Bettina Baltschev – Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur

Für Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur hat sich Bettina Baltschev auf die Spuren eines Verlages begeben, der 1933 von Emanuel Querido und Fritz Landshoff gegründet wurde. Querido, Amsterdamer Jude, und Landshoff, deutscher Flüchtling, wollten die deutschsprachige Literatur veröffentlichen, die die Nazis für verboten erklärt hatten, sie wollten all den anderen Exilanten eine Stimme geben.

Anhand ausgesuchter Plätze in Amsterdam (mit Foto!) erzählt Bettina Baltschev nun die Ereignisse, die zur Gründung des Querido Verlages führten, stellt die Personen vor und verfolgt die Geschichte des Verlages und somit die Geschichte der Exilanten. Nach einem Prolog im heutigen Amsterdam beginnt sie mit Amsterdam Centraal, der für die Ankunft Landshoffs in den Niederlanden steht. Er hatte bereits den Gustav Kiepenheuer Verlag in Berlin mitgeleitet, somit das Wissen und die Verbindungen zu vielen Autoren.Also wird er derjenige, der für die Autorenacquisition zuständig ist; er reist durch ganz Europa und verhandelt mit z.B. Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Anna Seghers oder Joseph Das Roth, die alle bei ihm veröffentlichen wollen.

Das Verlagsgebäude in der Keizersgracht 333, das Café Américain, Zandvoort, das Café Scheltema, das Concertgebouw, der Waterlooplein, Laren, die Hollandsche Schouwburg und der Spui sind die Orte, anhand derer Bettina Baltschev ihre Rekonstruktion der Ereignisse aufbereitet.

So lernen wir Emanuel Querido kennen, der schon ein erfolgreicher Verleger ist und sich nun einen Namen als internationaler Verleger machen möchte. Wir verkehren mit Klaus Mann, der ein enger Freund Landshoffs ist, im Café Américain, in dem sie viele weitere Exilanten trafen, sich mit ihnen berieten, sich von ihren Ängsten erzählten oder einfach nur schweigend tranken. Zandvoort, der nahe gelegene Strand, bringt ein paar Stunden oder Tage der Erleichterung vor der Angst, die ständig in ihrem Nacken saß.

Das Café Scheltema, exemplarisch ausgewählt für die Geschichte Joseph Roths, folgt. Danach folgen das Concertgebouw, das einer anderen Kunstform Platz gibt, und der Waterlooplein, der die Geschichte der Amsterdamer Juden verkörpert. Und wir begeben uns nach Laren, einem Ort in der Nähe Amsterdams, in dem Querido wohnt und viele Besucher empfängt.

Dann muss die Stimmung natürlich irgendwann kippen, und die Hollandsche Schouwburg wird zum „Theater des Grauens“, zur Sammelstelle der Amsterdamer Juden, von der aus sie in die Lager weitergeleitet werden. Anhand des Spui wird die Geschichte des Verlages nach dem Krieg weitererzählt, bis in die heutigen Tage.

Hölle und Paradies, ein wirklich gelungener Titel, denn beides muss Amsterdam für die Exilanten bedeutet haben. Paradies in den ersten Jahren, da man sich mehr oder weniger frei bewegen und seine Werke schreiben und veröffentlichen konnte. Amsterdam als liberale, offene Stadt bot eine Zuflucht an, als die Welt in ihrem Osten dunkel zu werden begann. Doch die Exilanten hatten die Dunkelheit in sich, konnten ihr nicht entfliehen. Bis auch Amsterdam zur Hölle wurde.

Baltschev schreibt ein Sachbuch, das sich wie ein Roman liest. Sie streut ihre heutigen Spaziergänge und die Lektüre ein, wodurch man sich ganz nah an der Stadt und den Ereignissen fühlt. Die vielen Zitate, vor allem aus den Briefwechseln der Exilanten, geben die Möglichkeit, sich ganz in die Geschehnisse hereinzuversetzen. Und so ist dieses Buch eine bittersüße Ode über eine dunkle Zeit, die mit einigen hellen Flecken gesprenkelt ist, an mutige Menschen und eine wundervolle Stadt.

Im Anhang gibt es noch eine von Bettina Baltschev verwendete Literaturliste und die Bücher, die im Querido Verlag veröffentlicht wurden. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich zwar von vielen der Schriftsteller gehört, aber noch erstaunlich wenig davon gelesen habe. Tatsächlich sind der Mephisto und Anna Seghers Transit und Das siebte Kreuz die einzigen echten deutschen Exilromane, die ich in meinem Regal gefunden habe. Oder zählen alle Romane von Schriftstellern, die im Exil waren, dazu? So wie Das Kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun, welches 1932 veröffentlicht wurde, sie ging jedoch 1933 ins Exil? Genau wie beim Radetzkymarsch von Joseph Roth? Oder Arc de Triomphe von Erich Maria Remarque, das 1946 veröffentlicht wurde, er aber wurde 1947 amerikanischer Staatsbürger?!

Genug Fragen also, um sich weiter mit dieser Literatur zu beschäftigen! Was ich auch tun werde, Bettina Baltschev sei dank!

Bettina Baltschev, geboren 1973 in Berlin, studierte Kulturwissenschaften, Journalistik und Philosophie in Leipzig und Groningen. Sie ist Autorin und Redakteurin beim Hörfunk der ARD und pendelt zwischen ihrem Wohnort Leipzig und ihrer zweiten Heimat Amsterdam. 2008 erschien „Ein Jahr in Amsterdam. Reise in den Alltag.“ (Herder) (Verlagsinformation)

Am 28. Juli und am 4. August veranstaltet Bettina Baltschev im Rahmen des Literarischen Sommers jeweils einen Spaziergang in Amsterdam, auf den Spuren ihres Buches. Ich hoffe, ich werde an einem der beiden Termine teilnehmen können!

Ich danke dem Berenberg Verlag ganz herzlich für die Überlassung eines Rezensionsexemplars!

Eine weitere Besprechung findet sich bei ZeichenundZeiten.

Bernhard Schlink – Olga

Als ich in der Vorschau den Klappentext zu diesem Roman las, wurde ich neugierig und bestellte ein Exemplar. Ich habe gedacht, es komme eine Geschichte von zwei Menschen, die im letzten Jahrhundert spielt und wie dieses Jahrhundert ihnen mitspielte und wie sie sich gemeinsam durchschlugen. Meine Erwartungen wurden nicht erfüllt.

Denn ich bekam eine vollkommen andere Geschichte als die erwartete. Schlink erzählt in Olga von einer Frau, die in eine schwierige Zeit geboren wird. Als Waise wächst sie bei ihrer Großmutter auf, die keine Liebe für sie hat. Ihre einzigen Freunde sind Herbert und Viktoria, großbürgerlich, die als Kinderfreunde ein Teil ihres Lebens werden, im Aufwachsen jedoch getrennte Wege gehen: Viktoria begibt sich vollkommen in ihren Stand, Herbert verliebt sich in Olga und möchte sie heiraten. Doch die Eltern verbieten es.

Gegen alle Widerstände geht Olga ans Lehrerinnenseminar und bekommt bald eine Stelle an ihrer alten Dorfschule. Von Viktoria verleumdet, von Herbert geliebt, baut sie sich ein Leben auf. Herbert liebt sie, aber er hat keine Ruhe, sich niederzulassen, er will die Welt sehen. Und so beginnen seine zahlreichen Reisen, die ihn immer weiter von Olga fort und doch immer wieder zu ihr zurück bringen. Bis er eines Tages nicht zurückkommt.

Olga gibt die Hoffnung nicht auf, auch als eine Bergungsexpedition nach der anderen zurückkehrt. Sie richtet sich in ihrem Leben ein, gewinnt neue Freunde, vor allem einen kleinen Nachbarsjungen namens Eik. Sie erzählt ihm von Herberts Abenteuern, und wie dieser die ganze Welt erobern wollte. Dabei wollte Olga immer nur eine kleine Welt, eine Welt für sich und Herbert. Sie schuf ein Heim, in das er zurückkehren konnte, unterstützte ihn aber auch in seinen Plänen, da sie ihn liebte.

Ja, Herbert, der gutmütige Herbert, er liebt Olga. Und er ist einer der größten Einfaltspinsel, von denen ich je las. Seine Träume von der großdeutschen Herrlichkeit, von Weite und Ruhm sind ein einziger Humbug. Olga jedoch liebt ihn und ist so froh, wenn er wieder einmal zu ihr zurückkehrt, dass sie keine Fragen stellt. Auch lange nach seinem Verschwinden nicht. Und so vergeht der Erste Weltkrieg, die Jahre dazwischen, bis der Zweite Weltkrieg sie schließlich zwingt, nach Süddeutschland zu fliehen.

Sie ist taub geworden und arbeitet nun als Näherin. So wird sie zur Verbündeten eines anderen kleinen Jungen, der ihre Hilfe braucht und bekommt. Sie wird für ihn zur wichtigsten Ansprechperson, die sein Leben nicht unwesentlich formt…

Dies alles hört sich bruchstückhaft an, aber ich wollte genügend Leerstellen lassen, damit sich potentielle Leser finden und diesen Roman ebenso lieben lernen wie ich nun. Denn als ich mich erstmal von meinen Erwartungen verabschiedet hatte (ja, es dauerte eine Weile), konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen und las atemlos weiter, fast in einem durch.

Denn Schlink hat der Erzählerstimme eine große Zartheit in seinem Bericht über Olga gegeben, sehr viel Liebe hineingelegt. Der Erzähler berichtet in Etappen von Olga, von ihrem Leben mit Herbert und wie es vor den Kriegen war, und ihrem anderen Leben danach. Ergänzend werden am Ende Briefe von Olga an Herbert eingebracht, die einige Lücken füllen. Und so entfaltet sich nach und nach der Lebensbericht über eine außergewöhnliche Frau, die nie im Rampenlicht stand und nie Großes entdeckt oder vollbracht hat.

Die aber eine erstaunliche Emanzipation vollzieht. Und auch wenn ich mir etwas mehr Geschichte und die beiden letzten Seiten hinweggewünscht hätte, bleibt mir nur zu sagen: Olga ist keine strahlende Heldin, sie ist eine stille, im Hintergrund leuchtende Heldin. Oder nein, eher so: strahlt sie vielleicht nicht vor der Geschichte, so strahlt sie im Leben des Erzählers. Und nun auch in meinem.

Bernhard Schlink: Olga. Diogenes Verlag AG Zürich, 2018. 311 Seiten.

Ich dank dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Nederlandstalig! Tessa de Loo – Die Zwillinge

22052016155[1]Lotte bekommt von ihren Kindern einen Aufenthalt in Spa geschenkt, um ihre Arthrose zu lindern. Dort trifft sie unverhofft auf Anna – ihre Zwillingsschwester, die sie fast ein Leben lang nicht mehr gesehen hat. Anna ist glücklich, sie zu sehen, Lotte jedoch sträubt sich, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Doch Anna bleibt konsequent, und unerbittlich entrollen sich zwei Lebensläufe, die vom gleichen Ursprung aus zwei vollkommen verschiedene Richtungen nehmen, einer in Deutschland, einer in den Niederlanden, einer unter den Nazis, einer im Widerstand, einer mit vielen Wunden, einer mit vielen Wunden.

Nachdem Annas und Lottes Vater verstorben ist, die Mutter war schon länger tot, werden die beiden Mädchen getrennt bei Verwandten untergebracht. Anna kommt in ein kleines katholisches Dorf zum Bruder ihres Vaters, Onkel Heinrich, der einen kleinen Bauernhof hat und froh ist, die Hilfe zu bekommen. Lotte, die wie ihr Vater unter Tuberkolose leidet, wird zu holländischen Verwandten gebracht, die sie pflegen können. Die Mädchen warten auf ein Wiedersehen, doch ihre Leben schieben sich vor ihre immer verschwommener werdenden Erinnerungen.

Anna, ein kluges und aufgewecktes Kind, bekommt keine Schulbildung, sie soll von früh bis spät auf dem Hof schuften. Unter der neuen Frau Onkel Heinrichs wird es richtig schlimm, so schlimm, dass irgendwann der Dorfpfarrer einschreitet und sie mitnimmt. Von hier an entspinnt sich ein Lebenslauf, der sie durch ganz Deutschland und nach Österreich führt, immer unter dem Eindruck vom Krieg und den Nazis, wovon sie im Grunde nichts versteht und immer versucht zu helfen.

Lotte hingegen wächst bei Sozialisten auf, und nach dem Überwinden ihrer Krankheit hat sie ein recht normales Leben, zwar mit einem sehr exzentrischen Vater, aber auch einer liebevollen Familie. Ihr Vater, Musikliebhaber, lässt alle möglichen Menschen, die seine Leidenschaft teilen, in ihrem Haus ein- und ausgehen, und so wächst Lotte unter Menschen auf, die etwas gemeinsam haben, das nichts mit Rasse oder Vorurteilen zu tun hat. Bis auch in den Niederlanden der Krieg ankommt und Leute anfangen zu verschwinden, und man sich für eine Seite entscheiden muss.

Vor der Kulisse Spas erzählen sich die Schwestern ihre Lebensläufe, Anna versucht, Lotte verstehen zu lassen, wie es für sie war, aber Lotte gibt sich blind. Für sie ist alleine die Tatsache, dass Anna Deutsche ist, genug, sie zu verurteilen. Aber nach und nach zeigt sich, dass Anna teuer dafür bezahlt hat und vielleicht nicht alles so einfach ist, wie es nach außen hin scheint…

Dies nur ein kurzer Einblick in einen Roman, der zwei komplexe Lebensläufe erzählt, anhand dessen zwei Länder im Krieg dargestellt werden. Das eine sieht sich ausschließlich als Opfer, das andere will die Täterrolle nicht komplett übernehmen, und in langen Gesprächen wird offenbar, dass das Urteil nicht ganz so leicht auszusprechen ist, wie man das gerne hätte.

Tessa de Loo hat mit Die Zwillinge einen wundervollen und wichtigen Roman über Schuld und Vergebung geschrieben, über Aufarbeitung, über Macht und Machtlosigkeit, und wie sehr man Kind der Umstände ist. Was man mit dieser Erkenntnis anstellt, bleibt einem selbst überlassen, aber das Nachdenken ist angestoßen.

Wer nicht nachdenken möchte, bekommt auf jeden Fall einen interessanten und spannenden Roman, in der die Zeit des Zweiten Weltkriegs anschaulich und in interessante Lebensgeschichten verpackt dargestellt wird. Tessa de Loo schildert zwei glaubhafte Lebensläufe, die, obwohl sie sich kaum berühren, doch immer wieder ineinander verschränkt werden. Durch die mehr oder weniger abwechselnde Erzählweise bleibt die Spannung erhalten, man möchte mehr erfahren, und zwar von beiden Geschichten.

Ich kann mir vorstellen, dass dies bei Erscheinen des Buches nicht jedem Leser gepasst haben mag, denn die Vorurteile der beiden Völker sind (oder vielleicht bald waren?) so, wie sie die beiden Figuren verkörpern. Tatsächlich hat der Roman in den Niederlanden viel Aufsehen erregt, und die Reaktionen waren durchaus zwiegespalten.

Dennoch: Nach der Lektüre hat sich vielleicht die eine oder andere Ansicht geändert. Und deshalb möchte ich diesen Roman jedem empfehlen, und sei es auch nur, weil es eine tolle Geschichte ist. Alles weitere möge jeder für sich selbst entdecken.Bild: ad.nl

Tessa de Loo: Die Zwillinge. Deutsch von Waltraud Hüsmert. btb, München. 1997. OA: De Tweeling. Uitgeverij De Arbeiderspers, Amsterdam. 1993. 478 Seiten.

Tessa de Loo wurde als Johanna Tineke Duyvené de Wit am 15. Oktober 1946 in Bussum, Niederlande, geboren. Sie war Lehrerin, bis sie 1983 die Erzählungen Die Mädchen von der Süßwarenfabrik veröffentlichte. Die Zwillinge bekam 1994 den Von-der-Gablentz-Preis und den Publieksprijs. Er wurde 2002 unter der Regie von Ben Sombogaart verfilmt, mit Thekla Reuten, Ellen Vogel, Nadja Uhl und Gudrun Okras in den Hauptrollen. Tessa de Loo lebt heute in Portugal.

Nederlandstalig! Harry Mulisch – Das Attentat

flaggeJanuar 1945. Hungerwinter in Haarlem. Anton Steenwijk sitzt mit seinen Eltern und seinem Bruder Peter im einzig einigermaßen beheizten Zimmer des Hauses und vertreibt sich die Zeit mit lesen. Dann fallen Schüsse. Und Antons Leben verändert sich für immer.

„Anton war zwölf Jahre alt, aber das wußte er auch schon: Fake Ploeg, Polizeioberinspektor, war der größte Mörder und Verräter von Haarlem und Umgebung.“ (23)

Und eben dieser Fake Ploeg liegt nun erschossen vor dem Nachbarshaus. Bis die Nachbarn herauskommen und ihn vor Steenwijks Tür ablegen. Peter rennt raus, um die Leiche zurückzulegen, aber er bekommt nur Ploegs Pistole zu fassen, mit der er davonläuft. Und dann sind die Soldaten da. Sie nehmen Anton mit, setzen ihn in ein Auto und lassen ihn warten, bevor sie ihn auf eine Polizeistation bringen.attentat

Vorher aber wird Antons Haus in Brand gesteckt, er sieht zu, wie es abbrennt. Und dann hört er das Knattern von Maschinengewehren. Er sieht seine Eltern und Peter nie wieder. Auf der Polizeistation wird er zu jemandem in Einzelhaft gesperrt, es handelt sich um eine junge Frau. Sie sagt nie ihren Namen, aber sie tröstet Anton. Als er aus der Zelle geholt wird, hat er ihr Blut an sich.

Anton gelangt schließlich zu seinem Onkel und seiner Tante nach Amsterdam. Bei ihnen wird er aufwachsen, sie geben ihm ein möglichst liebevolles Zuhause. Er geht zur Schule, dann zur Universität. Und blickt nie zurück.

Bis er zu einer Party seines Kommilitonen nach Haarlem eingeladen wird, und den Gesprächen über „damals“ nicht mehr lauschen kann. Und seine alten Nachbarn besucht, die seine Erlebnisse wieder aufrütteln. Es gibt nun ein Denkmal, mit den Namen seiner Eltern. Peters Name fehlt. Und auch nun kehrt Anton nach Amsterdam zurück und blendet seine Vergangenheit aus.

Bis die Studentenunruhen beginnen, und Fake Ploeg Junior vor seiner Tür steht. Er hatte dem Jungen einst beigestanden, unterschätzt aber die Wut, die dieser seit damals aufgebaut hat. Es wird keine schöne, aber eine erhellende Begegnung.

Anton geht seinem Studium nach, er studiert Medizin, und entscheidet sich für die Anästhesie als Spezialisierung. Ein Beruf, der eigentlich alles über ihn aussagt. Er denkt, dass man nichts an den Ereignissen ändern kann, und dass er sich deswegen auch nicht damit beschäftigen braucht. Er setzt sich nie damit auseinander, holt nie Erkundigungen ein. Er lebt einfach weiter.

Doch die Vergangenheit holt auch ihn ein. Und ob er will oder nicht, er begegnet Leuten, er erfährt Dinge, die damals geschehen sind, er begreift Zusammenhänge, ob zufällige oder gewollte. Er erfährt, wer die junge Frau in der Zelle war. Und er erfährt, warum Ploeg ausgerechnet vor ihr Haus gelegt wurde.

„War jeder schuldig und unschuldig? War die Schuld unschuldig und die Unschuld schuldig?“ (204)

Harry Mulisch hat hier auf gut 200 Seiten eine Episodengeschichte verfasst, die eine Episode aus dem Krieg in den Blickpunkt nimmt und ihre Folgen aufzeigt. Pars pro toto, anhand dessen die Situation in den Niederlanden beschrieben wird. Diese waren besetzt, und trotz eines großen Widerstandes machten auch viele begeistert mit. Dann wird die Zeit nach dem Krieg beschrieben, die Scham, die Überlebenden, die Verarbeitung der Ereignisse. Schuld und Verantwortung. Aber als Hauptthema habe ich empfunden, dass der Krieg nie weggeht, dass er in allen Beteiligten stecken bleibt.

Dieser Roman ist meiner Ansicht nach ein ganz wichtiges Stück Nachkriegsliteratur. In einer klaren, präzisen Sprache breitet Mulisch ein Panorama der Nachkriegsniederlande aus, und entfaltet eine Geschichte von Schuld und Verantwortung, von Unschuld und Verarbeitung. Mulisch ist mein meistverehrter niederländischer Schriftsteller, ich habe fast sein ganzes Werk gelesen – nach und nach wird es hier noch vorgestellt werden – und für den Einstieg ist Das Attentat ganz hervorragend geeignet.

Harry Mulisch wurde am 29. Juli 1927 in Haarlem geboren. Sein Vater war Personaldirektor einer Bank, die während der Besetzung für die Arisierung jüdischen Eigentums zuständig war. Seine Mutter hingegen war Jüdin. Durch seine Aufgabe konnte der Vater seine Frau und seinen Sohn schützen, musste jedoch nach dem Krieg in ein Internierungslager, an dessen Folgen er verstarb.

Bild: nrc.nl

Bild: nrc.nl

Diese Situation hat Mulischs ganzes Leben und sein Schreiben geprägt. Er war Berichterstatter beim Eichmann-Prozess und hat sich gegen den Vietnam-Krieg engagiert. Neben Das Attentat von 1982 ist Die Entdeckung des Himmels von 1992 sein bekanntestes Werk, das zu einem späteren Zeitpunkt noch besprochen werden wird. Für die beiden Romane erhielt er das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen.

Er verstarb am 30.10.2010 mit 83 Jahren an einer Krebserkrankung in seinem Haus in Amsterdam.

Das Attentat (OT De Aanslag) wurde 1986 verfilmt und erhielt den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Harry Mulisch: Das Attentat. Aus dem Niederländischen von Annelen Habers. Süddeutsche Zeitung Bibliothek, 2004. Beruhend auf der Ausgabe vom Carl Hanser Verlag München Wien, 1986. OA: Uitgeverij De Bezige Bij Amsterdam, 1982. 205 Seiten.

Nederlandstalig! Maarten t’Hart – Die Netzflickerin

Maarten t'Hart, Bildquelle: Wikipedia

Maarten t’Hart, Bildquelle: Wikipedia

Maarten t’Hart wurde am 25. November 1944 in Maassluis geboren. Er wuchs in einem streng calvinistischen Haushalt auf. Von 1962 bis 1968 studierte er an der Universität Leiden Biologie und arbeitete später als Dozent für Verhaltensbiologie. Seine Doktorarbeit behandelt das Verhalten von Ratten. Sein Romandebüt erschien 1971, 1975 erhielt er für seinen ersten Band Erzählungen den Multatuli-Literaturpreis, seinen Durchbruch hatte er 1978 mit Een vlucht regenwulpen (Ein Schwarm Regenbrachvögel). Maarten t’Hart schreibt in der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, er legt vor allem Wert auf die genau Beschreibung von Land und Leuten. Es gibt viele autobiographische Elemente, und häufig benutzt er einen Ich-Erzähler. Er ist einer der beliebtesten Schriftsteller der Niederlande und lebt in Warmond bei Leiden.

Die Netzflickerin ist ein Roman in drei Teilen. Erzählt wird die Geschichte von Simon Minderhout, der 1914 als Nachzügler geboren wird. Sein Vater hat eine Witwe geheiratet und zusammen ziehen sie in das Dorf Anloo. Hier verlebt Simon eine recht unbeschwerte Kindheit, und wächst in einer wunderschönen Landschaft auf, die von kauzigen Menschen bewohnt wird. Er wird Zeit seines Lebens eine sehr enge Verbindung zu seinem Vater haben.

Der zweite Abschnitt ist der Zeit der Besatzung gewidmet. Simon ist Apotheker, ein Eigenbrötler. Er hat an keiner Widerstandsgruppe teil, da die Leute ihm gegenüber misstrauisch sind. Dies belastet ihn sehr, möchte er doch seinen Teil beitragen. Er ist ein großer Musikliebhaber und fährt regelmäßig nach Delft, um das Philharmonieorchester zu hören. Hierbei trifft er einen Deutschen, der sich genauso für Musik begeistert wie er, aber das wirft natürlich kein gutes Licht auf ihn.

Dann scheint eine Kehrtwende einzutreten: Hillegonda betritt seine Apotheke und bittet um Medizin. Er ist hingerissen von ihr, die keine klassische Schönheit ist, aber jeden mit ihrem Lachen mitreißt. Sie nimmt die Medizin und verschwindet spurlos. Simon geht seiner Arbeit nach und wartet. Und eines Tages steht sie wieder vor seiner Tür. Er folgt ihr nach Hause, kann sich aber den Weg nicht ganz merken. So fährt er immer wieder in den Ort, in dem sie lebt, und kann sie nicht finden. Er findet jedoch ein paar junge Männer, die Kontakt zu ihr haben, und folgt diesen, in der Hoffnung, sie mögen ihn zu ihr führen.

Der dritte Teil handelt von Simon als altem Mann. Er war verheiratet, aber seine Ehe hat nicht gehalten. Seine Liebe zur Musik hat er erhalten, und ein enger Freund ist ein jüdischer Musiker. Dann wird er Opfer einer Erpressung: ein junger Mann tritt an ihn heran und droht, an die Öffentlichkeit zu bringen, was Simon während der Besatzung getan hat. Dieser hält das für lächerlich und provoziert ihn quasi dazu. Und dann geht ein medialer Lynchmob los, wie er leider nur allzu bekannt ist. Simon wird beschuldigt, die jungen Männer verraten zu haben, was zu ihrer Tötung führte.  Auf einmal tauchen eine ganze Menge Menschen auf, die etwas über ihn zu sagen haben. In Tv-Shows werden Dinge diskutiert, die so weit hergeholt sind, dass man eigentlich lachen sollte, wäre es nicht so traurig.

rehart01Simon, der Einzelgänger, hat kein Netz, das ihn auffängt. Nur sein jüdischer Freund hält ironischerweise zu ihm. Das Bedürfnis nach einem Sündenbock ist aber anscheinend so groß, dass die Angelegenheit nicht zur Ruhe kommt. Nach und nach stellt sich heraus, dass der junge Mann, der die Sache angestoßen hat, Hillegondas Enkel war. Er trifft sie nach all den Jahren wieder und versucht sich zu erklären – aber wird er sie überzeugen können, nachdem sie fünfzig Jahre an seine Schuld geglaubt hat?

Die Netzflickerin ist ein sehr vielschichtiges Buch. Zuerst einmal vermag Maarten t’Hart es mit seiner wundervollen Sprache, den Leser in dieses Land und diese Landschaft zu versetzen, als habe er niemals woanders gelebt (und leben wollen). Im zweiten Teil, zum Beispiel, geht Simon jeden Tag ein hoofdje picken, was bedeutet, dass er einen Spaziergang zum Hafen und durch die Dünen macht. Allein dieser Ausdruck wird mich immer begleiten, ich werde ab jetzt auch hoofdjes picken, auch wenn ich keine Dünen zur Verfügung habe.

t’Hart erzählt die Geschichte eines Außenseiters, der von allen misstrauisch beäugt wird, und der im Grunde genommen nie eine Chance hatte. Er war als Hinzugezogener und introvertierter Mann von vornherein nicht involviert, und als die ganze Geschichte ins Rollen kommt, wird er mit Freuden hervorgeholt und als Sündenbock präsentiert. Und das ist der Teil der Geschichte, der mich wirklich beeindruckt hat. Dieser mediale Kreuzzug, der leider nur allzu alltäglich geworden ist, zieht los, einen Menschen zu verurteilen, und es ist vollkommen egal, was für Beweise existieren. Was wichtig ist, ist, dass es interessant ist, dass es dreckige Wäsche ist, dass es Quote bringt. Die Art und Weise, wie Maarten t’Hart dies darstellt, bleibt eine Zeit lang bei einem, lässt einen nachdenken, und vor allem unterstützt es bei vorzeitigen Verurteilungen. Und das ist, wie die letzten Tage gezeigt haben, mal wieder aktueller denn je.

Maarten t’Hart: Die Netzflickerin. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Piper, München/Zürich 2000.

Buch #52: Kurt Vonnegut – Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug

Kurt Vonnegut wurde am 11. November 1922 in Indianapolis geboren. Seine Eltern entstammten beide deutschen Einwandererfamilien. Kurt arbeitete schon für die Schülerzeitung, neben seinem Studium der Biochemie arbeitete er an der College-Zeitung  der Cornell University als Redakteur und Kolumnist. Er meldete sich 1943 freiwillig zur US Army und diente in der Ardennenoffensive als Soldat in einer Aufklärungseinheit, in der 106. Infanteriedivision, die dabei teilweise aufgerieben wurde. Er geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft und erlebte die durch alliierte Bomber geführten Luftangriffe auf Dresden und die Zerstörung der Stadt mit. Diese Erlebnisse beschreibt und verarbeitet er in Slaughterhouse 5.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Reporter, und als Schriftsteller verfasste er hauptsächlich Kurzgeschichten. In seinen letzten Lebensjahren wurde er zum bitteren Gegner von Präsident Bushs Kriegspolitik. Kurt Vonnegut starb am 11. April 2007 in New York an den Folgen einer Kopfverletzung.

kurt„Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug von Kurt Vonnegut jr., einem Deutsch-Amerikaner der vierten Generation, der jetzt in angenehmen Verhältnissen in Cape Cod lebt (und zuviel raucht), der vor langer Zeit als Angehöriger eines Infanterie-Spähtrupps kampfunfähig als Kriegsgefangener Zeuge des Luftangriffs mit Brandbomben auf Dresden, „dem Elb-Florenz“, war und ihn überlebte, um die Geschichte zu erzählen. Dies ist ein Roman, ein wenig in der telegraphisch-schizophrenen Art von Geschichten von dem Planeten Tralfamadore, von wo die Fliegenden Untertassen herkommen. Friede.“

 

Diese Worte sind dem Roman vorangestellt. Es handelt sich bei Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug um eine Geschichte in der Geschichte. Der Erzähler, Kurt Vonnegut, berichtet von seiner über 20 Jahre währenden Unfähigkeit, einen Roman über seine Kriegserlebnisse zu schreiben. Dann, 1967 (es war mitten im Vietnam-Krieg), fuhr er noch einmal mit einem alten Kriegskameraden nach Dresden. Er schreibt von seiner Unfähigkeit, seine Erlebnisse in Worte zu fassen; auch wusste kein Amerikaner viel über diesen Angriff auf Dresden, und wie verheerend er gewesen war. Jedenfalls beschließt Vonnegut, seinen alten Kriegskameraden aufzusuchen und ihn nach Erinnerungen zu fragen, und stößt bei dessen Frau auf entschiedenen Widerwillen.

„‚Ihr wart nur kleine Kinder im Krieg – genau wie die im oberen Stockwerk!‘

Ich nickte zustimmend. Wir waren törichte, jungfräuliche Männer im Krieg gewesen, gerade am Ende der Kindheit angelangt.

‚Aber Sie werden es nicht so schreiben, nicht wahr!‘ Das war keine Frage. Es war eine Anklage.

‚Ich – ich weiß nicht‘, sagte ich.

‚Nun, aber ich weiß es‘, sagte sie. ‚Ihr werdet vorgeben, Männer statt Kinder gewesen zu sein, und eure Rolle wird in den Filmen von Frank Sinatra und John Wayne oder einem anderen dieser bezaubernden, kriegsbegeisterten, dreckigen alten Männer gespielt werden. Und der Krieg wird einfach wundervoll aussehen, so daß wir eine Menge anderer Kriege haben werden. Und sie werden von Kindern wie unsere Kinder oben ausgefochten werden.‘ […]

‚Wenn ich es jedoch jemals fertig schreibe, gebe ich Ihnen mein Ehrenwort: Es wird keine Rolle für Frank Sinatra oder John Wayne enthalten… Ich sage Ihnen etwas‘, setze ich hinzu. ‚Ich werde es ‚Der Kinderkreuzzug‘ nennen.'“

Und daran hält er sich. Er erzählt die Geschichte von Billy Pilgrim, der 1922 geboren wurde und ein komisch aussehender, komisch gewachsener junger Mann ist. Er soll als Diener eines Feldpredigers wirken, hat keine Waffen und keinen Einfluss auf jedwedes Kriegsgeschehen. Als er in Luxemburg ankommt, wird in der Ardennen-Offensive alles vernichtet und Billy irrt daraufhin durch Deutschland. Er gerät in Kriegsgefangenschaft, und wird Zeuge von Not und Elend, er kommt in Lager, wird in überfüllten Zügen dorthin und später nach Dresden transportiert und schließlich sitzt er im Keller des Schlachthofs Nummer Fünf, als Dresden bombardiert und in eine „Mondlandschaft“ verwandelt wird. So geht das.

Doch Billy ist anders als andere Menschen. Er überlebt den Krieg und gerät 1967 in einen Flugzeugabsturz, den er ebenfalls überlebt. Kurz nach dem Absturz wird er von Außerirdischen entführt, die ihn zum Planeten Tralfamador bringen. Hier leben Wesen, die in vier Dimensionen denken. Und Billy lernt, dass Zeit keine chronologische Abfolge ist, sondern alle Zeit ist immer. Und so wird seine Geschichte auch erzählt. Er springt von seinen Erlebnissen als Kind zu denen kurz vor seinem Tod, von Dresden zu Tralfamadore, von seiner Hochzeit zum Flugzeugabsturz und so fort. Von all diesen Erlebnissen berichtet er recht objektiv. Und beendet viele Sequenzen mit der kurzen Feststellung: So geht das.

Billy Pilgrim ist also ein Beobachter, ein Pilger durch die Zeit. Dadurch, dass er jederzeit seiner momentanen Zeit und guten wie schlechten Erlebnissen entrissen werden kann, verliert vieles seine Bedrohlichkeit. Man könnte ihn nun als einen Dummkopf sehen, als einen unbeteiligten Beobachter, der immer nur neben den Ereignissen steht und sie an sich vorüberziehen lässt. Das Wandern ohne Schuhe durch den Schnee ist beschwerlich, aber Billy wandert einfach weiter, was soll er sonst schon tun?! So geht das.

Dieser Fatalismus kann aber ebenso sehr eine Überlebensstrategie sein. Billy lässt all diese schrecklichen Erlebnisse an sich abperlen. Er befindet sich eben auf einmal mit einer sehr attraktiven Frau auf Tralfamadore, wo die Tralfamadorianer das menschliche Paarungsverhalten beobachten möchten. Oder er läuft in zusammengewürfelten Kleidungsstücken herum, die ihn wie einen absurden Clown aussehen lassen, aber es ist doch die Hauptsache, dass er Kleidungsstücke hat. So geht das.

Schlachthof 5 ist ein Anti-Kriegs-Roman. Er gewinnt seine Eindringlichkeit durch die Beschreibung der Schrecknisse des Krieges durch die Brille eines naiven Sonderlings, der nicht weiß, wie ihm geschieht, der die Grausamkeiten hilflos naiv mitansieht. Dass dies den meisten Kriegsteilnehmern so gehen dürfte, ist eine Ahnung, die den Leser schleichend befällt. Dresden wird zwar als Ereignis beschrieben, aber die „Mondlandschaft“, die die Stadt nach der Bombardierung ist, könnte genauso gut in Vietnam oder an einem anderen Kriegsschauplatz liegen.

Offiziell war Schlachthof 5 wegen der Beschreibungen fluchender Soldaten und sexueller Inhalte auf dem Index, und wurde von den Lehrplänen verbannt. Dies ist jedoch schlicht keine Literatur, die kriegsführende Staatsoberhäupter in den Köpfen haben wollen. Weil die Grausamkeiten, die Menschen Menschen antun, in den Köpfen bleiben. Weil die Hilflosigkeit zum Nachdenken anregt. Und wer will schon nachdenkende Soldaten. Sie sollen wie Billy alles hinnehmen. So geht das.

Kurt Vonnegut: Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug. Deutsch von Kurt Wagenseil. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1972

Ken Follett – Winter der Welt

Zweiter Teil der Jahrhundertsaga

Zum ersten Teil, Sturz der Titanen, geht es hier.

Winter der Welt schließt nicht sofort, sondern einige Jahre später an Sturz der Titanen an. Die handelnden Familien bleiben die gleichen, auch wenn die Perspektiven sich ändern, da die nächste Generation herangewachsen ist.

Winter-der-WeltEs beginnt langsam, in Deutschland, mit der beginnenden Machtergreifung der Nazis. Ethel ist mit ihrem Sohn Lloyd bei Maud, Walter und ihren beiden Kindern Carla und Erik zu Besuch. Maud arbeitet als Journalistin, und alle werden Zeugen davon, wie die Nazis die Freie Presse verhindern und dann eine Sitzung der SPD brutal auflösen.

Derweil ist Gus Dewars Sohn in Amerika, das noch nicht viel davon mitbekommt, was in Europa geschieht, zum ersten Mal verliebt, wird aber von seinem Vater auch in eine politische Karriere geleitet.

Daisy, die Tochter von Gus Dewars erster großer Liebe und Lew Peschkow, sucht währenddesssen einen standesgemäßen Mann, da ihr Vater aber der windigen Sorte angehört, gestaltet sich dies schwierig. So reist sie denn nach England, und auf einer College-Party lernt sie Lloyd kennen, den sie zwar sympathisch findet, der aber nicht ihren Ansprüchen genügt. Bei seinem Halbbruder Boy, dem Sohn von Earl Fitzherbert, sieht das allerdings schon ganz anders aus.

Derweil arbeitet Wolodja, der Sohn von Grigori, inzwischen als russischer Spion in Berlin. Er sieht mit an, wie sich die Lage dort langsam zuspitzt, während die Nazis immer mehr Macht an sich raffen. Doch auch, als er nach Russland zurückkehrt, ist dort bei Weitem nicht alles so, wie er es für sein Vaterland erhofft.

Auch der zweite Teil der Jahrhundertsaga ist zu komplex, um mehr als einen Abriss über den Inhalt zu geben. Es handelt sich um eine Zeit, in der unglaublich viel geschehen ist, und Follett nimmt uns zu meisten Stationen mit. Dies beginnt mit dem Spanischen Bürgerkrieg, in dem Lloyd kämpft, geht weiter mit der Machtergreifung der Nazis, den Faschisten in anderen Ländern, vor allem in England und den USA, dann wird Pearl Harbor beschrieben, der daraufhin entbrennende Krieg zwischen den USA und Japan, der Bau der Atombombe und vieles, vieles mehr, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Man könnte nun meinen, dass all das zuviel Stoff für einen einzigen Roman ist, aber hier muss ich entschieden sagen: ist es nicht. Denn durch den Kniff der verschiedenen handelnden Personen aus verschiedenen Ländern bleibt immer klar, um wen es gerade geht, und zu jedem Ereignis entsteht dadurch eine nachvollziehbare Geschichte, die klar getrennt und verständlich ist.

Auch wenn jemand sich mit den Ereignissen dieser Zeit gut auskennt, kann er hier immer noch Neues erfahren. Follett gibt Zusammenhänge, indem er die Personen interagieren lässt, und selbst wenn sie nicht selbst agieren, zeigt er diese Zusammenhänge an ihrem Beispiel auf. So ist es zum Beispiel eigentlich ein schöner Familienausflug, anhand dessen Pearl Harbor beschrieben wird.

Erstaunlicherweise hat mich die Phase im Spanischen Bürgerkrieg mehr beeindruckt als die Schilderungen der Nazis, was aber vielleicht daran liegt, dass ich mehr über Nazi-Deutschland und seine Greuel weiß als über den Spanischen Bürgerkrieg (obwohl Hemingway schon eindrucksvoll war). Ich muss auch sagen, dass Follett nicht Partei ergreift, viele Menschen haben Fehler gemacht, und Follett beschönigt nichts.

Insgesamt ist auch der zweite Teil seiner Saga eine beeindruckende, hervorragend recherchierte und außerordentlich spannend geschriebene Geschichtsstunde. Der Roman funktioniert absolut als eigenständiges Werk, ich würde allerdings dennoch empfehlen, Sturz der Titanen zuerst zu lesen, da es viel mehr Spaß macht, die Schicksale der Menschen weiter zu verfolgen und zu sehen, wie die nächste Generation in  den Umständen lebt, die ihre Eltern ihnen geschaffen haben. Und ich muss sagen, es gibt mehr als eine Überraschung, denn die Umstände dieser Jahre  ändern Menschen…

Ken Follett: Winter der Welt. Aus dem Englischen von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher. Lübbe 2012. 1023 Seiten.

Der dritte Teil, Kinder der Freiheit, ist für September 2014 angekündigt.