Margaret Atwood – Die Zeuginnen

Nun ist sie also da, die langerwartete Fortsetzung von Der Report der Magd. Oder eigentlich ist es ja die zweite Fortsetzung – ist die erste Staffel von „The Handmaid’s Tale“ noch eng an den Roman gebunden, führen die beiden nächsten die Story fort, ebenso, wie dies Die Zeuginnen tut.

Man kann jetzt natürlich sagen, dass Der Report der Magd so gut war, dass man diesen Roman so stehen lassen sollte, als ein in sich abgeschlossenes Meisterwerk, dass alles, was man dazu dichtet, überflüssig sei und unerwünscht. Oder man kann den ersten Roman als Basis ansehen, einen Entwurf einer Welt, und weitere Details hinzufügen, andere Stimmen zu Wort kommen, Hintergründe entstehen lassen und unterschiedliche Seiten beleuchten.

Denn, wenn man sich darauf einlässt, bekommt man durch die Serie und nun auch den Folgeroman neben der doch ziemlich schwarz-und-roten, oder eher schwarzen Handlung des ersten Romans neue Schattierungen. Zugegeben, sie sind außer schwarz und rot nicht vielfarbig, sie sind grün und blau, manchmal rosa, sehr oft grau. Aber für mich ist sowohl mit der Serie als auch mit dem zweiten Roman eine stimmige Fortführung dieser Welt entstanden, die – natürlich – nicht perfekt ist, aber doch viele gute Ansätze und Details verarbeitet hat.

Die Handlung von Die Zeuginnen setzt 15 Jahre nach den Ereignissen aus Der Report der Magd an. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern Margaret Atwood die Geschehnisse der Serie berücksichtigt hat, zumal ja auch noch eine vierte Staffel kommen soll. Aber ich denke, man kann alles vereinen.

Die Zeuginnen sind nun drei Frauen, die Zeugnis ablegen über die Ereignisse aus Gilead. Von diesen drei Frauen gibt es einmal ein schriftliches Zeugnis, einen Bericht, der offensichtlich von der Gebildetesten der drei verfasst wurde und die Ereignisse von den Anfängen Gileads bis „heute“ thematisiert. Die anderen beiden Zeugnisse sind mündliche Protokolle, Zeugenaussage 369A und Zeugenaussage 369B. Eine dieser Aussagen stammt von einer Frau, die in Gilead aufgewachsen ist, die andere von einer Frau, die in Kanada groß wurde.

Hier kommt jetzt die Verbindung zur Serie ins Spiel, diejenigen, die sie gesehen haben, werden nicht viel Mühe aufwenden müssen herauszufinden, wer die drei Frauen sind. Ich werde dies an dieser Stelle nicht schreiben. Was ich schreiben werde, ist, dass durch diese drei Sichtweisen viele Hintergründe hinzukommen. Einmal, wie es dazu kam, dass Gilead entstehen konnte und wie die Tanten so viel Macht bekommen und halten konnten. Die für mich interessanteste Perspektive war diejenige der in Gilead aufgewachsenen Frau, deren ganzes Weltbild auf den Lehren dieses „Gottesstaates“ beruht und die, obwohl so viel dagegen unternommen wurde, doch selbstständig denken kann. Die dritte Perspektive, diejenige aus Kanada, ist eine, die nicht so schwierig nachvollziehbar ist, leben wir sie doch alle: „Sieh mal, was für Zustände in diesem Land herrschen, fürchterlich, die Armen“ usw.

Die Zeuginnen ist mit Sicherheit nicht Margaret Atwoods stärkster Roman, er rangiert noch nicht mal unter den Top 5, denke ich, aber für mich ist er dennoch wichtig und gelungen. Der Report der Magd war seit dem ersten Lesen, da war ich Anfang 20, Teil von mir, oft habe ich über diese Welt, die Atwood da erschaffen hat, nachgedacht und Dinge wiederentdeckt, die in der Weltgeschichte geschahen und geschehen. Trump hat ohne Zweifel vieles wieder hervorgeholt, manchmal meint(e) man, er benutze den Roman als Vorlage. Die in diesem Zuge entstandene Serie, die der Geschichte mehr Hintergrund gegeben hat, auch und vor allem auch durch die Perspektive von der anderen Seite, die der Ehefrauen, und der Roman, der die der Tanten und Töchter Gileads mitbringt, sind für mich eine absolut gelungene Ergänzung. Ich kann aber auch die Stimmen verstehen, die den ersten Roman so für sich stehen lassen wollen.

Eine weitere  Besprechung findet Ihr bei Nettebuecherkiste.

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Deutsch von Monika Baark. Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH 2019. OA: The Testaments. PenguinRandom House Toronto/New York/London 2019. 573 Seiten.

Frank Schätzing – Die Tyrannei des Schmetterlings

Vieles schon habe ich von ihm gelesen, angefangen mit seinem Historienroman „Tod und Teufel“ über den „Schwarm“ zu „Limit“. Nun also „Die Tyrannei des Schmetterlings“, Schätzings neuer, wieder sehr umfangreicher Roman, für den er sich in das Gebiet der künstlichen Intelligenz begibt.

Protagonist des neuen Romans ist Luther Opoku, Sheriff eines kleinen Countys in den USA, zweihundert Meilen vom Silicon Valley entfernt. Er wird zu einem Mord hinzugerufen, eine Mitarbeiterin der Nordvisc Inc., eines großen Internetunternehmens, wird tot aufgefunden. Er beginnt zu ermitteln. Diese Ermittlungen führen ihn zu einer geheimen Forschungsstation des Unternehmens, das jahrelang genau unter seiner Nase verborgen in den Wäldern seines Countys lag. Hier beginnt die nun die Wirklichkeit aufzubrechen…

Er wird freundlich aufgenommen bei Nordvisk, man beantwortet seine Fragen, ist besorgt um die Mitarbeiterin. Aber etwas scheint nicht so wie es sein sollte, und Luther kehrt zurück, nachdem er brisantes Material findet. Nun ist man nicht mehr so freundlich und hilfsbereit, er wird zum Gejagten. Als er über eine geheimnisvolle Brücke läuft, findet er sich in seinem Ort wieder. Same same but different. Etwas ist anders.

Er muss feststellen, dass er in einem Paralleluniversum gelandet ist, aber auch hier ein Gejagter ist. Er wehrt sich, findet Verbündete und Teilchen um Teilchen deckt er eine undenkbare Realität auf, die ihn in Dimensionen führt, die er sich vorher nicht einmal hat vorstellen können…

Frank Schätzing hat in seinem neuen Roman das Thema der Künstlichen Intelligenz aufgegriffen, und tut das gewohnt umfangreich, wobei er Virtual Reality, Paralleluniversen, Datamining, und was nicht noch alles in seine Story mit einbezieht. Das ist eine ganze Menge, da vieles Zukunftsmusik ist und manches Theorie, und mit dem Darstellen und Erklären könnte der Eine oder die Andere, wie ich auch, manchmal einige Probleme bekommen.

Dazu bedient sich Schätzing wieder einer sehr ausufernden Sprache, er nimmt sich viel Zeit, seinen Plot zu entwickeln, schafft es jedoch auch, ihn manchmal filmisch wirken zu lassen – also, sich die Szene entwickeln zu lassen und dann, wie in einem Actionfilm, die Handlung in den Zeitraffer zu werfen. Diese Teile lesen sich auch ratzfatz weg. Die anderen muss man mögen, das langsame Ausbreiten des Panoramas, die umfangreichen Erklärungen der handelnden Personen, die daraufhin manchmal nicht soo überraschenden Entwicklungen.

Ich bin ein wenig zwiegespalten. Ich mochte vor allem den „Schwarm“ sehr gerne, hat er mir doch damals eine Gedankenwelt eröffnet, die mir nicht präsent war, mich aber seitdem begleitet. Auch seine Landung auf dem Mond in „Limit“ habe ich gerne gelesen, obwohl ich mich auch hier an so einiges Langwierige erinnere. Hier nun war ich des Öfteren kurz davor, das Buch beiseite zu legen, da die Story nicht vorankam. Die ausschweifenden Beschreibungen sind meines auch nicht, ich hätte gerne etwas mehr Tempo gehabt.

Die Story jedoch hat mich interessiert, genug, um am Ball zu bleiben. Ich wollte wissen, worauf er hinauswill, ich wollte herausfinden, was es mit allem auf sich hatte, ich wollte sehen, wie es den (verschiedenen) handelnden Personen ergeht. So muss ich am Ende sagen, dass ich dieses Buch einigermaßen zwiegespalten beiseite lege.

Frank Schätzing: Die Tyrannei des Schmetterlings. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 2018. 734 Seiten.

Ich danke Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar. Meine Meinung wurde in keiner Weise beeinflusst.

Haruki Murakami – Die Ermordung des Commentarore II – Eine Metapher wandelt sich

Nun ist er also da, der zweite Teil von Murakamis neuestem Werk. Teil 1 führt in die Geschichte ein, die nun nahtlos fortgeführt wird. Der namenlose Ich-Erzähler fährt damit fort, das Porträt der jungen Marie zu malen und freundet sich mit ihr an. Sie erzählen von ihren Leben und den Menschen, die sie verloren haben, und eine Verbindung entsteht zwischen ihnen.

Er malt aber nicht nur Marie, sondern folgt seinen Eingebungen und malt andere Bilder, in denen er seinen eigenen Stil entwickelt, weg von der Porträtmalerei. Er scheint etwas zuversichtlicher zu werden, doch dann geschehen mehrere Dinge, die ihn aus der Bahn werfen. Sein alter Freund, der Sohn des Malers, offenbart ihm eine Entwicklung, die er nicht kommen sah und die ihn zurückführt zu einem Traum, den er Monate zuvor hatte.

Und dann verschwindet Marie. Ihre Familie, der geheimnisvolle Menshiki und der Maler machen sich auf die Suche nach ihr, haben jedoch keinen Anhaltspunkt. Bis der Commendatore beim Maler auftaucht und ihn in die richtige Richtung lenkt. Der Maler muss ein großes Opfer bringen, um Marie zu retten und lernt dabei viel über sich selbst…

Die Fragen, die Murakami im ersten Teil seiner Geschichte aufwirft, werden – wie immer – nur zum Teil beantwortet. Das Reich des magischen Realismus sieht auch nichts anderes vor, es wirft einen in eine Welt, in der die Grenzen dessen verschwimmen, was real und was nicht real ist. So folgt der Leser der Figur und versucht, mit ihr herauszufinden, wie man sich durch die Welt(en) und somit auch sein Leben kämpfen kann.

Einige von Murakamis anderen Werken streifen die Geschichte, entwickeln sich aber schnell vom bekannten zum neuen Abenteuer, so dass das, was man sich vorher erarbeitet hatte, schnell nichtig wird und neu beantwortet werden muss. Das Reich der Phantasie ist groß bei Murakami, und oft ist und bleibt es genau das, ein Reich, in dem alles möglich scheint und nichts logisch sein muss.

Murakami arbeitet mit Ideen und Metaphern, hier im Bereich der Kunst. Bilder und Sprachbilder, die aus einer Idee heraus entstehen, sich im Erschaffungsprozess, aber auch über die Zeit hinweg wandeln können. Ist das, was wir sehen oder lesen, das, was der Maler oder Autor ausdrücken wollte? Hatte er das im Sinn, als er sein Werk erschuf? Und sieht man es nach Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten noch genau so? Oder hat sich der Sinn gewandelt, wurde die ursprüngliche Intention verändert, abgetötet, neu erschaffen?

Wie immer liest sich auch der zweite Teil der „Ermordung des Commendatore“ Murakami- und Gräfe-großartig und flüssig, so dass man den Roman nicht aus der Hand legen kann. Ich hatte jedoch auch meine Schwierigkeiten damit, denn er packt eine ganze Menge in seine Geschichte hinein, das nicht so schnell klar wird und ich bin ziemlich sicher, ich habe nicht alles verstanden. Ich denke nun schon seit Tagen darüber nach, und muss sagen, dass das Schreiben darüber geholfen hat, aber ich wohl nie alles verstehen werde.

Aber ich nehme an, das war auch nicht Murakamis Plan.

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore II. Eine Metapher wandelt sich. DuMont Buchverlag Köln, 2018. OA: Kishidancho goroshi.Killing Commendatore. Shinchosha, Tokio, 2017. 489 Seiten.

Ich danke dem DuMont Buchverlag für das Rezensionsexemplar.

David Mitchell – Die Knochenuhren

Meine Lieben,

mir ist etwas passiert, das schon einigen von Euch auch geschehen zu sein scheint, das ich bisher aber immer als „Ich-doch-nicht!“ abgetan habe: Ich habe eine Lese- und vor allen Dingen Schreibflaute gehabt. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob sich das jetzt wieder gelegt hat, aber ich habe meinen Blog und somit auch Euch schon ziemlich vermisst. Ich habe trotzdem in der Zeit ein paar, wenn auch nicht viele, Bücher gelesen und beabsichtige, diese in den nächsten Wochen zu resensieren. Das erste davon hat mir eine liebe Kollegin geliehen, und es zog mich einigermaßen aus der Flaute heraus. Here we go.

Ich habe damals David Mitchells Wolkenatlas sehr geliebt, und auch sein Roman „Der dreizehnte Monat“ hat mir sehr gut gefallen. Nun bekam ich also die „Knochenuhren“ in die Finger und einmal mehr bin ich überrascht von Mitchells vielschichtiger Schreibe.

Wie der Wolkenatlas auch ist dieser Roman in mehrere Geschichten unterteilt, die in den 1980ern beginnen und bis in die Zukunft im Jahr 2043 reichen. Jede Geschichte wird von einer anderen Person erzählt, ist aber mit den anderen verknüpft. Es beginnt nun also in den 80ern, als ein wütender Teenager namens Holly Sykes von zu Hause wegläuft, weil die Eltern ihren Freund nicht gutheißen. Warum dies so ist, wird Holly schnell herausfinden, und sie läuft einfach weiter. Unterwegs trifft sie einen Bekannten aus der Schule, der ihr weiterhilft, und eine geheimnisvolle ältere Frau, die sie um etwas bittet. Am nächsten Tag jedoch bekommt sie eine schreckliche Nachricht, die ihr für den Rest ihres Lebens Schuldgefühle vermitteln wird…

Hugo Lamb ist College-Student, Schnösel und Schmarotzer. Er hat es in eine Gruppe von reichen Studenten geschafft und ist nun das Anhängsel mitten drin. In den Ferien in den Schweizer Alpen im Haus eines dieser „Freunde“ erlebt er sonderbare Dinge, die sein Leben komplett verändern werden…

Der Kriegsreporter Ed Brubeck war an den gefährlichsten Orten der Welt und hat unglaublich viel Schlimmes gesehen und erlebt. Dennoch kann er nicht von seiner Aufgabe, seiner Berufung lassen. Frau und Kind müssen zurückstecken, doch eines Tages erlebt er etwas, das ihn vollkommen aus der Bahn wirft…

Crispin Hershey ist Schriftsteller, er hatte in jungen Jahren einen Riesenerfolg und jagt diesem Ruhm seitdem hinterher. Er ist kein angenehmer Mensch, was ihn in eine ziemliche Isolation getrieben hat. Nur ein paar Bekannte hat er, die ihm weiterhelfen, aber Schuld und Sühne kann auch er nicht entkommen…

Zwischen all diesen Geschichten bestehen Zusammenhänge, unerklärliche Dinge geschehen, Menschen verschwinden spurlos, andere tauchen auf einmal wieder auf. Marinus, die Figur in der nächsten Geschichte, weiß einiges darüber, und über den großen Kampf, der ihnen bevorsteht…

Das letzte Kapitel schließt dann im Jahr 2043 an und ist etwas anders als die anderen. Zuerst war ich etwas irritiert, aber im Nachhinein hat mich dieses Kapitel am meisten beeindruckt. Tatsächlich gibt es mir immer noch zu denken und macht mich etwas paranoid, was ich unbedingt auf David Mitchells mitreißende Schreibe zurückführe. Dieses Kapitel ist, wie der ganze Roman, mitreißend und spannend geschrieben. Auch, wenn das Thema nicht unbedingt meins ist und ich vieles davon als, sagen wir einmal, „esoterisches Geschwurbel“ ansehe, war es ein spannender und unterhaltsamer Schmöker, der sich rasant weglesen ließ und mit einem Knallerkapitel endete.

Wieder einmal hat David Mitchell mir große Unterhaltung gegeben und gezeigt, dass er schreiben kann. Ich bin gespannt auf seine weiteren Bücher, und weiß, was ich bei einer eventuellen neuerlichen Leseflaute zu tun habe.

David Mitchell: Die Knochenuhren. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg.Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2017. OT: The Bone Clocks. Sceptre, London, 2014. 812 Seiten.

Buch #68: Margaret Atwood – Der Report der Magd

„Glaube ist nur ein Wort, gestickt.“ (389)

„Aber ringsum an den Wänden stehen Bücherregale. Sie sind voller Bücher, Bücher, Bücher, offen sichtbar, keine Schlösser, keine Schränke. Kein Wunder, dass wir hier nicht hereindürfen. Es ist eine Oase des Verbotenen. Ich versuche, nicht hinzustarren.“ (186)

Der Report der Magd – The Handmaid’s Tale – der deutsche Titel ist hier ausnahmsweise der Bessere, weil Angebrachtere. Ein Report ist es, den Desfred uns gibt, ein Report über das Leben in einem Regime, das im späten 20. Jahrhundert in den USA entstand. Viele Faktoren spielten hinein, die Umwelt, die Umweltkatastrophen, die Religionskonflikte, AIDS, der Feminismus.

Nun ist die Welt sehr einfach. Es gibt Männer. Und es gibt drei relevante Kategorien an Frauen. Da sind die „Marthas“, die eine recht gute Stellung als Haushaltshilfe haben. Sie haben keine Rechte, sind aber vor Verfolgung mehr oder weniger sicher. Sie sind im Großen Ganzen irrelevant, nur dazu da, den Handlanger zu geben. Sie tragen grün.

Dann gibt es die Ehefrau. Die höchste Stellung, die eine Frau innehaben kann. Ehefrau. Mutter. Vorstehende des Haushalts. Repräsentation des Haushalts. Die wichtigste Position, die eine Frau haben kann. Die Wichtigste. Sie tragen blau.

Und dann gibt es die Mägde. Sie dienen als Gefäße. Falls ein hochrangiges Ehepaar nicht in der Lage ist, Kinder zu bekommen, dient die Magd als Gebärmutter. Sie trägt rot. Desfred trägt rot.

Desfred lebt als Magd bei dem „Kommandanten“, Fred, und seiner Frau Serena Joy. Sie sind kinderlos, und Desfred soll ihnen helfen. Sie wird gut ernährt und lebt wohlbehütet. Sie hat lange, verhüllende Kleider und eine Haube, die sie hindert, angesehen zu werden. Und außer einem Tunnelblick nichts zulässt. Sie darf keine persönlichen Gegenstände haben. Sie darf das Fenster nicht weiter als einen Spalt öffnen, das Glas ist bruchsicher. Sie darf nicht sprechen, außer die Floskeln, die man sie lehrte. Fromme Sprüche. Und sie darf einmal im Monat das Ritual mit dem Kommandanten vollziehen, im Schoß seiner Frau liegend, in der Hoffnung, für sie empfangen zu können.

Desfred erzählt ihre Geschichte, von ihrem jetzigen Leben, das in völliger Isolation und Abschottung von der ganzen Welt vor sich geht. Informationen zu bekommen, ist fast unmöglich. Interesse an etwas zu zeigen, kann tödlich sein. Wissen zu haben, kann zur Exekution führen.

Aber das System ist nicht vollkommen. Und Desfred gehört zur ersten Generation Frauen, die zu dieser Lebensweise gezwungen werden. Sie erinnert sich daran, wie es vorher war, als Frauen Rechte hatten, Freiheiten, Bildung, Individualität. Und sie erinnert sich daran, wie ihr alles genommen wurde. Und warum sie sich nun in ihre Rolle fügt.

Margaret Atwoods Roman aus dem Jahre 1985 ist damals ihr Durchbruch gewesen. Diese finstere Dystopie hat beim ersten Mal, als ich sie vor vielen Jahren las, so vieles bei mir ausgelöst: Ich habe eine ungeheure Faszination für Dystopien entwickelt, Margaret Atwood ist meine verehrteste Schriftstellerin, und der Anteil meiner Lektüre von Frauen liegt bei ca. 33 Prozent. All dies hat sich nun beim Wiederlesen bestätigt.

Der Report der Magd ist ein ungeheuer intensiver Roman, der perfekt kalkuliert ist. Passt man die Gegebenheiten von vor 30 Jahren an die heutigen an, ist er, gerade mit Sicht auf das letzte Jahr, wieder erschreckend aktuell. Und erschreckend ist genau das Adjektiv, das ich meine. Er nimmt einem den Atem, lässt Seite um Seite verfliegen auf der Suche nach einer Lösung, nach einem Ausweg aus dieser Situation, aus der es keinen Ausweg gibt.

Der Gedanke, dass man diese – eigentlich als Abschreckung zu verstehende – Geschichte als Handbuch nehmen könnte, hat sich mir wieder tief ins Hirn gegraben und mir einen Schlag in die Magengrube verpasst. Es darf nicht sein. Für viele Frauen ist es aber so, an so vielen Orten auf der Welt, täglich, ohne Ausweg. Man sollte dies immer vor Augen haben, immer daran denken, und dieser Roman ist eine Anmahnung all dessen.

Wie ich immer wieder zu meinem Erstaunen vernehme oder lese, gibt es anscheinend einige Menschen, die sich schwer tun mit von Frauen verfasster Lektüre. Ich kann mir beim besten Willen keinen Grund dafür vorstellen, doch scheint es so zu sein. Denjenigen möchte ich eines raten: Wenn Sie nur einen Roman, der von einer Frau geschrieben wurde, ausprobieren möchten, nehmen Sie diesen.

Denn es handelt sich auch schlicht um eine äußerst spannende Geschichte. Wie die jetzige Situation mit der damaligen und der Entwicklung zusammengebracht wird, wie stückchenweise die Welt aufgebaut und ineinander verkeilt wird, wie Desfred sich der Umstände nicht erwehren und von den Ereignissen mitgerissen wird, das ergibt einen Pageturner.

Ich weiß, das alles ist eine Menge Lobhudelei, aber ich bin diesem Roman verfallen, seit vielen Jahren schon. Er wird wohl die neue Spitzenposition in meiner Rangliste einnehmen, und mich auf jeden Fall für den Rest meines Lebens begleiten.

Ich habe den Roman ausgerechnet jetzt wiedergelesen, da ich ihn bei der Bingereaderin gewonnen habe (danke nochmal!), die ähnlich begeistert war, und weil er mit Elizabeth Moss und Joseph Fiennes als Serie verfilmt wurde, die am 26. April 2017 in den USA Premiere hat. Ich kann es kaum abwarten, jetzt noch weniger.

Margaret Atwood: Der Report der Magd. Aus dem kanadischen Englisch von Helga Pfetsch. Neuauflage im Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017. OA: The Handmaid’s Tale. MCClelland & Stewart, Houghton Mifflin, 1985; Cape 1985. 412 Seiten.

Buch #66: Kazuo Ishiguro – Alles, was wir geben mussten

Vor dem Lesen dieser Rezension: Sie enthält Spoiler und könnte eventuell die Leselust auf den Roman verderben.

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Tja, nun. Selten habe ich mich so schwer getan, etwas über einen Roman zu schreiben. Vor allem, da ich nach der Lektüre von Was vom Tage übrig blieb sehr gespannt auf dieses Buch war, dessen Verfilmung ja auch eher positiv besprochen wurde. Zudem eine Dystopie, was konnte also groß schiefgehen? Nun, so ziemlich alles.

Die Geschichte in Alles, was wir geben mussten wird von Kathy B. erzählt, einer, wie anzunehmen ist, jungen Frau, die in einem Internat aufwuchs. Sie erzählt von dieser Zeit und ihrem täglichen Leben dort, von der Schule und von ihren Freunden, insbesondere von Ruth und Tommy. Kathy und Ruth sind beste Freundinnen, Tommy ist ein jähzorniger Junge, der sich aber im Laufe der Zeit fängt und mit Ruth zusammenkommt.

Kathy erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in dem Institut, Hailsham, von ihren „Aufsehern“, von ihren Tauschmärkten, auf denen sie ihre eigenen „Kunstwerke“ gegen andere tauschen, von „Madame“, die regelmäßig vorbeikommt und „Kunstwerke“ für ihre Galerie mitnimmt. Sie wundern sich darüber, bekommen sie doch keinen Gegenwert, und Madame ist ihnen auch unheimlich, sieht sie sie doch eher an, als seien sie wilde Tiere.

Im Laufe der Erzählung gibt es also einen kleinen Hinweis nach dem anderen, aber es dauert sehr lange, bis der Leser weiß, was los ist. Der Roman ist in drei Teile geteilt, der erste erzählt von der Schulzeit, der zweite von der Zeit danach, und der dritte dürfte Kathys unmittelbare Vergangenheit darstellen. Langsam, sehr langsam entziffert sich der Leser also, was Kathy sagen will, nämlich dass sie alle Klone sind, die nur dem Zweck dienen sollen, ihre Organe zu spenden. Diese Spenden erfolgen anscheinend Stück für Stück, wobei manche nach der zweiten „abschließen“, manche bis zur vierten durchhalten, wonach ihnen alle bleibenden Organe entnommen werden und sie dann „abschließen“.

Nun braucht man aber nicht zu denken, dass irgendeiner der Klone damit größere Probleme zu haben scheint. Sie nehmen alles hin, wie es ist, und tun das, was sie tun sollen. Gerade Kathy ist sehr ergeben, nicht nur ihrer Zukunft, sondern ihrer ganzen Welt gegenüber. Ihr Erzählstil ist äußerst ruhig, emotionslos, wie ein Bericht. Und so berichtet sie, wie sie Ruth und Tommy hilft, wie sie sie wieder zusammenbringt, wie sie emotionale Momente mit Tommy verbringt, aber auch, wie sie nie etwas sagt, bis Ruth den beiden schließlich die Erlaubnis gibt, zusammen zu sein, sehr spät erst allerdings, als Tommy schon angefangen hat zu spenden. Nun ja, dann haben sie halt dann eine schöne Zeit.

Ebensowenig stellt Kathy jemals eine Frage zu ihrer „Aufgabe“. Sicher, sie wundern sich alle, wissen unterbewußt, dass mit ihnen etwas anders ist, aber sie graben lieber nicht zu tief. Zufällige Bemerkungen ihrer „Aufseher“ werden zwar registriert, aber nicht weiter hinterfragt. Als sie aus der Schule entlassen werden, erfahren sie gerüchteweise, dass Paare, die nachweisen können, dass sie sich wirklich lieben (wie auch immer das funktionieren soll), sich zurückstellen lassen können. Aber auch da forschen sie nie nach, bis Ruth ihnen sagt, sie sollen es tun. Auch das wieder viel später. Als sie dann schließlich hinter einige Geheimnisse von Hailsham kommen, auch das eher zufällig, wissen sie zwar mehr, nehmen aber auch das hin.

So ist dies ein Roman über „Schafe“, die sich willig zur Schlachtbank führen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Organspende wird hier in diesem Sinne dargestellt. Ich weiß allerdings beim besten Willen nicht, warum man ihnen ein Organ nach dem anderen entnimmt und sie sich dann erholen lässt, wobei, wenn man es so betrachten wollte, es sicherlich besser wäre, wenn schon, dann alle auf einmal zu entnehmen und den Körper keiner Regeneration auszusetzen, zumal es ja auch nicht lange weitergehen kann und dann doch alle entnommen werden.

So hat diese ganze Sache natürlich einen Beigeschmack, der sich, wie ich mir vorstelle, doch in dem einen oder anderen Kopf festsetzt und Menschen davon abhält, einen Ausweis auszufüllen. Als ein Mensch, der in unmittelbarem Umfeld eine Spende miterlebt hat, kann ich das absolut nicht nachvollziehen. Ich habe den Ausweis, seit ich 18 bin, und wenn ich tot bin, können sie gerne alles von mir haben, ich brauche es dann nicht mehr. Aber andere Menschen schon. Andere Menschen können dann weiterleben. Andere Menschen können bei ihren Familien bleiben, oder welche gründen, oder ihre Leben weiterleben. Würden mehr Menschen so denken, bräuchte man sich über solche Szenarien keine Gedanken zu machen. So einfach ist das.

Ich habe, als ich das Buch zuschlug, andere Meinungen darüber gelesen, weil ich so unglaublich erzürnt war und wissen wollte, wie es ankam (tatsächlich hauptsächlich positiv). Viele sprechen von einer Parabel auf die Gesellschaft, die Menschen, die sich nicht wehren, die ihr Leben tagein, tagaus leben ohne eine Nachfrage. Das mag ja sein, aber ich bezweifle, dass diese Menschen das Buch erreicht und sie aufrüttelt. Oder geht es vielmehr darum, dass Gentechnik die Ausgeburt der Hölle ist? Dass aber gezeigt werden soll, dass Klone auch menschliche Menschen sind, und man sich deshalb viele Gedanken darüber machen sollte, ob man sie erschafft? Geschenkt. Ich weiß wirklich nicht, was ich über diesen Roman sagen soll, außer, dass ich es für eine riesige Zeitverschwendung halte, dieses Manifest des Übersichergehenlassens zu lesen, und für eine riesige Unverschämtheit, das vor einem Thema auszubreiten, das Menschen davon abhalten könnte, Menschenleben zu retten.

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Das einzig Gute war, dass ich bemerkt habe, dass ich nach meinem Umzug keinen aktuellen Ausweis mehr hatte. Man bekommt sie beim Arzt, in Apotheken, beim Blutspenden, als Download.

Und wenn Ishiguro Eindruck hätte machen wollen, hätte er eine Heldin kreieren sollen, die um sich, ihr Leben, ihre Liebe kämpft, damit man beim Zuschlagen des Buches wenigstens nicht das Gefühl hat, in einen dumpfen Wattebausch gesteckt worden zu sein, und sich feste schütteln will, damit irgendeine Bewegung entsteht. Wie gesagt, mir ist klar, dass viele Leser diesen Roman für unglaublich gut und unglaublich weise halten, aber ich weiß nicht warum. Und, mich wird auch keiner vom Gegenteil überzeugen können, deswegen bitte ich darum, mir dies zu ersparen.

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Wilhelm Heyne Verlag, München. Verlagsgruppe Random House. 2016. OA: Never let me go. Faber and Faber Ltd., London. 349 Seiten.

Ich danke Random House für das Rezensionexemplar.

Stephen King – Der Anschlag

Stephen King wurde am 21. September 1947 in Portland, Maine, geboren. Bereits mit sieben Jahren fing er an, seine ersten Geschichten zu schreiben, seinen ersten Erfolg hatte er 1974 mit dem Roman Carrie. Insgesamt hat er bisher über 40 Romane, 100 Kurzgeschichten, Novellen und Drehbücher veröffentlicht, und zusätzlich noch Essays, Gedichte, Kolumnen und Sachbücher, vieles davon unter Pseudonym.  Der Anschlag erschien im Original im Jahr 2011.

Ich gebe es zu: bis auf Stephen King’s Das Leben und das Schreiben habe ich bisher nichts von ihm gelesen. Ich bin absolut kein Horror-Fan, weder in Buch-, noch in Film- oder Serienform. Konsequenterweise ist denn nun auch mein erster Roman von King kein Horror, sondern Fantasy. Der Anschlag (eindeutiger wäre wohl „Das Attentat“ gewesen), im Original unter dem Titel 11/22/63 erschienen, hat als Aufhänger das Attentat auf John F. Kennedy, das am 22. November 1963 verübt wurde.

anschlagJake Epping ist Lehrer, der auch eine Klasse für Erwachsene unterrichtet. Dort lässt er einen Aufsatz schreiben mit dem Titel „Der Tag, der mein Leben veränderte“. Der Hausmeister Harry, einer seiner Schüler, schreibt seine Geschichte auf, wie er als Kind fast von seinem Vater ermordet wurde, und dies tut er so eindringlich, dass er eine Eins bekommt und Jake die Geschichte nicht mehr loslässt. Als Harry seinen Abschluss besteht, nimmt Jake ihn mit in ein Diner, das seinem Freund Al gehört und unglaublich gute und unglaublich billige Burger anbietet.

Zwei Jahre später bekommt Jake einen Anruf von Al, der ihn bittet, schnellstens im Diner vorbeizukommen. Als er Al sieht, ist dieser ein alter, kranker Mann, der nicht mehr lange Zeit hat. Und Jake hat nicht viel Zeit, sich zu wundern, denn Al erzählt ihm etwas Unglaubliches: wenn er durch seine Vorratskammer geht, gelangt er direkt ins Jahr 1958, und wenn er zurückkehrt, sind nur zwei Minuten vergangen. Und er hat einen Plan, den er aber aufgrund seiner Krankheit nicht mehr ausführen kann, denn jede Rückkehr rebootet die vorherigen Ereignisse. Nun hat er Jake dazu auserkoren, seine Mission zu erfüllen: Jake soll ins Jahr 1958 zurückgehen und sich an Lee Harvey Oswalds Fersen heften, damit dieser Kennedy nicht erschießt. Al denkt, wenn Kennedy nicht erschossen wird, wird der Korea-Krieg nicht stattfinden und somit eine Menge Leid der Welt erspart bleiben.

Jake wehrt sich, geht aber probeweise einmal hinüber. Er ist fasziniert, hält die Mission aber für nicht durchführbar und Al für verrückt. Doch da Jake nun gezeigt hat, wie es funktioniert, bringt Al sich um und Jake bleibt mit seinem Wissen allein zurück. Er fasst einen anderen Plan, nämlich, Harrys Vater daran zu hindern, seine Familie umzubringen und den kleinen Harry zum Krüppel zu machen.

Er geht also zurück und beginnt dort quasi ein „neues Leben“. Doch es gibt einen großen Haken:  die Vergangenheit will nicht geändert werden, und so wehrt sie sich gegen die Eingriffe. Doch Jake schafft es. Als er wieder ins Jetzt zurückkehrt, hat sich das Leben von Harrys Familie geändert, doch nicht unbedingt zum Guten. So geht Jake wieder zurück, rebootet die Ereignisse und nimmt sich dieses Mal zum Vorsatz, Als Originalplan durchzuführen. Doch es sind fünf Jahre bis 1963, und in dieser Zeit baut sich Jake ein Leben auf, findet Freunde und lernt sogar eine Frau kennen. Dennoch verfolgt er auch Oswald, wovon er natürlich niemandem etwas erzählen kann.

Auch wenn fünf Jahre eine lange Zeit sind, rückt der Tag unerbittlich näher, und ein Attentat zu verhindern, das die Weltgeschichte verändert hat, ist eine ganz andere Sache als die Geschichte einer einzelnen Familie zu ändern, und dementsprechend wehrt die Vergangenheit sich ganz gewaltig…

Wird Jake es schaffen? Und was ist, wenn er es schafft? Was passiert mit seinen Freunden, seiner Freundin, der Welt? Dies alles breitet King genüsslich auf über 1000 Seiten aus. Sprachlich mag Stephen King nicht auf der oberen Bandbreite mitspielen, aber er versteht es absolut, spannend zu erzählen. Und so habe ich, als die Geschichte ins Rollen kam, nichts anderes getan als zu lesen, zu verschlingen, rastlos eine Seite nach der anderen umzublättern, denn diese Geschichte ist das Spannendste, was ich seit langer Zeit gelesen habe.

Und sollte es noch andere Menschen geben wie mich, die nichts mit Horror anfangen können, sich aber gerne auf ein Gedankenexperiment einlassen, so kann ich dieses Buch besten Gewissens empfehlen. Vielleicht nicht unbedingt als Urlaubslektüre, denn dann hat man nichts von seinen Ferien, die 1000 Seiten brauchen Zeit.

Stephen King: Der Anschlag. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Heyne, 2001. Original unter dem Namen 11/22/63 bei Scribner. 1056 Seiten.