Margaret Atwood – Die Zeuginnen

Nun ist sie also da, die langerwartete Fortsetzung von Der Report der Magd. Oder eigentlich ist es ja die zweite Fortsetzung – ist die erste Staffel von „The Handmaid’s Tale“ noch eng an den Roman gebunden, führen die beiden nächsten die Story fort, ebenso, wie dies Die Zeuginnen tut.

Man kann jetzt natürlich sagen, dass Der Report der Magd so gut war, dass man diesen Roman so stehen lassen sollte, als ein in sich abgeschlossenes Meisterwerk, dass alles, was man dazu dichtet, überflüssig sei und unerwünscht. Oder man kann den ersten Roman als Basis ansehen, einen Entwurf einer Welt, und weitere Details hinzufügen, andere Stimmen zu Wort kommen, Hintergründe entstehen lassen und unterschiedliche Seiten beleuchten.

Denn, wenn man sich darauf einlässt, bekommt man durch die Serie und nun auch den Folgeroman neben der doch ziemlich schwarz-und-roten, oder eher schwarzen Handlung des ersten Romans neue Schattierungen. Zugegeben, sie sind außer schwarz und rot nicht vielfarbig, sie sind grün und blau, manchmal rosa, sehr oft grau. Aber für mich ist sowohl mit der Serie als auch mit dem zweiten Roman eine stimmige Fortführung dieser Welt entstanden, die – natürlich – nicht perfekt ist, aber doch viele gute Ansätze und Details verarbeitet hat.

Die Handlung von Die Zeuginnen setzt 15 Jahre nach den Ereignissen aus Der Report der Magd an. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern Margaret Atwood die Geschehnisse der Serie berücksichtigt hat, zumal ja auch noch eine vierte Staffel kommen soll. Aber ich denke, man kann alles vereinen.

Die Zeuginnen sind nun drei Frauen, die Zeugnis ablegen über die Ereignisse aus Gilead. Von diesen drei Frauen gibt es einmal ein schriftliches Zeugnis, einen Bericht, der offensichtlich von der Gebildetesten der drei verfasst wurde und die Ereignisse von den Anfängen Gileads bis „heute“ thematisiert. Die anderen beiden Zeugnisse sind mündliche Protokolle, Zeugenaussage 369A und Zeugenaussage 369B. Eine dieser Aussagen stammt von einer Frau, die in Gilead aufgewachsen ist, die andere von einer Frau, die in Kanada groß wurde.

Hier kommt jetzt die Verbindung zur Serie ins Spiel, diejenigen, die sie gesehen haben, werden nicht viel Mühe aufwenden müssen herauszufinden, wer die drei Frauen sind. Ich werde dies an dieser Stelle nicht schreiben. Was ich schreiben werde, ist, dass durch diese drei Sichtweisen viele Hintergründe hinzukommen. Einmal, wie es dazu kam, dass Gilead entstehen konnte und wie die Tanten so viel Macht bekommen und halten konnten. Die für mich interessanteste Perspektive war diejenige der in Gilead aufgewachsenen Frau, deren ganzes Weltbild auf den Lehren dieses „Gottesstaates“ beruht und die, obwohl so viel dagegen unternommen wurde, doch selbstständig denken kann. Die dritte Perspektive, diejenige aus Kanada, ist eine, die nicht so schwierig nachvollziehbar ist, leben wir sie doch alle: „Sieh mal, was für Zustände in diesem Land herrschen, fürchterlich, die Armen“ usw.

Die Zeuginnen ist mit Sicherheit nicht Margaret Atwoods stärkster Roman, er rangiert noch nicht mal unter den Top 5, denke ich, aber für mich ist er dennoch wichtig und gelungen. Der Report der Magd war seit dem ersten Lesen, da war ich Anfang 20, Teil von mir, oft habe ich über diese Welt, die Atwood da erschaffen hat, nachgedacht und Dinge wiederentdeckt, die in der Weltgeschichte geschahen und geschehen. Trump hat ohne Zweifel vieles wieder hervorgeholt, manchmal meint(e) man, er benutze den Roman als Vorlage. Die in diesem Zuge entstandene Serie, die der Geschichte mehr Hintergrund gegeben hat, auch und vor allem auch durch die Perspektive von der anderen Seite, die der Ehefrauen, und der Roman, der die der Tanten und Töchter Gileads mitbringt, sind für mich eine absolut gelungene Ergänzung. Ich kann aber auch die Stimmen verstehen, die den ersten Roman so für sich stehen lassen wollen.

Eine weitere  Besprechung findet Ihr bei Nettebuecherkiste.

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Deutsch von Monika Baark. Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH 2019. OA: The Testaments. PenguinRandom House Toronto/New York/London 2019. 573 Seiten.

Buch #68: Margaret Atwood – Der Report der Magd

„Glaube ist nur ein Wort, gestickt.“ (389)

„Aber ringsum an den Wänden stehen Bücherregale. Sie sind voller Bücher, Bücher, Bücher, offen sichtbar, keine Schlösser, keine Schränke. Kein Wunder, dass wir hier nicht hereindürfen. Es ist eine Oase des Verbotenen. Ich versuche, nicht hinzustarren.“ (186)

Der Report der Magd – The Handmaid’s Tale – der deutsche Titel ist hier ausnahmsweise der Bessere, weil Angebrachtere. Ein Report ist es, den Desfred uns gibt, ein Report über das Leben in einem Regime, das im späten 20. Jahrhundert in den USA entstand. Viele Faktoren spielten hinein, die Umwelt, die Umweltkatastrophen, die Religionskonflikte, AIDS, der Feminismus.

Nun ist die Welt sehr einfach. Es gibt Männer. Und es gibt drei relevante Kategorien an Frauen. Da sind die „Marthas“, die eine recht gute Stellung als Haushaltshilfe haben. Sie haben keine Rechte, sind aber vor Verfolgung mehr oder weniger sicher. Sie sind im Großen Ganzen irrelevant, nur dazu da, den Handlanger zu geben. Sie tragen grün.

Dann gibt es die Ehefrau. Die höchste Stellung, die eine Frau innehaben kann. Ehefrau. Mutter. Vorstehende des Haushalts. Repräsentation des Haushalts. Die wichtigste Position, die eine Frau haben kann. Die Wichtigste. Sie tragen blau.

Und dann gibt es die Mägde. Sie dienen als Gefäße. Falls ein hochrangiges Ehepaar nicht in der Lage ist, Kinder zu bekommen, dient die Magd als Gebärmutter. Sie trägt rot. Desfred trägt rot.

Desfred lebt als Magd bei dem „Kommandanten“, Fred, und seiner Frau Serena Joy. Sie sind kinderlos, und Desfred soll ihnen helfen. Sie wird gut ernährt und lebt wohlbehütet. Sie hat lange, verhüllende Kleider und eine Haube, die sie hindert, angesehen zu werden. Und außer einem Tunnelblick nichts zulässt. Sie darf keine persönlichen Gegenstände haben. Sie darf das Fenster nicht weiter als einen Spalt öffnen, das Glas ist bruchsicher. Sie darf nicht sprechen, außer die Floskeln, die man sie lehrte. Fromme Sprüche. Und sie darf einmal im Monat das Ritual mit dem Kommandanten vollziehen, im Schoß seiner Frau liegend, in der Hoffnung, für sie empfangen zu können.

Desfred erzählt ihre Geschichte, von ihrem jetzigen Leben, das in völliger Isolation und Abschottung von der ganzen Welt vor sich geht. Informationen zu bekommen, ist fast unmöglich. Interesse an etwas zu zeigen, kann tödlich sein. Wissen zu haben, kann zur Exekution führen.

Aber das System ist nicht vollkommen. Und Desfred gehört zur ersten Generation Frauen, die zu dieser Lebensweise gezwungen werden. Sie erinnert sich daran, wie es vorher war, als Frauen Rechte hatten, Freiheiten, Bildung, Individualität. Und sie erinnert sich daran, wie ihr alles genommen wurde. Und warum sie sich nun in ihre Rolle fügt.

Margaret Atwoods Roman aus dem Jahre 1985 ist damals ihr Durchbruch gewesen. Diese finstere Dystopie hat beim ersten Mal, als ich sie vor vielen Jahren las, so vieles bei mir ausgelöst: Ich habe eine ungeheure Faszination für Dystopien entwickelt, Margaret Atwood ist meine verehrteste Schriftstellerin, und der Anteil meiner Lektüre von Frauen liegt bei ca. 33 Prozent. All dies hat sich nun beim Wiederlesen bestätigt.

Der Report der Magd ist ein ungeheuer intensiver Roman, der perfekt kalkuliert ist. Passt man die Gegebenheiten von vor 30 Jahren an die heutigen an, ist er, gerade mit Sicht auf das letzte Jahr, wieder erschreckend aktuell. Und erschreckend ist genau das Adjektiv, das ich meine. Er nimmt einem den Atem, lässt Seite um Seite verfliegen auf der Suche nach einer Lösung, nach einem Ausweg aus dieser Situation, aus der es keinen Ausweg gibt.

Der Gedanke, dass man diese – eigentlich als Abschreckung zu verstehende – Geschichte als Handbuch nehmen könnte, hat sich mir wieder tief ins Hirn gegraben und mir einen Schlag in die Magengrube verpasst. Es darf nicht sein. Für viele Frauen ist es aber so, an so vielen Orten auf der Welt, täglich, ohne Ausweg. Man sollte dies immer vor Augen haben, immer daran denken, und dieser Roman ist eine Anmahnung all dessen.

Wie ich immer wieder zu meinem Erstaunen vernehme oder lese, gibt es anscheinend einige Menschen, die sich schwer tun mit von Frauen verfasster Lektüre. Ich kann mir beim besten Willen keinen Grund dafür vorstellen, doch scheint es so zu sein. Denjenigen möchte ich eines raten: Wenn Sie nur einen Roman, der von einer Frau geschrieben wurde, ausprobieren möchten, nehmen Sie diesen.

Denn es handelt sich auch schlicht um eine äußerst spannende Geschichte. Wie die jetzige Situation mit der damaligen und der Entwicklung zusammengebracht wird, wie stückchenweise die Welt aufgebaut und ineinander verkeilt wird, wie Desfred sich der Umstände nicht erwehren und von den Ereignissen mitgerissen wird, das ergibt einen Pageturner.

Ich weiß, das alles ist eine Menge Lobhudelei, aber ich bin diesem Roman verfallen, seit vielen Jahren schon. Er wird wohl die neue Spitzenposition in meiner Rangliste einnehmen, und mich auf jeden Fall für den Rest meines Lebens begleiten.

Ich habe den Roman ausgerechnet jetzt wiedergelesen, da ich ihn bei der Bingereaderin gewonnen habe (danke nochmal!), die ähnlich begeistert war, und weil er mit Elizabeth Moss und Joseph Fiennes als Serie verfilmt wurde, die am 26. April 2017 in den USA Premiere hat. Ich kann es kaum abwarten, jetzt noch weniger.

Margaret Atwood: Der Report der Magd. Aus dem kanadischen Englisch von Helga Pfetsch. Neuauflage im Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017. OA: The Handmaid’s Tale. MCClelland & Stewart, Houghton Mifflin, 1985; Cape 1985. 412 Seiten.

Buch #66: Kazuo Ishiguro – Alles, was wir geben mussten

Vor dem Lesen dieser Rezension: Sie enthält Spoiler und könnte eventuell die Leselust auf den Roman verderben.

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Tja, nun. Selten habe ich mich so schwer getan, etwas über einen Roman zu schreiben. Vor allem, da ich nach der Lektüre von Was vom Tage übrig blieb sehr gespannt auf dieses Buch war, dessen Verfilmung ja auch eher positiv besprochen wurde. Zudem eine Dystopie, was konnte also groß schiefgehen? Nun, so ziemlich alles.

Die Geschichte in Alles, was wir geben mussten wird von Kathy B. erzählt, einer, wie anzunehmen ist, jungen Frau, die in einem Internat aufwuchs. Sie erzählt von dieser Zeit und ihrem täglichen Leben dort, von der Schule und von ihren Freunden, insbesondere von Ruth und Tommy. Kathy und Ruth sind beste Freundinnen, Tommy ist ein jähzorniger Junge, der sich aber im Laufe der Zeit fängt und mit Ruth zusammenkommt.

Kathy erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in dem Institut, Hailsham, von ihren „Aufsehern“, von ihren Tauschmärkten, auf denen sie ihre eigenen „Kunstwerke“ gegen andere tauschen, von „Madame“, die regelmäßig vorbeikommt und „Kunstwerke“ für ihre Galerie mitnimmt. Sie wundern sich darüber, bekommen sie doch keinen Gegenwert, und Madame ist ihnen auch unheimlich, sieht sie sie doch eher an, als seien sie wilde Tiere.

Im Laufe der Erzählung gibt es also einen kleinen Hinweis nach dem anderen, aber es dauert sehr lange, bis der Leser weiß, was los ist. Der Roman ist in drei Teile geteilt, der erste erzählt von der Schulzeit, der zweite von der Zeit danach, und der dritte dürfte Kathys unmittelbare Vergangenheit darstellen. Langsam, sehr langsam entziffert sich der Leser also, was Kathy sagen will, nämlich dass sie alle Klone sind, die nur dem Zweck dienen sollen, ihre Organe zu spenden. Diese Spenden erfolgen anscheinend Stück für Stück, wobei manche nach der zweiten „abschließen“, manche bis zur vierten durchhalten, wonach ihnen alle bleibenden Organe entnommen werden und sie dann „abschließen“.

Nun braucht man aber nicht zu denken, dass irgendeiner der Klone damit größere Probleme zu haben scheint. Sie nehmen alles hin, wie es ist, und tun das, was sie tun sollen. Gerade Kathy ist sehr ergeben, nicht nur ihrer Zukunft, sondern ihrer ganzen Welt gegenüber. Ihr Erzählstil ist äußerst ruhig, emotionslos, wie ein Bericht. Und so berichtet sie, wie sie Ruth und Tommy hilft, wie sie sie wieder zusammenbringt, wie sie emotionale Momente mit Tommy verbringt, aber auch, wie sie nie etwas sagt, bis Ruth den beiden schließlich die Erlaubnis gibt, zusammen zu sein, sehr spät erst allerdings, als Tommy schon angefangen hat zu spenden. Nun ja, dann haben sie halt dann eine schöne Zeit.

Ebensowenig stellt Kathy jemals eine Frage zu ihrer „Aufgabe“. Sicher, sie wundern sich alle, wissen unterbewußt, dass mit ihnen etwas anders ist, aber sie graben lieber nicht zu tief. Zufällige Bemerkungen ihrer „Aufseher“ werden zwar registriert, aber nicht weiter hinterfragt. Als sie aus der Schule entlassen werden, erfahren sie gerüchteweise, dass Paare, die nachweisen können, dass sie sich wirklich lieben (wie auch immer das funktionieren soll), sich zurückstellen lassen können. Aber auch da forschen sie nie nach, bis Ruth ihnen sagt, sie sollen es tun. Auch das wieder viel später. Als sie dann schließlich hinter einige Geheimnisse von Hailsham kommen, auch das eher zufällig, wissen sie zwar mehr, nehmen aber auch das hin.

So ist dies ein Roman über „Schafe“, die sich willig zur Schlachtbank führen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Organspende wird hier in diesem Sinne dargestellt. Ich weiß allerdings beim besten Willen nicht, warum man ihnen ein Organ nach dem anderen entnimmt und sie sich dann erholen lässt, wobei, wenn man es so betrachten wollte, es sicherlich besser wäre, wenn schon, dann alle auf einmal zu entnehmen und den Körper keiner Regeneration auszusetzen, zumal es ja auch nicht lange weitergehen kann und dann doch alle entnommen werden.

So hat diese ganze Sache natürlich einen Beigeschmack, der sich, wie ich mir vorstelle, doch in dem einen oder anderen Kopf festsetzt und Menschen davon abhält, einen Ausweis auszufüllen. Als ein Mensch, der in unmittelbarem Umfeld eine Spende miterlebt hat, kann ich das absolut nicht nachvollziehen. Ich habe den Ausweis, seit ich 18 bin, und wenn ich tot bin, können sie gerne alles von mir haben, ich brauche es dann nicht mehr. Aber andere Menschen schon. Andere Menschen können dann weiterleben. Andere Menschen können bei ihren Familien bleiben, oder welche gründen, oder ihre Leben weiterleben. Würden mehr Menschen so denken, bräuchte man sich über solche Szenarien keine Gedanken zu machen. So einfach ist das.

Ich habe, als ich das Buch zuschlug, andere Meinungen darüber gelesen, weil ich so unglaublich erzürnt war und wissen wollte, wie es ankam (tatsächlich hauptsächlich positiv). Viele sprechen von einer Parabel auf die Gesellschaft, die Menschen, die sich nicht wehren, die ihr Leben tagein, tagaus leben ohne eine Nachfrage. Das mag ja sein, aber ich bezweifle, dass diese Menschen das Buch erreicht und sie aufrüttelt. Oder geht es vielmehr darum, dass Gentechnik die Ausgeburt der Hölle ist? Dass aber gezeigt werden soll, dass Klone auch menschliche Menschen sind, und man sich deshalb viele Gedanken darüber machen sollte, ob man sie erschafft? Geschenkt. Ich weiß wirklich nicht, was ich über diesen Roman sagen soll, außer, dass ich es für eine riesige Zeitverschwendung halte, dieses Manifest des Übersichergehenlassens zu lesen, und für eine riesige Unverschämtheit, das vor einem Thema auszubreiten, das Menschen davon abhalten könnte, Menschenleben zu retten.

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Das einzig Gute war, dass ich bemerkt habe, dass ich nach meinem Umzug keinen aktuellen Ausweis mehr hatte. Man bekommt sie beim Arzt, in Apotheken, beim Blutspenden, als Download.

Und wenn Ishiguro Eindruck hätte machen wollen, hätte er eine Heldin kreieren sollen, die um sich, ihr Leben, ihre Liebe kämpft, damit man beim Zuschlagen des Buches wenigstens nicht das Gefühl hat, in einen dumpfen Wattebausch gesteckt worden zu sein, und sich feste schütteln will, damit irgendeine Bewegung entsteht. Wie gesagt, mir ist klar, dass viele Leser diesen Roman für unglaublich gut und unglaublich weise halten, aber ich weiß nicht warum. Und, mich wird auch keiner vom Gegenteil überzeugen können, deswegen bitte ich darum, mir dies zu ersparen.

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Wilhelm Heyne Verlag, München. Verlagsgruppe Random House. 2016. OA: Never let me go. Faber and Faber Ltd., London. 349 Seiten.

Ich danke Random House für das Rezensionexemplar.

Margaret Atwood – The Heart Goes Last

You are only half a prisoner. Foto:mg

„It begins with videos of the town of Consilience, with happy people at work in it, doing ordinary jobs: butcher, baker, plumber, scooter repair, and so on. Then there are videos of the Positron Prison inside Consilience, with happy people at work in it as well, each one of them wearing an orange boiler suit. Stan only half watches: he already knows they’re going to sign the commitment papers tomorrow, because Charmaine has her heart set on it.“ (S. 34)

 

Charmaine und Stan sind ein verheiratetes Paar, das nach einem ökonomischen und sozialen Kollaps alles verloren hat und nun in ihrem Auto lebt. Ständig besteht die Gefahr, überfallen zu werden, niemand weiß, worin die nächste Mahlzeit bestehen soll, und ob es sich lohnt, ihre Ecke des Landes zu verlassen in der Hoffnung, anderswo Arbeit zu finden.

Dann sehen sie eines Tages eine Fernsehwerbung: Es gibt ein neues Projekt, das Positron Project. Dieses Projekt sieht vor, dass alle, die sich bereit erklären, in der Stadt Consilience zu leben, sich auch dazu bereit erklären, im Positron Prison zu leben. Jedes Paar hat ein Gegenstück, das einen Monat in einem schönen Einfamilienhaus mit allem, was gebraucht wird, lebt, und einen Monat im Gefängnis, stets im Wechsel. Jeder hat zwei Jobs, einen drinnen, einen draußen. Die Paare kennen sich gegenseitig nicht, da sie sich an den Wechseltagen nicht sehen. So soll null Arbeitslosigkeit bei voller Ausschöpfung der Effizienz der Arbeitskraft erreicht werden. Jeder hat einen bzw. zwei Jobs, jeder wird optimal versorgt, auch im Gefängnis gibt es Gourmet-Mahlzeiten, alle sind zufrieden, alle sind glücklich.

Der Preis, der dafür zu bezahlen ist: 1. man lebt jeden zweiten Monat im Gefängnis. 2. man gibt den Kontakt zur Außenwelt auf. 3. man lebt in einer Art Pleasantville, es gibt nur seichte Popmusik, die Filme sind nach ihrer Gewaltfreiheit ausgewählt, alles ist pastellfarben und es gibt nie schlechte Nachrichten.

Charmaine hatte eine schlechte Kindheit, sie fühlt sich erst sicher, seit sie Stan geheiratet hat. Doch diese Sicherheit ist ihr bei dem Kollaps mit allem, was sie hatte, genommen worden. Deshalb sieht sie das Positron Project als ein Geschenk des Himmels. Stan, der sie wieder glücklich sehen will, willigt ein. Es dauert eine Zeit, bis beide sich an das neue Leben gewöhnt haben, aber bis auf ein wenig Langeweile scheint alles gut zu laufen.

Bis Charmaine eines Tages am Wechseltag länger im Haus ist, um alles tadellos aufgeräumt und sauber zu hinterlassen, und von ihrem männlichen Pendant, Max, überrascht wird. Ein Blick reicht, und die beiden beginnen eine Affäre. Charmaine hat diese Leidenschaft nie gekannt, und sie wägt sich in Sicherheit. Bis sie eines Tages am Wechseltag im Positron Prison zurückgehalten wird.

 

„Then he’s unconscious. Then he stops breathing. The heart goes last.“ (S.70)

 

Was sie nicht weiß, ist, dass Max‘ Frau, Jocelyn, im Überwachungsdienst tätig ist und von der Affäre weiß. Sie wiederum hält Stan zurück und zwingt ihn, es ihren Partnern heimzuzahlen. Stan wiederum weiß nicht, dass Jocelyn einen Plan hat. Denn hinter den Gefängnismauern geschieht mehr als Essen und Arbeiten. Zum Beispiel weiß niemand etwas von Charmaines Job mit der Giftspritze. Und niemand weiß, wozu das ganze Projekt wirklich dient. Niemand außer Jocelyn, die eine Reihe von Dominosteinen aufbaut und umstößt, in der Hoffnung, dass die Steinchen alle schön brav hintereinander an ihren Platz fallen. Doch es geht nicht um Steinchen, es geht um ihrer aller Leben. Werden die Steinchen wohl fallen?

Margaret Atwood hat mit The Heart Goes Last erneut eine Dystopie verfasst. In einer nicht allzu fernen Zukunft ist unser Gesellschaftsmodell zusammengebrochen und andere Varianten werden ausprobiert. Was sich nicht geändert hat, ist der Mensch. Und wiederum wirft sie Menschen in eine andere Lebensrealität und lässt sie versuchen, sich zurechtzufinden, und wieder einmal nimmt man ihr das Setting ab.

Diesmal hat sie jedoch keine Identifikationsfiguren geschaffen. Alle Figuren kreisen nur um sich selbst, suchen Sicherheit, sind bereit, dafür -fast?- alles aufzugeben. Sie flüchten sich in eine Traumwelt, in die heile Welt der Vergangenheit, wo alles harmonisch ist und blenden die Welt außerhalb der Stadtmauern aus. Selbst im Gefängnis ist es schön, das Essen ist gut, man strickt, man kümmert sich um Hühner, alles Friede, Freude, Eierkuchen.

Doch Margaret Atwood wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht den Finger in die Wunde legen würde. So schön alles ist, zeigen sich doch bald erste Risse in der heilen Fassade. Charmaine schafft es lange, sich die Affäre und ihren Job schön zu reden, aber als sie die Konsequenzen tragen muss, ist sie heillos überfordert. Ebenso Stan. Und beiden ist eine weitaus größere Rolle zugedacht, und am Ende müssen beide schwerwiegende Entscheidungen treffen.

Auch ohne Identifikationsfiguren und mit diesem nicht ganz nachvollziehbaren Setting – warum diese Gefängnissache? – hat The Heart Goes Last letztlich überzeugt. Es ist ein Gedankenspiel über Selbstverantwortung, und Atwoods Figuren kämpfen damit wie wohl jeder Mensch. Letztlich kommt man nicht umhin, Entscheidungen zu treffen und für sie gerade zu stehen.

Atwood überraschte auch mit dem Ende, das ich so nicht kommen sah. Und es waren tatsächlich die letzten beiden Sätze ihres Nachworts bzw. ihrer Danksagung, die dem Roman den letzten Schliff gaben. Wer wissen will, wie das sein kann, sollte sich mit Margaret Atwood auf das Gedankenspiel einlassen. Mir hat die MadAddam-Trilogie zwar besser gefallen, aber es war wie immer die Reise wert!

Margaret Atwood: The Heart Goes Last. Nan A. Talese/Doubleday, New York. 2015. 308 Seiten.

Ich konnte noch keine Informationen zu einer Übersetzung finden.

Eine weitere tolle Besprechung gibt es bei Binge Reading & More.

Mehr Gedankenspiele von Margaret Atwood gibt es hier:

Der blinde Mörder

Oryx und Crake

Das Jahr der Flut

Die Geschichte von Zeb

Davide Longo – Der aufrechte Mann

Homo homini lupus.

 Italien im Jahr 2045. Die Grenzen sind gesperrt, die Bevölkerung ist eingeschlossen. Fernseh- und Radiosender laufen auf Endlosschleife, Zeitungen bekommt man, wenn überhaupt, erst Wochen später. Polizei und Militär existieren nicht mehr.

Leonardo, ehemaliger Literaturprofessor, 52 Jahre alt, hat sich nach einem Vorfall an der Universität vor acht Jahren in sein Elternhaus auf dem Land zurückgezogen. Er lebt dort allein, seine Frau hat ihn mit seiner Tochter verlassen damals. Benzin und gewisse Vorräte sind schwierig zu bekommen, und so sorgen die Dorfbewohner für alle, einer besorgt Benzin, ein anderer Öl, ein nächster Zigaretten. Die Gemeinschaft hält zusammen, hilft sich aus, doch einer nach dem anderen verlässt das Dorf und macht sich Richtung Grenze auf, in der Hoffnung, einen Passierschein zu bekommen.

Eines Tages steht Leonardos Frau vor der Tür, sie sagt, sie wolle ihren neuen Mann suchen, der verschollen ist. Er soll sich um die Tochter, Lucia, und ihren Sohn aus zweiter Ehe, Alberto, kümmern. Lucia ist sehr verschlossen ihm gegenüber, aber Alberto lebt vollkommen in sich zurückgezogen. Leonardo weiß nicht, was sie gesehen oder erlebt haben. Das Leben wird immer schwieriger, keinerlei Nachrichten erreichen das Dorf, die Banken schließen, Lebensmittel werden rar.

Und dann sind da die marodierenden Banden, die durchs Land ziehen, plündern und zerstören, vergewaltigen und morden. So wird auch Leonardos Haus geplündert, und er fühlt sich nutzlos, hat er es doch geschehen lassen und nichts dagegen unternommen. Doch er ist kein Kämpfer, und er sagt sich, unversehrt zu überleben ist wichtiger als die Dinge im Haus. Sie ziehen in das Haus eines Freundes, der das Dorf schon lange verlassen hat. Aber Leonardo weiß, hier können sie nicht bleiben.

Was nun beginnt, ist eine lange Odyssee Richtung Meer, in der Hoffnung, dort nach Frankreich übersetzen zu können. Es wird ein Marsch durch Kälte und Hunger, bei dem eine kleine Verletzung das Leben kosten kann. Die Menschen, die Waffen haben, haben das Recht. Und so wandern sie mit nicht mehr als den Kleidern am Leib dem Meer entgegen.

Gruppen haben sich zusammengeschlossen, in der Gemeinschaft ist man sicherer. Doch der Preis, den man bezahlen muss, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, ist hoch. Und dann gibt es die, die einfach wie ein Gebrauchsgegenstand behandelt, ihrer Menschlichkeit beraubt werden. Wie die Frauen. Will man sein Leben behalten, muss man Dinge aufgeben.

Sie treffen auf eine Gruppe, die so etwas wie einen neuen Jesus, einen neuen Heilsbringer hat. Die Methoden, die er anwendet, um seine Gefolgschaft unter Kontrolle zu halten, sind grausam, aber effektiv. Brot und Spiele sind immer noch funktionierende Hilfsmittel, um den Mob unter Kontrolle zu halten.

Leonardo aber versucht stets, seine Menschlichkeit zu behalten. Er ist ein friedfertiger Mensch, und doch ist er gezwungen, sich anzupassen. Er lernt dies auf grausame Weise. Er sieht das Licht aus so vielen Augen weichen, aber sein Licht will er behalten. Alles, was für ihn zählt, ist, Lucia in Sicherheit zu bringen.

Dieser Weg, den er gehen muss, ist mit Unmenschlichkeit gepflastert. Innerhalb kürzester Zeit scheint jegliche Zivilisation zum Teufel geschickt worden zu sein, und übrig bleibt nur das Animalische. Und so muss der Leser einen guten Magen mitbringen, will er diese Geschichte bis zum Ende verfolgen. Denn die schlimmsten Albträume werden wahr, homo homini lupus.

Es gibt Lichtblicke, Menschen, die sich Menschlichkeit bewahrt haben, die aber auch die leichtesten Opfer abgeben. Tiere, die sich an der Seite der Menschen durchkämpfen, mit ihnen und für sie. Stille Begleiter, die sich nicht beirren lassen.

Aber im Gegensatz zu der herrschenden Grausamkeit, zur kompletten Entmenschlichung, die ihnen überall entgegenschlägt, sind sie Tropfen auf einen heißen Stein. Tut man nicht besser daran, das Ich aufzugeben und mit allen Mitteln ums Überleben zu kämpfen? Oder sind die Tropfen, die Menschlichkeit, die Fürsorge, Freundschaft, das Mitgefühl, das, was einen am Ende am Weitesten bringt?

Dieser Roman hat mich viel gekostet. Es ist eines dieser Bücher, die ich nicht mehr vergessen werde. Longo lässt die schlimmsten Albträume wahr werden, er lässt zweifeln, ob die Zivilisation überhaupt eine Errungenschaft ist, und ob die Menschheit, wenn es nur ums pure Überleben geht, sie abwirft wie eine Haut und zum Wolf wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Umstände nie so sein werden, dass wir es erfahren. Longo kreiert mit ruhiger Stimme eine Welt, die einen schaudern lässt, die sich tief unter die Haut gräbt. Diese Ruhe macht das Szenario umso beängstigender, der Leser kann Leonardos Verwirrung, seine Angst, aber auch sein Verlangen, sich nicht selbst aufzugeben, genau mitverfolgen und nachvollziehen. Er gibt dem Leser Leonardo als Körper, aber setzt ihn hinein, so dass er mit ihm beobachten und abwägen kann, was er als nächstes tut.

Wer Mut und einen guten Magen mitbringt, wird in diesem Buch einen großen Gewinn erfahren. Denn es wirft viele Fragen und Gedanken auf, auch, wie man sich selber stellt in seinem Leben. Es ist eine Dystopie, aber ist es? Das sollte jeder für sich herausfinden. Viel Glück.

Foto by Paolo Giagheddu

Foto by Paolo Giagheddu

Davide Longo wurde 1971 in Carmagnola im Piemont geboren. Er lebt in Turin und unterricht am Literaturinstitut Scuola Hlden. Neben Prosa verfasst er Hörspiele und Drehbücher für Kurzfilme.

Davide Longo: Der aufrechte Mann. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, 2012. 488 Seiten.

Juli Zeh – Corpus Delicti. Ein Prozess

Juli Zeh wurde am 30. Juni 1974 in Bonn geboren, sie ist Juristin und Schriftstellerin.  Sie studierte Rechtswissenschaften in Passau, Krakau, New York und Leipzig, machte ein Praktikum bei der UNO. Schon vor dem Abschluss ihres Jurastudiums begann sie in Leipzig ein Studium am Deutschen Literaturinstitut, das sie 2000 abschloss. Sie engagiert sich gesellschaftlich und politisch, unter anderem ist der Datenschutz ein ihr wichtiges Thema. Zu den Literaturpreisen, die sie erhalten hat, gehören unter anderem der Per-Olov-Enquist-Preis und der Thomas-Mann-Preis.

Bild: Berliner Zeitung, 17.09. 2013

Bild: Berliner Zeitung, 17.09. 2013

Juli Zeh hat Corpus Delicti  im Deutschland des Jahres 2057 angesiedelt. Das Wichtigste ist den Menschen die Gesundheit. Sämtliche Krankheiten sind ausgerottet, Menschen kennen keinen Schmerz (wobei ich doch glauben würde, dass, solange es z.B. Türen und Tische gibt, Menschen sich die Ellenbogen oder Knie stoßen). Dies ist nur möglich, wenn man die Regeln befolgt, was bedeutet, dass man z.B. seinen täglichen vorgegebenen Trainingsplan absolviert. Tut man dies nicht, macht man sich strafbar. Ebenso macht man sich strafbar, wenn man in den Wald geht, der ist nun eine gesperrte Zone (zu gefährlich), am Fluss sitzt (zu gefährlich), und ein Kapitalverbrechen wäre dann das Rauchen einer Zigarette, vor allem im Wald, im Fluss.

Diese Gefahr reizte Moritz Holl, der nicht genug kriegen konnte von der sauberen frischen Lust im Wald, und sogar seine Schwester Mia oft dorthin mitnahm. Moritz, der Draufgänger, zeigte Mia, der rationalen Naturwissenschaftlerin, dass es mehr im Leben gibt als die Regeln zu befolgen, und dass man bei Nichtbefolgen nicht sofort tot umfällt.

Mia, in dem System aufgewachsen, glaubt aber daran. Sie glaubt, dass es den Menschen so besser geht. Auch wenn man dafür auf Dinge verzichten muss, wie Blumen, die nun mit den entsprechenden Duftstoffen angesprühte Plastikblumen sind. Oder dass man sich damit arrangieren muss, nur mit einem Partner zusammenleben zu dürfen, dessen Immunsystem mit dem eigenen kompatibel ist. Sie glaubt, dass seien kleine Preise, kleine Einschränkungen, die man für ein Gesellschaftssystem bezahlt, das schließlich nur das Beste für die Menschen will und tut. Für die „Methode“, die als unfehlbar gilt.

Doch dann bringt Moritz sich um. Er wurde des Mordes für schuldig befunden, seine DNA wurde am Opfer nachgewiesen. Er beteuerte seine Unschuld, doch niemand glaubte ihm. Schließlich folgte er auch nicht immer der „Methode“, sondern ging Risiken ein, und die „Methode“ ist unfehlbar – sowohl bei den Regeln als auch bei den Beweisen, wenn sie seine Schuld feststellt, ist er schuldig.

Doch Mia verzweifelt am Tod ihres Bruders, folgt nicht mehr den Instruktionen, weist nicht ihr Training nach und die Maßnahmen, die sie erfüllen muss. Stattdessen ist sie traurig, abwesend, und, dank ihres Bruders, hat sie eine imaginäre Freundin, an der sie Ideen austestet. Ideen, die der „Methode“ gar nicht gefallen würden. Und so landet Mia vor Gericht, das erste Mal allerdings wegen nicht erfüllter Trainingspläne, sie hat ihre oberste Bürgerpflicht nicht erfüllt.

Aber Mia fordert eine Zeit für sich, eine Zeit zu trauern. Und so landet sie erneut vor Gericht. Sie bekommt einen Anwalt, der ihr wirklich helfen will, da auch er nicht „normal“ ist, liebt er doch eine Frau, deren Immunsystem nicht zu seinem passt. Und er findet eine unglaubliche Wahrheit heraus: Moritz ist unschuldig, da er als Kind eine Knochenmarkstransplantation erhalten hat und somit fremde DNA.

Es ist, als bebe die Welt. Menschen fangen an zu zweifeln, stellen sich auf Mias Seite, das System gerät in Gefahr. Doch das kann auf keinen Fall passieren. Aber dann gibt es ja auch die Menschen, die nach wie vor daran glauben, dass die „Methode“ die beste aller Möglichkeiten sei, und sie deshalb aggressiv verteidigen. Allen voran der attraktive Reporter mit dem sprechenden Namen Heinrich Kramer… g-zeh-corpus

Juli Zeh hat mit Corpus Delicti eine Dystopie verfasst, die nicht in allzu weiter Zukunft liegt, deren Anfang schon in der Gesellschaft implementiert ist. Der Idealkörper ist für viele Menschen das Wichtigste auf der Welt, wer die Idealmaße nicht besitzt, ist zu faul, Sport zu machen. Wer keinen Spaß am Sport hat, ist ja nur zu faul. Wer nicht täglich nur mit den frischesten Sachen kocht, ist nur zu faul. Verbote für alles, was dem Körper schadet, werden diskutiert oder sind schon durchgeführt. Wer sich einmal schadet, braucht kein Mitleid zu erwarten.

Die Überwachung ist nur einen Schritt entfernt. Auch wenn das heute noch als „schick“ angesehen wird, weil man zeigt, dass man sich die Geräte leisten kann, die dann sämtliche Körperfunktionen an einen anonymen Rechner und damit ins Datenparadies sendet. Datenspeicherung ist nicht gewollt, aber jeder soll sehen, wie toll man heute z.B. gelaufen ist. Schicken wirs über Twitter an die Welt.

Die Entwicklung ist beängstigend, und Juli Zeh legt genau den Finger darauf. Sie zwingt dazu, sich damit auseinander zu setzen, was man will. Denn früher oder später muss man eine Entscheidung treffen. Entweder man ist ein gläserner Mensch und sendet alles in die Welt hinaus, und dann muss man mit der Überwachung rechnen. Oder man ist nicht durchsichtig, sendet nicht alles in die Welt, nimmt aber in Kauf, dass man weniger Sicherheit hat. Man kann nicht Beides haben. Und gerade bei den ganzen Diskussionen der letzten Wochen, Monate und Jahre sollte man sich diese Fragen stellen.

Und unbedingt dieses Buch lesen, das man vielleicht in einem Rutsch durchliest, dann aber noch lange mit sich herumträgt. Wenn nicht im Positiven, so doch im aufrüttelnden Sinne.

Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 264 Seiten.

 

Margaret Atwood – Die Geschichte von Zeb

Dritter Teil der MaddAddam-Trilogie

Im dritten Teil wendet sich Margaret Atwood sowohl einem Teil der Vorgeschichte als auch den Auswirkungen der „Großen Flut“ zu. Die Vorgeschichte ist die Geschichte von Zeb, sie erzählt von seiner Kindheit und wie es kam, dass er Teil der MadAddamiten-Gruppe ist. Die andere Geschichte ist die des weiteren Überlebenskampfs der restlichen Verbliebenen.

zebEinige der übriggebliebenen Menschen haben sich eine Zuflucht aufgebaut. Dort kämpfen sie ums tägliche Überleben, was ein wenig vereinfacht wird durch die Erfahrungen, die die ehemaligen Gottesgärtner mitbringen. So ist das Leben zwar schwer, aber zu bewältigen. Auch die Craker sind bei ihnen, sie sind besorgt um Schneemensch-Jimmy, der schwerverletzt ist und sowohl von Toby als auch von den Crakern gepflegt wird.

Feinde sind die allgegenwärtigen Organschweine, die den Garten verwüsten und bei Gelegenheit auch Menschen angreifen und essen. Und dann sind da noch die ehemaligen Painballer, die jedes menschliche Attribut verloren haben und nur auf Rache und Zerstörung aus sind.

Da Schneemensch-Jimmy verletzt ist, übernimmt Toby die Aufgabe, den Crakern von Crake und Oryx zu erzählen, und auch von der Welt im Allgemeinen. Sie verstehen oft nicht, was Toby meint, vor allem, wenn von Gewalt, Hass und Tod die Rede ist. Doch mit der Zeit nehmen sie Toby als Quelle des Wissens an. Und so wird Zebs Geschichte erzählt, zuerst von Zeb an Toby, die seine „Gefährtin“ wird, und dann von Toby an die Craker, die Zeb nun ebenfalls als eine Art von Prophet und Beschützer ansehen, dies nicht zuletzt, weil er der Bruder von Adam ist, dem Gründer der Gottesgärtner.

In diesen Erzählungen kommt eine Welt zum Vorschein, die praktisch nur noch den Kampf jedes Einzelnen für sich kennt. Geld und Überleben, das sind die Werte, die zählen. Einmal mehr wird offensichtlich, was Crake getrieben haben mag. Äußerst großartig ist Atwoods Coup, Adams und Zebs Vater als „Hochwürden“ darzustellen, das Oberhaupt der Kirche „Church of PetrOleum“, einer Sekte, die dem Öl huldigt.

„Sie dankten dem Allmächtigen, dass er die Welt mit CO2-Ausstößen und Giftstoffen gesegnet hatte, richteten den Blick gen Himmel, als wenn das Benzin von oben käme, und sahen dabei höllisch gottgefällig aus. […] Hochwürden hatte sich eine Theologie zurechtgezimmert, um möglichst effektiv die Kohle einzustreichen. Natürlich hatte er das Ganze auf der Bibel gegründet. Matthäus 16,18: ‚Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich bauen meine Gemeinde.‘ […] Es ist keine höhere Mathematik, hat Hochwürden immer gesagt, dahinterzukommen, dass Petrus das lateinische Wort für Stein ist und dass ich die wirkliche und wahre Bedeutung von ‚Peter‘ auf ‚Petroleum‘ bezieht oder dass Öl aus dem Stein kommt.'“ (146/147)

Man könnte sich totlachen, würde einem dieses Lachen nicht im Halse steckenbleiben angesichts Hochwürdens Erfolg. Und dies ist nur ein Beispiel für die Welt, wie sie nun ist. Und all diese Beispiele, so grotesk sie auf den ersten Blick scheinen, wirken beim zweiten Blick nicht mehr so abwegig, was die Lektüre oft sehr beklemmend macht.

Doch so hart das Leben nun, nach der großen Flut auch ist, es gibt doch auch Positives. Die Menschen sind gewungen, sich zu arrangieren. Zum einen mit den Crakern, was trotz der Verständnisschwierigkeiten recht gut gelingt, vor allem durch Einfühlung, vor allem von Toby. Einer der Craker, Blackbeard, ein kleiner Junge, hat besondere Zuneigung zu ihr gefasst, und vermittelt viel Vertändnis zwischen den beiden Gruppen.

Doch da sind immer noch die Painballer, die permanent wie eine zusätzliche Bedrohung über ihren Köpfen schwebt. Hier bekommen sie Hilfe von unerwarteter Seite: die Organschweine, mit denen unter anderem Hirnmasse für Menschen gezüchtet wurde und die deshalb ziemlich intelligent sind, bitten die Menschen um Hilfe, denn auch ihnen haben die Painballer zugesetzt. Und so kommt es zu einer außergewöhnlichen Allianz, auch hier unter Vermittlung der Craker.

Ich weiß gar nicht so recht, wie anfangen soll, über dies Buch zu urteilen. Zuerst einmal: ja, es ist ein absolut würdiger Abschluss der Trilogie, und ich wünschte, ich hätte die Bücher direkt am Stück gelesen, so dass mir noch mehr Details aufgefallen wären. Doch auch so sind es genügend. Diese Welt, die Margaret Atwood geschaffen hat, hat mich so beeindruckt und sich meinem Hirn so nachhaltig eingepresst, dass es von nun an wohl oft der Fall sein wird, dass ich Bilder hieraus sehe, wenn ich an die Zukunft denke oder irgendetwas passiert, das auf eine derartige Entwicklung schließen lässt. Diese Welt ist zersetzt von Verzweiflung und Bösartigkeit, von Egozentrismus und, ja, Dummheit.

Crake tut etwas Unvorstellbares, aber man kann ihn nicht vollkommen verurteilen. Vor allem, wenn man die Welt danach sieht, die zumindest völlig neue Möglichkeiten offenbart. Man kann Arbeiten über dieses Buch bzw. die Trilogie schreiben, zum Beispiel über die „Rückkehr der Schrift“ oder wie sofort nach Neuanfang ein neuer Gott geschaffen wird, der auch für die Craker das Wichtigste zu sein scheint, und dessen „Wort“ sie tagtäglich zu hören verlangen. Und wie die Menschen ihnen genau das geben, anstatt den Neuanfang als genau solchen zu nehmen und dies gar nicht erst zu installieren. Dies lässt darüber nachdenken, inwieweit Kultur und Glauben überlebensnotwendig sind, und ob es überhaupt möglich ist, ohne eine „höhere Macht“ zu leben bzw. eine Gesellschaftsordung aufzustellen.

Ich möchte jedem diese Trilogie unbedingt ans Herz legen. Ich glaube, mich persönlich werden Teile von ihr für den Rest meines Lebens begleiten, und obwohl ich gerne mehr erfahren würde, finde ich, dass Margaret Atwood einen würdigen Abschluss gefunden hat, mit Kloß im Hals und ein wenig Hoffnung im Lächeln unter Tränen. Es ist ein außergewöhnliches Gedankenexperiment, das auf den zweiten Blick nicht so weit hergeholt ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Und mit diesem sollte man sich durchaus einmal auseinandersetzen. Im Nachwort schreibt Frau Atwood:

„Obgleich „Die Geschichte von Zeb“ ein fiktionales Werk ist, gibt es darin keine Technologien oder Biowesen, die nicht bereits existieren, sich im Bau befinden oder theoretisch möglich wären.“

Margaret Atwood: Die Geschichte von Zeb. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Berlin Verlag, 2013. 477 Seiten.

Die Vorgeschichte:

Oryx und Crake

Das Jahr der Flut

Eine weitere Besprechung gibt es bei Bingereader.

Darren Aronofsky hat sich die Rechte gesichert, eine TV-Serie aus dem MaddAddam-Stoff zu machen. Ich hoffe, das wird passieren!