Nederlandstalig! Leon de Winter – Geronimo

flagge„Kill or capture“ ist der Auftrag des ST6, des Seals Team Six, in Bezug auf UBL, wie Usama Bin Laden von ihnen genannt wird. Gemeint ist hier aber kill, capture steht außer Frage.

Was soll auch mit diesem Menschen geschehen, der für soviel Unheil gesorgt hat? Soll er an Ground Zero vor Gericht gestellt werden? Soll er in einem Käfig ausgestellt werden, als lebendiger Teufel? Was soll man mit ihm tun? Das fragt sich auch ST6, die sich dennoch wundern: Warum sollte man alles Wissen, das sich in UBLs Gehirn befindet, einfach aufgeben? Warum nicht capture?

Was ST6 nicht weiß, ist, dass UBL belastendes Material gegen Barack Obama hat. Das nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken darf. Und aus diesem Unwissen heraus schmieden die Seals einen anderen Plan: capture.

Bild: diogenes.chBei diesem Pläneschmieden ist auch Tom Johnson anwesend, der lange bei der Special Operations Group der CIA tätig war, bevor er schwer verwundet wurde. Große Teile des Romans werden aus seiner Perspektive erzählt, denn Tom ist ein Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Hier nimmt er an diesem Gespräch teil. Vor seiner Verwundung in Afghanistan lernte er Apata kennen, ein junges afghanisches Mädchen, das zu einem Tochterersatz für ihn wurde, da er seine Tochter verloren hat. Und auf der Suche nach ihr begegnet er Jabbar.

Er führt Apata in die Welt der Musik ein, genauer in die Welt Bachs. Es entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihnen, deren Grundlage die Liebe zur Musik ist. Diese Liebe wird jedoch Apatas Untergang: Es ist verboten, vor allem für ein Mädchen, solche Musik zu hören. Die Taliban üben die volle Macht ihrer Gesetze an ihr aus.

Als Bettlerin, die sie nun ist, berührt sie andere Leben. Unter anderem das von Jabbar und seiner Mutter, die sich ihrer annehmen. Und das von UBL. Dieser hockt nämlich nicht ausschließlich in seinem Bunker von einem Haus, sondern begibt sich auf nächtliche Streiffahrten, verkleidet, unerkannt. Er wird zum Menschen, der seine Frauen liebt, der Eis für sie kauft, und der, als er bemerkt, dass Apata ihn erkannt hat, doch eine menschliche Seite zeigt…

„Geronimo“ ist das Codewort der Navy Seals, das besagen sollte, dass sie Bin Laden gefunden haben. Jeder kennt das Bild, auf dem Obama und Clinton zu sehen sind, als die Operation durchgeführt wurde, das, auf dem Hillary die Hand vor dem Mund hält, schockiert. Bin Laden ist tot, das verkündete Obama später in seiner Rede. De Winter fügt nun den Verschwörungstheorien, die sich um diesen Tag ranken, eine weitere hinzu: Was, wenn UBL nicht tot ist? Was, wenn er gefangen wurde?

Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt er eine Geschichte, die sich wie ein Thriller liest; man kann den Roman kaum aus der Hand legen. Die Geschichte wird kapitelweise zu den Personen erzählt, immer ein Stückchen mehr, und nach und nach ergeben sich die verschiedenen Verbindungen. Die handelnden Personen sind alle in eine große Verschwörung verwickelt, und diese Verwicklungen verlangen einen hohen Preis.

Die Erzählperspektive ist mir nicht immer klar gewesen, erzählt Tom nun die Geschichte, und wenn ja, woher hat er die Möglichkeit, als allwissender Erzähler aufzutreten? Oder erzählt er nur Teile, und die anderen Teile erzählt – wer? Davon abgesehen hat De Winter wieder tief in die Trickkiste gegriffen: Ein was-wäre-wenn-Szenario, das spannender nicht sein könnte. Dieses Buch gleicht einer rasanten Achterbahnfahrt, die Höhen der rasanten Erzählung wechseln sich mit zutiefst menschlichen Schicksalen ab, um dann wieder zum nächsten Höhepunkt hinaufzuklettern.

Man legt den Roman überwältigt aus der Hand, überwältigt von diesem Szenario, das so gekonnt erzählt ist, dass es einem durchaus möglich erscheint. Überwältigt aber auch von den Schicksalen der Menschen, die in diese Geschichte hineingezogen werden. Und davon, wie sehr dieser irre Krieg und die Terroranschläge überall in Leben eingreifen, sie zerstören, Hass schüren. Und manchmal auch Hoffnung bringen. Hoffnung auf ungewöhnliche Freundschaften, ein besseres Leben, auf Verständnis des anderen.

Leon de Winter: Geronimo. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2016. OA: Geronimo. De Bezige Bij, Amsterdam 2015.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Mehr zu Leon de Winter und weitere Romane gibt es hier.

Nederlandstalig! Leon de Winter – Das Recht auf Rückkehr

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Leon de Winters Roman Das Recht auf Rückkehr beginnt im April 2024 in Tel Aviv. Bram Mannheim arbeitet als Rettungssanitäter und hat mit seinem Freund Ikki Peisman eine Agentur, die verschwundene Kinder aufspürt. Ihr aktueller Fall führt sie nach Jaffa auf der Suche nach einem Mädchen, das seit drei Jahren als vermisst gilt. Sie bekommen die Nachricht, dass das Kind zu kinderlosen Palästinensern gekommen war und nun tot ist.

Dann setzt in Rückblenden Brams früheres Leben ein, angefangen im April 2004. Er war ein angesehener Historiker, hatte Frau und Kind. Nach einem versuchten Überfall auf ihn nimmt er ein Angebot an, in Princeton zu lehren. Er kauft mit seiner Familie ein altes Haus, das riesig und zu großen Teilen verfallen ist. Sein vierjähriger Sohn Benny sieht in dem Haus Schlangen, was Bram beunruhigt. Und eines Tages ist Benny spurlos verschwunden. Bram wird verrückt und begibt sich auf eine Suche quer durch die USA, in der Hoffnung, aufgrund eines abstrusen Zahlensystems seinen Sohn zu finden.

Er lebt wie ein Bettler und strandet in Los Angeles. Eines Morgens rettet er einem kleinen Mädchen das Leben. Dessen Großvater will sich erkenntlich zeigen und holt schließlich Brams Vater nach L.A., einen mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Physiker, zu dessen Zahlenwelt Bram nie Zugang hatte. Brams Vater holt ihn zurück zu sich nach Tel Aviv, und langsam findet Bram in ein „normales“ Leben zurück.  Er macht „Studien“ zum Verschwinden seines Sohnes, bis er auf einen Pädophilen stößt…

Zurück im Jahr 2024 ereignet sich während einer Schicht als Rettungssanitäter ein Anschlag. Und auf einmal ist alles anders als zuvor: der Attentäter war durch die DNA-Schleuse gelangt, die das jüdische Y-Chromosom zurückverfolgen kann. Ein junger Jude hat einen Anschlag auf Israel verübt. Und plötzlich stellen sich die Fragen: ist Benny damals doch nicht einem Kinderschänder zum Opfer gefallen? Was hat es mit seinem Vater und dessen ehemaligen Arbeitskollegen auf sich? Könnte es sein, dass alles ganz anders ist, als Bram die ganze Zeit vermutet hat? Oder sitzt er falschen Hoffnungen auf, spielt das Schicksal ein grausames Spiel mit ihm?

Leon de Winter hat sich auf den 550 Seiten seines Romans eine Menge vorgenommen. Mehrere Zeitebenen, mehrere Länder, der Konflikt zwischen Israel und Palästina und nicht zuletzt der Konflikt mit dem Islam. Das sind eine ganze Menge Handlungsstränge, die er meistens souverän in der Hand hält und miteinander verwebt. Aber dies gelingt nicht immer ganz, und vor allem zum Ende hin hätten es meiner Meinung nach entweder mehr Seiten oder weniger Wendungen sein dürfen.

Nichts desto trotz ist wieder mal ein Pageturner entstanden, der sich nicht aus der Hand legen lässt. Es ist ein im Grunde deprimierendes Buch, das von Konflikten, Anschlägen, Fanatismus und zerstörten Leben erzählt. Und doch legt man den Roman zuversichtlich aus der Hand, denn de Winter streut das Körnchen Hoffnung aus, dass nicht alles verloren sein muss, dass Kommunikation möglich ist, dass auch „zerstörte“ Menschen ein Glück und ein Leben finden können.

Und so ackert man sich – manchmal atemlos, manchmal etwas übersättigt – durch diesen Parforceritt eines Zukunftsromans, um am Ende mit neuen Perspektiven und Denkansätzen wieder ausgespuckt zu werden. Auch wenn die Zeit – der Roman stammt aus dem Jahre 2008 – schon beängstigend vieles widerlegt hat, gerade was den Islam und ISIS angeht, kann man sich die Entwicklung des Nahostkonflikts so vielleicht vorstellen. Es bleibt zu hoffen, dass Leon de Winter Unrecht hat mit seinen Visionen, und, Ihnen auch diesen Roman ans Herz zu legen. Keine leichte Kost, doch immer leicht zu lesen. Ein de Winter eben.

Mehr von Leon de Winter gibt es hier.

Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag AG Zürich, 2009. OA: Het recht op terugkeer. De Bezige Bij, Amsterdam. 2008. 550 Seiten.

Nederlandstalig! Leon de Winter – Ein gutes Herz

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Leon de Winter wurde am 26. Februar 1954 in ’s-Hertogenbosch geboren. Er ist Sohn orthodoxer niederländischer Juden. Diese überlebten den Holocaust, da ihnen zwei Jahre lang eine Gruppe katholischer Priester und Nonnen ein Versteck zur Verfügung stellten. Neun von zehn Onkel und Tanten wurden im Konzentrationslager ermordet.

Foto: De Bezige Bij

Leon de Winter, Foto: De Bezige Bij

Er studierte in München an der Bavaria Filmakademie, verließ sie aber ein Jahr vor dem Abschluss. Mit 24 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman, darauf folgten weitere Romane, Erzählungen und Drehbücher. Er ist mit Jessica Durlacher verheiratet, die ebenfalls Schriftstellerin ist, hat zwei Kinder, von denen Solomonica, seine Tochter, soeben ihren ersten Roman veröffentlicht hat. Sie leben in Bloemendaal und Los Angeles.

Seine Figuren sind immer jüdischer Herkunft, die sich mit ihrem Judentum auseinandersetzen. De Winter bezieht stark Positionen, die islamkritisch und pro-israelisch sind. Theo van Gogh, der 2004 ermordet wurde, warf ihm dann auch vor, sein Judentum zu vermarkten und beschimpfte ihn mit antisemitischen Äußerungen. Was genau er noch in die Welt setzte, möge man hier nachlesen, das möchte ich hier nicht wiederholen. Man sollte sich wohl seine eigene Meinung bilden über Leon de Winter, der anscheinend ein unbequemer Mensch ist, und doch oft aneckt.

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Theo van Gogh, Foto: Wikipedia

In seinem neuesten Roman, Ein gutes Herz, spielt auch eben dieser Theo van Gogh eine der Hauptrollen. Theo ist, nachdem er von Mohamed Boujeri (auch dieser ist eine Figur im Roman) ermordet worden ist, in einer Art Fegefeuer. Jahrelang wütet er vor sich hin, raucht und säuft körperlos und trauert seinem Körper und seinem Lebendigsein hinterher. Dann trifft er auf Jimmy, der ihn vor die Wahl stellt, aufzugeben und in die Hölle zu gehen, oder Schutzengel zu werden.

Schutzengel soll er für Max Kohn sein, ein ehemaliger Drogendealer, der ein neues Herz bekommen hat. Dieses Herz ist Jimmys Herz. Max ändert sich daraufhin tatsächlich, aber er kann nicht verstehen, warum ausgerechnet er ein Herz von einem so guten Menschen – Jimmy war Pastor – bekommen hat. Er reist zu dessen Familie und bekommt ein Foto von Jimmy mit einer Frau – Sonja.

Sonja ist Max‘ Ex-Freundin. Sie hat einen kleinen Sohn und hatte eine Affäre mit Jimmy. Jetzt ist sie mit Leon de Winter zusammen. Dessen Frau hat ihn verlassen, und Sonja und Leon und Nathan, Sonjas Sohn, leben nun als eine Familie in Amsterdam. Leon de Winter kommt übrigens gar nicht so gut weg, allerdings ist er eine Romanfigur, wieviel Übereinstimmung mit ihrem Schöpfer besteht, ist offen.

Max‘ hatte einen „Angestellten“ und besten Freund, Kichie, der sein Mann fürs Grobe war. Deswegen wanderte Kichie in den Knast, er hatte für Max getötet. Sein Sohn, Sallie, kann ihm dies nicht verzeihen, und will mit seinem Vater abrechnen…

Dies ist nun schon ein ganzes Netz an handelnden Personen, es wird aber nicht unübersichtlich, da jede Person eigene Kapitel für sich bekommt. In diese fließen zwar immer auch die anderen mit ein, aber man weiß doch stets, was passiert. Und es passiert etwas: Amsterdam wird Ziel von Terroranschlägen. Alle sind auf irgendeine Weise involviert – und Theo muss sich seine Flügel verdienen…

41EbqG43vZL__SY344_BO1,204,203,200_Dies ist wieder einmal ein großartiger Roman von Leon de Winter. Theo van Gogh als eine seiner Figuren zu nehmen, war ein gelungener Schachzug. Denkt man nun aber, es sei eine Abrechnung, denkt man vollkommen falsch – um dies zu verhindern offeriert er Theo das Engel-Dasein und sich selbst als dicklichen, mürrischen, von seiner Frau verlassenen und rechthaberischen Teil des Romans. Dadurch kann er sich mit van Gogh auseinandersetzen, ohne dass man ihm vorwerfen könnte, es sei eine fiese Abrechnung. Dann wiederum gab es wohl die Kritik, man könne nicht zwischen der Figur und dem Autor unterscheiden, oder sie seien eben zu verschieden – hierzu sage ich nur, es ist eine Figur, und die ist nicht identisch mit dem Autor. Punkt.

Durch die vielen Perspektivwechsel wird eine komplexe Geschichte aufgebaut, die dann in den Terroranschlägen und dem Umgang der Figuren damit gipfelt. Jede Figur fügt ein Mosaiksteinchen hinzu, und am Ende bekommt man ein Bild, das man nicht erwartet hätte. Und dies ist die Größe Leon de Winters: er kann erzählen. Nicht alle seiner Romane haben mir so gut gefallen, aber die meisten schon (und ich freue mich, sie im Laufe der Zeit wieder zu lesen). Die Geschichte fängt langsam an, und zunehmend wird Spannung aufgebaut, bis man den Roman am Ende nicht mehr aus der Hand legen kann.

Ich habe mich bestens amüsiert, und halte die Art und Weise der „Abrechnung“ oder auch nur Auseinandersetzung mit van Gogh, mit dem Islam und der ständigen Terrorangst, in der wir leben, nicht für unangemessen. Andere mögen das anders sehen, ich bin ein Fan. Und ich kann jedem diesen Roman ohne Vorbehalte empfehlen.

Leon de Winter: Ein gutes Herz. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes 2015, 504 Seiten. Originaltitel: VSV, De Bezige Bij, Amsterdam 2012.