seinem ersten Master auf den Namen George Washington Black getauft, er wird aber von allen Wash genannt. Er weiß nicht, wer seine Eltern sind, großgezogen wird er von Big Kit, die sich seiner annimmt.

Als sein erster Master stirbt, bekommt er einen neuen Master, Erasmus Wilde, ein brutaler, rücksichtsloser Mann, der die Sklaven erst einmal gefügig macht, indem er eventuellen Fluchtversuchen auf äußerst brutale Weise entgegenwirkt. Und so träumen sich Big Kit und Wash nach Dahomey, wo Big Kit herstammt, bevor sie gefangen genommen und nach Barbados verschafft wurde. Es soll immer Washs Fluchtpunkt bleiben.

Erasmus Wilde ist in Begleitung seines Bruders Christopher, der sein genaues Gegenteil ist. Er ist Gelehrter, wie ihr Vater, und dabei, ein Luftschiff zu bauen (das eindrucksvoll gezeichnet auf dem Cover abgebildet ist). Dieser sieht Washington und bittet seinen Bruder, ihn in seine Obhut zu geben. Und so ändert sich Washingtons Leben von einem Tag auf den anderen: von der harten Arbeit auf den Feldern, aus der Obhut von Big Kit gerissen, wird er Christopher Wildes Assistent.

Er lernt lesen und schreiben, streift den ganzen Tag mit ihm über die Insel und fängt an, Zeichnungen von den Dingen zu machen, die Christopher interessieren, von Pflanzen und Tieren, wofür er ein echtes Talent besitzt. So steigt er in seiner Achtung, und langsam wird die Beziehung mehr zu einer Freundschaft als die von Master und Sklave.

Dann bekommen sie Besuch von einem Cousin der Wildes, den ein dunkles Geheimnis zu umgeben scheint. Washington ist immer auf der Hut, und als es so weit ist, dass sie die ersten Experimente mit dem Luftschiff machen können, geschieht eine Katastrophe. Doch diese ist nicht die einzige für Washington, so dass er und Christopher schließlich mit dem Luftschiff fliehen müssen. Eine abenteuerliche Reise beginnt.

Sie sehen viele interessante Dinge, lernen spannende Menschen kennen, immer auf der Flucht, bis Christopher Washington schließlich verlässt und der seinen eigenen Weg finden muss.

Esi Edugyan hat eine Mischung aus einer Coming-of-Age-Geschichte und einem Abenteuerroman geschrieben, die mitreißend und spannend ist. Sie verwendet eine wundervolle Sprache, und auch die brutalen Szenen bleiben immer erträglich, dennoch eindringlich. Sie nimmt uns mit in eine Zeit, in der Menschen Besitz sind, die aber auch geprägt ist vom raschen Wandel in der Wissenschaft, und schafft es immer, auf diesem Grat zu balancieren.

Sie hat mit ihren Figuren, allen voran natürlich Washington, glaubhafte Charaktere geschaffen, wobei dieser im Laufe der Geschichte vielleicht eine Wende zuviel, einen Schicksalsschlag, dessen es nicht bedurft hätte, aufgebrummt bekommt. So zieht sich die Geschichte gen Ende ein wenig hin. Dennoch gelingt ihr ein glaubhafter, eindrücklicher Abschluss, so dass der Roman mir sehr positiv im Gedächtnis bleiben wird.

Dies, zusammen mit der schönen Sprache und den wundervollen Bildern, die Edugyan verwendet, machen diesen Roman zu einem Schmöker, den ich jedem empfehlen kann. Sie baut viele Details ein, die aber immer nachvollziehbar sind und so ein Panorama einer Zeit bilden, in der ich mich nicht so gut auskenne und nun froh bin, ein wenig mehr darüber zu wissen.

Eine weitere Rezension könnt Ihr hier bei der großartigen Bingereaderin finden.

Ich danke dem Eichborn Verlag für das Rezensionsexemplar. Der Umstand, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Esi Edugyan: Washington Black. Aus dem kanadischen Englisch von Annabelle Assaf. Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG Köln, 2019. 509 Seiten.

Buch #63: Nadine Gordimer – July`s Leute

„Warum kommen sie hierher? Warum zu uns?“ (S. 29)

Diese Frage stellt July`s Frau Martha ihm, als er in seinem Heimatdorf auftaucht und seine „weiße Familie“ mit sich bringt. Diese Familie ist die Familie Smales, bestehend aus Bam und Maureen, mit ihren drei Kindern Gina, Royce und Victor. Sie mussten aus der Stadt fliehen, da die Rassenunruhen, bei denen die Schwarzen die Macht übernehmen sollten, zu nahe kamen.julys leute

July, ihr Boy (so bezeichnet er sich selbst) hat sie in ihren Geländewagen gepackt und ist mit ihnen in sein Heimatdorf geflohen. Er hat ihnen die Hütte seiner Mutter gegeben und ein paar Sachen fürs tägliche Leben. Er hilft ihnen aus, bringt ihnen Tee oder Feuerholz. Er ist immer noch ihr Diener.

Nun ist die Familie Smales im Niemandsland gelandet, ein kleines Dorf mit ein paar Hütten, in dem sich die Menschen von dem kargen Land ernähren und mit dem, was sie haben, zurechtkommen. Sie jedoch sind völlig aufgeschmissen. Sie kennen die Pflanzen nicht, die Tiere nicht, haben kein Immunsystem, das das Flusswasser abwehren kann, und einer ihrer größten Besitztümer ist eine hastig auf der Flucht eingesteckte Rolle Toilettenpapier.

Doch sie richten sich ein. Ein Radio liefert spärliche Informationen über den Zustand in der Stadt, doch stets bleibt die Hoffnung bestehen, wieder zurückgehen zu können, dass dies nur ein vorübergehender Zustand ist, den man aussitzen kann. Doch es zieht Tag um Tag, Nacht um Nacht an ihnen vorbei, ohne, dass sich etwas an ihrer Situation ändert, ohne, dass es Neuigkeiten gibt.

Was sich ändert, sind die Personen. Die Kinder passen sich schnell an, freunden sich mit den Kindern des Stammes an und werden zu ihresgleichen. Anfangs noch mit Händen und Füßen, sprechen sie bald in einer Sprache, die sie alle verstehen, übersetzen auch für die Eltern. Sie verwildern, nehmen dieses neue Leben jedoch großenteils einfach hin.

Für ihre Eltern ist es schwieriger. Sie hatten immer von sich gedacht, tolerante Menschen zu sein, gut für ihre Angestellten zu sorgen. Keine abfälligen Worte fielen in ihrem Haus, sie „zeigten jedem Respekt“, gaben July Freiheiten und vertrauten ihm. Und nun vertrauen sie ihm ihr Leben an, sind vollkommen von ihm abhängig.

Am Anfang bleibt das Arbeitgeber-Arbeitnehmer- oder das Herr-und-Boy-Verhältnis noch einigermaßen bestehen. Doch je weiter die Zeit schreitet, desto weniger bleibt davon übrig. July übernimmt Aufgaben, Verantwortung und schließlich das Auto der Familie. Die Smales finden sich all dessen beraubt, was sie einst ausgemacht hat, und versinken in einer tiefen Sprachlosigkeit. Es gibt nichts zu besprechen, sie bleiben stumm, das Leben ist auf das Körperliche reduziert, und sie nehmen sich ganz anders wahr in der Welt.

Aber auch für Julys Familie bedeuten die Geschehnisse einen tiefen Umschwung. Er ist auf einmal immer da, wo er zuvor nur alle zwei Jahre zu Besuch kam. Er schickte Geld, das nun nicht mehr kommt, und seine Frau, die vorher an ihren Briefen feilte und nur die wirklich wichtigen Sachen mit ihm teilte, ist nun täglich mit ihm konfrontiert.

Nadine Gordimer hat mit ihrem schmalen Roman Julys`s Leute eine eindringliche Charakterstudie verfasst. Er handelt zwar von einer großen Revolution, einem großen Umbruch, aber das eigentliche Thema sind die Menschen, die davon betroffen sind. Sie nimmt Personen von beiden Seiten, die sich plötzlich mit einer umgekehrten Situation konfrontiert sehen und sich also mehr oder weniger in der Welt des jeweils anderen einrichten müssen.

Das geht nicht konfliktfrei über die Bühne, und diese Konflikte schildert Gordimer hier. Aber mehr noch schildert sie eine große Sprachlosigkeit, einen Zustand, der geprägt ist von Angst und Hoffnungslosigkeit, und wie auf einmal alles anders wird, alles anders wahrgenommen wird. July`s Leute ist ein karges Buch, ein Roman, der ganz dicht bei den Menschen ist, in dem nicht viel und doch alles geschieht. Ein Buch, das sich zu lesen lohnt.

Nadine Gordimer: July`s Leute. Aus dem Englischen von Margaret Carroux. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main, 1994. OA: July`s People. Jonathan Cape Ltd., London, 1981. 207 Seiten.

Photo: nobelprize.org

Photo: nobelprize.org

Nadine Gordimer wurde am 20. November 1923 in Springs, Transvaal, heute Gauteng (Südafrika), geboren. Ihre Romane, Erzählungen und Essays machten sie zu einer Autorin von Weltruf. Diese behandeln vor allem die südafrikanische Apartheidspolitik und deren Folgen für sowohl die schwarze als auch die weiße Bevölkerung. Sowohl in öffentlichen Auftritten als auch in ihren Werken setzte sie sich beharrlich für die Emanzipation der Schwarzen in ihrem Heimatland ein. Nadine Gordimer gilt als eine der wenigen modernen Autorinnen, denen es gelungen ist, politische Themen ohne ästhetische Einbuße in ihrem Werk zu verarbeiten. 1974 erhielt sie den Booker Prize, 1991 den Nobelpreis für Literatur. Sie starb am 13. Juli 2014 in Johannesburg.

Buch #55: Hella S. Haasse – Die Teebarone

Zählt auch zu Nederlandstalig! flagge

Hella Serafia Haasse wurde am 2. Februar 1918 in Batavia, Niederländisch Indien (heute Indonesien), geboren. Niederländisch Indien war eine Kolonie der Niederlande, und Hella Haasse wuchs sowohl hier als auch in Amsterdam auf. Das Leben in der Kolonie ist aber Mittelpunkt von zahlreichen ihrer Werke. Ein anderer Schwerpunkt ihres Werkes sind historische Romane. Die Teebarone gehört zu beiden Kategorien. Hella Haasse hat zahlreiche Literaturpreise erhalten, unter anderen den P.C.Hooft-prijs und der Prijs der Nederlandse Letteren, außerdem eine Ehrendoktorwürde der Universität Utrecht. Drei ihrer Bücher waren Buchwochengeschenke. Sie ist eine der meistgelesenen niederländischen Autoren. Sie starb am 20. September 2011 in Amsterdam.

Bild: hellahaasse.nl

Bild: hellahaasse.nl

Im Quellennachweis des Romans schreibt Hella S. Haasse, dass Die Teebarone zwar ein Roman, aber keine Fiktion sei. Ihr wurden von einer Stiftung Briefe und andere Dokumente zur Verfügung gestellt, die diese von den Nachkommen der Personen im Roman erhielt. Hätte ich dies vorher gewusst, wäre ich anders an die Lektüre herangegangen. Die Hauptperson des Romans ist Rudolf Kerkhoven, der zu Beginn der Geschichte, Mitte des 19. Jahrhunderts, in Delft ein Ingenieursstudium absolviert, es aber eigentlich kaum erwarten kann, nach Westjava auf die Plantage seiner Eltern zu reisen und in das Familiengeschäft einzusteigen: der Handel mit Tee, Kaffee und Gewürzen.

Er steht in stetem Briefkontakt mit seinen Eltern, kümmert sich um die Geschwister, die in die Niederlande zur Schule geschickt wurden, bekommt aber nur halbherzige Antworten und Anweisungen. Auch nach Ende seines Studiums sagt ihm niemand, dass er die Reise und seine Stelle antreten soll. Schließlich erreicht er jedoch in Niederländisch Indien und fängt an, den Anbau von der Pike auf zu lernen. Er ist sehr ehrgeizig und will alles genau wissen und können. Schließlich ist es soweit: mit familiärer Unterstützung bekommt er seine eigene Plantage. Er arbeitet von morgens früh bis abends spät, das Land muss gerodet, Grenzen müssen gezogen, Gebäude gebaut und Maschinen in Betrieb genommen werden. Dann ist da die Schwierigkeit mit der Landessprache, die zu lernen Zeit braucht. Und er muss die vollkommen andere Lebens- und Arbeitsweise seiner Angestellten, der einheimischen Bevölkerung, verstehen.

Der Angang ist hart und steinig, mit Fortschritten und mehr Rückschlägen, aber langsam entwickelt die Plantage sich. Er erhält gute Produkte und seine Experimente laufen auch gut. Bei einem Besuch in der Stadt lernt er Jenny kennen, und für beide steht sofort fest, dass sie heiraten wollen. Jenny erhofft sich ein mondänes Leben auf einer Plantage, und als sie als Braut Gambung, Rudolfs Plantage, erreicht, ist sie entsetzt: ein schäbiges Haus mitten im Nirgendwo. Rudolf und Jenny bekommen Kinder, leben aber in absoluter Armut.

Nach Jahren hat Rudolf genug Geld zusammen, dass er Gambung den Miteigentümern abkaufen kann. Doch die wollen mehr, als er zu zahlen bereit ist. Ein Familienstreit entspinnt sich, der Rudolfs Ehrgeiz und Trotz noch mehr ankurbelt und Jenny noch mehr Zugeständnisse abverlangt. Hat Rudolf mit seinem Ehrgeiz alles zerstört, oder hatte er keine andere Wahl, um am Ende zu Wohlstand zu gelangen? Wird sein Projekt und damit die Jahrzehnte harter Arbeit Erfolg hat haben, oder bleibt nur ein zerbrochenes Leben? teebarone

Wie ich oben bereits andeutete, hätte ich vorher gewusst, wie der Roman entstanden ist, wäre ich anders an die Geschichte herangegangen. Die Schilderung Rudolfs lässt nicht viel Sympathie zu, dennoch fiebert man mit, ob es ihm gelingt, Erfolg zu haben. Dann kommt Jenny ins Spiel, und auch ihre Perspektive wird geschildert, die eine gänzlich andere Sicht bietet als diejenige Rudolfs. Ebenso kommen diverse Familienmitglieder zur Sprache, was das Bild noch weiter verwirrt. Doch im Allgemeinen kann man der Story gut folgen, nur dass eben ein Sympathieträger fehlt.

Ab dem letzten Drittel des Buches wird es jedoch wirklich schwierig, denn dann werden ganze Briefwechsel wiedergegeben, zu bestimmten Themen, zwischen bestimmten Personen, und da hätte ich mir eigentlich denken können, dass es sich um echte Briefe handelt. Wer diese Familienfehden nicht kennt, sei es in Wort oder Schrift, kann sich glücklich schätzen. Mir kam das alles leider sehr bekannt vor. Und wie es meistens ist mit der Wahrheit: jede Perspektive hat ihren Anteil daran. Das ist dem Roman aber leider nicht zuträglich, da man als Leser nun vollends verwirrt ist. Man weiß nicht, wer die Wahrheit sagt, wer übertreibt, wer sich hineinsteigert…

Aus meiner Sicht ist das dann auch der große Nachteil des Romans. Eine interessante Entwicklungsgeschichte verlagert sich in eine Familienfehde, die leider am Ende auch nicht aufgeklärt wird (es sei denn, ich habe etwas missverstanden). Das liegt dann wohl am realen Hintergrund. Aber die Mixtur von realem Material und Fiktion hat hier nicht funktioniert, sie hat mich äußerst unbefriedigt zurückgelassen. Dennoch, wer auf erzählerische Weise etwas über die Niederlande, die Menschen und die Kolonien erfahren möchte, ist hier gut aufgehoben, denn hier funktioniert das Konzept.

Hella S. Haasse: Die Teebarone. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány. Wunderlich, Reinbek 1995. 351 Seiten.