Nell Zink – Das Hohe Lied

Aufmerksam geworden bin ich auf „Das Hohe Lied“ durch diesen Beitrag, der mich sofort nach diesem Roman recherchieren ließ. Ja, das hörte sich genau nach meiner Wellenlänge an. Und so war es auch.

Nell Zink erzählt in „Das Hohe Lied“ von drei jungen Leuten, Pamela, Daniel und Joe, die sich in den 80ern in New York kennenlernen und beginnen, gemeinsam Musik zu machen. Sie sind große Punk-Fans, aber keine großen Musiker. Pam und Daniel verlieben sich ineinander, Pamela wird schwanger. Sie beschließen, ungeachtet ihrer Jugend und des Geldmangels, Flora zu bekommen.

Pamela ist von zu Hause abgehauen, braucht also Geld, und wird trotz mangelnden High-School-Abschlusses Programmiererin in einer kleinen Firma. Die 90er bringen ein gutes Einkommen für gute Spezialisten. Daniel arbeitet in einer Zeitarbeitsfirma. Sie wohnen in einem illegalen, abbruchreifen Loft, das sie zeit ihres Lebens begleiten wird. Sie sind zufrieden mit ihrer Situation, nehmen die Welt, wie sie sich ihnen bietet, streben nicht nach Materiellem. Daniel eröffnet ein kleines Label, und sie ziehen durch die Clubs, und schließlich geschieht ein kleines Wunder: eines von Joes Liedern entwickelt sich zu einem Hit.

Fortan lebt Joe zwei Leben: eines als Babysitter Floras, der er eine Welt jenseits der üblichen Denkmuster eröffnet, eines als Rockstar, in der er Drogen und falschen Freunden (in dem Fall einer sehr falschen Freundin) auf den Leim geht. Dennoch läuft alles gut für die drei, bis der 11. September alles ändert.

Daniel und Pam fahren mit Flora zu Pams Eltern nach Washington, die ihr von nun an ein geregeltes, gesichertes Leben bieten. Flora, nun geerdet, mit einer guten Ausbildung, wächst in der Social-Media-Generation heran, mit allen Höhen, Tiefen und Chancen, die diese zu bieten haben. Sie engagiert sich in der Green Party, einer Partei, die neben den demokratischen und konservativen Riesen eine nur minimale Rolle spielt, die aber den Optimismus ihrer Generation spiegelt, der mit dem Wahlkampf Trumps und allem, was danach folgt, einen herben Rückschlag erleidet. Und nicht nur hier wird Floras Unsicherheit gespiegelt, auch in einer sehr persönlichen Frage muss sie sich entscheiden. Können ihr die Personen in ihrem Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, helfen?

Nell Zink hat mit „Das Hohe Lied“ den Zeitgeist genau getroffen. Kurz vor der historischen Wahl, die mehr als jede zuvor zwei so unterschiedliche Richtungen vorgibt, schreibt sie über die Illusionslosigkeit und die Ich-bin-dagegen-Mentalität der 80er Jahre und leitet bis zur Wer-am-lautesten-brüllt-hat-Recht-Mentalität der Gegenwart. Ganz nebenbei führt sie den Leser durch die Ereignisse der letzten 40 Jahre, von der Untergrundbewegung der 80er und das Aufkommen des Grunge über die Bankenkrise bis hin zur Wahl des Mannes ohne Gewissen.

Sie zeigt Mainstream-Culture ebenso wie Subkulturen, Individualität vs. Angepasstheit, Sich-Arrangieren und Aufbegehren. „Das hohe Lied“ ist ein Roman über unterschiedliche Lebensentwürfe, dem (Weiter)Leben mit Verlusten und dem Festhalten an Hoffnung. Es ist ein unbedingt zu empfehlendes Stück Zeitgeschichte und passt perfekt in diese merkwürdige Zeit rund um die Wahlen am 3. November und allem, was dann folgen mag. Und nicht zuletzt ist es ein Roman mit glaubhaften Figuren, die man schnell ins Herz schließt und deren Schicksal man unbedingt verfolgen möchte.

Nell Zink: Das Hohe Lied. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg 2020. OA: Doxology. Ecco Press, Harper Collins, New York 2019. 509 Seiten.

Ich danke dem Rowohlt Verlag für das Rezensionsexemplar. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Eine weitere Besprechung gibt es bei literaturleuchtet.

Ewald Arenz – Alte Sorten

Ewald Arenz hat mit „Alte Sorten“ einen ganz besonderen Roman geschrieben. Er handelt von einer Freundschaft zwischen zwei ungleichen Frauen, die beide ihr Leben außerhalb gesellschaftlicher Konventionen leben wollen und dabei ständig anecken.

Die junge Sally ist aus einem Heim abgehauen. Man sagt ihr, sie habe psychische Probleme und müsse in Behandlung sein, obwohl Sally einfach nur sie selbst sein will und nicht so, wie alle es von ihr erwarten. Wenn sie keinen Hunger hat, will sie nicht essen. Wenn sie keine Lust zu reden hat, redet sie nicht. Wenn sie kein Insta-taugliches Leben will, lebt sie dies nicht. Eigentlich ganz einfach. Nur verstehen die Erwachsenen das nicht.

Sie haut also ab, lässt ihr Handy zurück und geht, einfach immer weiter. Es wird Abend, sie überlegt, wo sie bleiben soll. Da trifft sie am Weg eine Frau mit einem Traktor, Liss. Die sieht sie an und fragt sie nur, ob sie mit anpacken könne, den festsitzenden Traktor zu befreien. Zusammen gelingt dies, und beide gehen ihrer Wege. Bis Liss anhält und Sally anbietet, auf ihrem Hof zu übernachten. Was Sally macht.

Eine stille Hausgemeinschaft entsteht, Sally schläft viel und kommt ein wenig zur Ruhe. Liss erklärt ihr das Leben auf dem Hof, die Hühnerhaltung, die Maschinen, die Bienen und die Birnen. Vor allem die Birnen, die eine besondere Verbindung zwischen den Frauen begründen.

Aber keine der beiden spricht über ihre Vergangenheit. Keine fragt. Jede lässt die andere in Ruhe und jede gibt nur preis, was sie möchte. Es entwickelt sich eine Freundschaft auf Augenhöhe. Bis Sallys Eltern sie finden und beinahe eine Katastrophe geschieht…

Mit Sally und Liss hat Ewald Arenz zwei ungewöhnliche Charaktere geschaffen, wie ich sie schon lange nicht mehr kennengelernt habe. War ich anfangs etwas besorgt, es könne sich um einen weiteren dieser modernen Heimatromane handeln, stellte sich schnell heraus, dass hier ein Roman über Freundschaft, Respekt und zwei starke Frauenfiguren vorliegt.

Diese beiden leben am Rande der Gesellschaft, können und wollen sich nicht einfügen, wollen nicht nach den Konventionen leben. Eine meint, den Kampf verloren zu haben, eine kämpft mit Klauen und Zähnen. Diese Entwicklung, wie die beiden sich ganz, ganz behutsam annähern, dabei Abstand halten, die andere sein lassen, diese Entwicklung habe ich atemlos verfolgt. Ich habe diesen Roman in drei Tagen inhaliert, und auch das nur, weil ich möglichst lange davon haben wollte.

Dies alles in der Umgebung eines Bergdorfes, mit Wäldern, Feldern und Weinbergen. Wo körperliche Arbeit getan werden muss, die jedoch auch eine Nähe zu sich selber mitbringt. Die die Frauen sich spüren lässt. In der jeder jeden kennt, und somit auch das Schicksal und die Ausgrenzung. Und in der diejenigen, die immer zu einem gehalten haben, kaum mit Gold aufzuwiegen sind. In der Traditionen Starre vorgeben, aber auch für Halt sorgen. Aus der man in die weite Welt fliehen will, die aber auch Geborgenheit verspricht.

Eine kleine Lobhudelei für einen für mich großen Roman. Ich möchte diese Geschichte über eine Frauenfreundschaft jeder und jedem ans Herz legen. Bei mir ist sie in die ewige Bestenliste eingezogen und heißer Kandidat für mein Buch des Jahres.

Ewald Arenz: Alte Sorten. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 255 Seiten.

Kathryn Stockett – Gute Geister (The Help)

Der Roman

Kathryn Stocketts Roman Gute Geister (The Help) ist im amerikanischen Süden, in Jackson, Mississippi, angesiedelt. Er erzählt von einer für damalige Verhältnisse ungehörigen Begebenheit, aus der Sicht von drei Frauen. Auch wenn die Sklaverei lange abgeschafft ist, herrschen im Grunde die gleichen Verhältnisse, außer dass die Hilfen für nicht ganz den Mindestlohn arbeiten. Zwei dieser Hilfen, Aibileen und Minny, erzählen der weißen Skeeter ihre Geschichten. Ihre drei Perspektiven wechseln sich ab.

Aibileens Perspektive eröffnet den Roman, sie beschreibt einen ihrer Arbeitstage und sinniert über die weißen Kinder, die sie großgezogen hat und großzieht, nach. Ihr eigener Sohn ist bei einem Unfall gestorben. Nicht, dass sie sich ihre Trauer anmerken lassen dürfte. Ihre beste Freundin ist Minny, eine ausgezeichnete Köchin, die für die Mutter von Miss Hilly arbeitet, bis Hilly diese ins Altenheim verfrachtet und Minny für sich selbst will. Als Minny ablehnt, verbreitet Hilly Gerüchte über sie, so dass sie keine neue Anstellung mehr findet. Miss Hilly sitzt nun mit Elizabeth Leefolt, Aibileens Arbeitgeberin, und Skeeter in Miss Leefolts Haus und spielt Bridge. Hilly eröffnet ihnen ihre neueste Idee: jede Hilfe muss eine eigene Toilette haben.

Minny, nun arbeitslos nach der Episode mit Hilly, hat wenig Erfolgsaussichten, einen neuen Job zu finden. Durch einen Zufall (ein bisschen nachgeholfen) landet sie bei Celia Foote, die den Mann heiratete, der einst Hillys Freund war. Sie wird von allen geächtet. Aber das ist nicht das einzige, was sie belastet. Zunächst mal kann sie nicht kochen, und Minny wird ihre Lehrerin. Und kommt langsam aber sicher hinter das Geheimnis, das Celia umgibt.

Skeeter hat ihre College-Zeit beendet und wurde nicht „weggeheiratet“. Nun ist sie wieder in ihrem Jugendzimmer und sucht nach ihrem Platz im Leben, stets begleitet vom Konzert ihrer Mutter über all ihre Unzulänglichkeiten. Ihre besten Freundinnen sind Hilly und Elizabeth, die sie gerne verkuppeln möchten, was aber nicht so ganz funktioniert. Skeeter sucht sich einen Job bei einer Zeitung, doch das Beste, was sie als Frau, noch dazu frisch vom College, bekommen kann, ist eine Haushaltskolumne. Kein Problem, sie hat ja nicht ihr Leben lang alles von den Hilfen abgenommen bekommen. Nun bittet sie also Aibileen um Hilfe. Für ihre Kolumne.

Und so kommt die Konstellation zustande, die dann im weiteren Verlauf dazu führt, dass Skeeter, um ihre Karriere voran zu bringen, Aibileen und Minny und noch einige andere Frauen fragt, ihr von ihrem Leben als „The Help“ zu erzählen. Es sind die sechziger Jahre, Martin Luther King wird schon bald von einem Traum sprechen, aber dieser ist bis jetzt nicht erfüllt. Die Realität der Schwarzen in Jackson besteht aus versehrten Körpern und Seelen, weil sie irgendeine Weißenregel missachtet haben.

Je mehr dieser Versehrungen stattfinden, umso mehr Geschichten kommen zutage. Diese sind nicht immer schlecht, aber die meisten sprechen eine eindeutige Sprache. Und sind damit brandgefährlich für alle Beteiligten. Als das Buch schließlich erscheinen soll, muss eine Sicherheit her. Doch kann es die geben?

Der Roman The Help hat mir gut gefallen. Ich habe in letzter Zeit angefangen, mich mit der Black Lives Matter – Bewegung und auch mit Feminismus zu beschäftigen, wobei ich noch unendlich viel lernen muss, und in dieser Hinsicht hat er schon einiges zu bieten. Es handelt sich um eine Geschichte, die ausschließlich aus weiblichen Perspektiven behandelt wird, und zwei dieser Perspektiven sind die von Schwarzen Frauen.

Ich schaue den Film

Ich habe die Buchausgabe mit den Schauspielerinnen der Verfilmung auf dem Cover, ich weiß, dass Octavia Spencer den Oscar für die beste Nebendarstellerin bekommen hat. Nach Beenden des Buches sehe ich mir den sehr erfolgreichen Film an, ich bin neugierig auf die Umsetzung der Perspektiven und ob es geschafft wird, die Stimmen so stark zu machen wie im Buch.

Natürlich nicht. Klar ist von vornherein, wie natürlich bei jeder Verfilmung: der Roman hat 600 Seiten, gekürzt wurde ausgiebig. Aber Kürzen muss nicht unbedingt vereinfachen heißen, was jedoch hier fast überall getan wurde. Lächerlich ist Skeeters Lernkurve, die erstaunten Augen, wenn sie anfängt zu begreifen, was um sie herum geschieht, oder wie die Realität für die anderen Frauen aussieht. Vereinfachung ist hier überhaupt das Wort: Allison Janney, die Skeeters Mutter verkörpert, ist in dieser Rolle, die auch vereinfacht und am Ende unglaublich beschönigt wird, eine absolute Fehlbesetzung. Skeeters Herrenprobleme sind im Film vollkommen überflüssig, und Celias Geheimnis wird auch nur in eine Disney-Version verpackt. Was zur Folge hat, dass diese absolut unangemessene Endszene mit ihr und Minny zustande kommen konnte.

Die starke Vereinfachung geht natürlich auch an Aibileens Figur nicht vollkommen vorbei, aber sie kommt tatsächlich glaubhaft und nachvollziehbar an. Insgesamt gibt es viele schöne Bilder und eine „schöne“ Atmosphäre, aber diese täuschen nicht darüber hinweg, dass Probleme nur angedeutet werden und die Gefahren und Ängste quasi nicht stattfinden.

Ich lese den Essay von Roxane Gay

Parallel zu Gute Geister lese ich den Essayband Bad Feminist von Roxane Gay. Dieser enthält auch einen Essay zu – hauptsächlich – der Verfilmung. Ich hebe mir diesen auf, bis ich das Buch beendet und den Film gesehen habe, damit ich mir selbst ein Bild machen und dann eine andere Meinung einholen kann. Und diese ist anders. Sie sieht zum ersten das Problem, dass eine weiße Frau über Schwarze Frauen schreibt, die aber keine Ahnung hat von dem, wie es wirklich war und so immer nur in der Lage sein wird, eine beschönigte Version wiedergeben zu können.

Gay spricht von der Figur des Schwarzen in Filmen, der auftritt, um dem Protagonisten die weisen Eigenschaften zu verleihen, die er oder sie braucht, um weiterzukommen (Gay, S. 272). Siehe „Ghost – Nachricht von Sam“, „Robin Hood, König der Diebe“ oder „The Green Mile“. Hier tut Aibileen dies für Mae Mobley, Elizabeths ungeliebte Tochter. Skeeters problematischer Umgang mit dem „Erlernten“, das eigentlich so offensichtlich für sie sein sollte, ist ein weiteres Problem. Auch, dass sie sich nicht darüber im Klaren ist, wie sehr sie die Frauen gefährdet, und am Ende auf ihre Stelle verzichten will, um sie zu „beschützen“, ist schwierig.

Die Probleme mit dem Dialekt, der den Schwarzen Frauen gegeben wurde, kann ich nicht beurteilen, da ich den Roman in der deutschen Fassung gelesen habe und auch bei der englischsprachigen Filmversion keine Ahnung habe, ob das authentisch ist oder nicht. Da muss ich ihr glauben. Viele ihrer Punkte konnte ich nachvollziehen, bei einigen hatte ich einige Schwierigkeiten damit.

Der Essay von Roxane Gay war eine hilfreiche Erfahrung für mich, zu überprüfen, wie ich Dinge wahrnehme und was ich als selbstverständlich annehme oder ohne weiteres Nachdenken hinnehme. Ich sehe, ich habe noch einiges zu tun, um Dinge anders einschätzen zu können, aber der Lernprozess läuft.

Kathryn Stockett: Gute Geister. The Help. Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2012. OA: The Help. Amy Einhorn Books/Putnam, New York, 2009. 605 Seiten.

Roxane Gay: Bad Feminist. Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Spielmann. btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2019. OA: Bad Feminist. Harper Perennial, New York, 2014. 414 Seiten.

Nederlandstalig! Maria Peters – Die Dirigentin

Maria Peters ist eigentlich Filmemacherin und hat den Stoff um Antonia Brico zuerst verfilmt, wobei der Gedanke, auch einen Roman aus dem Stoff zu verfassen, wohl parallel lief. Wie Maria Peters im Nachwort schreibt, war die Inspiration für beides der Dokumentarfilm Antonia. A Portrait of the Woman von Judy Collins. Große Hilfe bei ihrem Projekt war Antonias Cousin Rex Brico, der sie sehr gut gekannt hat.

Die Geschichte von Antonia Brico beginnt 1926, als Antonia, deren Name da noch Wilhelmina – Willy – Wolters lautet, Anfang 20 ist. Ihre Mutter ist überaus streng zu ihr, kassiert den Lohn von Antonias beiden Jobs sofort ein und lässt sie noch große Teile der Hausarbeit erledigen, ihr Vater ist Müllmann, immer erschöpft. Antonia arbeitet als Schreibkraft und abends als Platzanweiserin in einer Konzerthalle. Diesen Job liebt sie. Wenn die Türen sich schließen, eilt sie in die Herrentoilette – dort ist die Akustik am Besten – und dirigiert mit, mit einem Essstäbchen.

Hierbei wird sie von einem jungen Mann erwischt, der zweiten Stimme in diesem Buch: Frank. Er kann sich nicht erklären, was Antonia dort tut, so abwegig ist der Gedanke, sie könne dirigieren. Dennoch findet er sie interessant. Als eines Tages Antonias großes Vorbild Willem Mengelberg, ein niederländischer Dirigent, auftritt, muss sie dies unbedingt miterleben. Doch es kommt anders, und auf einmal hat sie keinen ihrer Jobs mehr.

Um nicht zu Hause zu sitzen, klappert sie alle Jobangebote ab, die sich bieten und landet schließlich in einem Club. Hier lernt sie Robin kennen, die dritte Stimme im Buch. Robin nimmt sie als Klavierspielerin an. Und so beginnt Antonias Entwicklung, sie wird offener und selbstbewusster. Schließlich geht sie zu Mark Goldsmith, einem Musikprofessor, und bittet ihn um Unterricht, damit sie aufs Konservatorium kann. Und sie konfrontiert ihre Eltern, wobei sie einige unglaubliche Wahrheiten über sich erfährt.

Maria Peters erzählt Antonias Weg zur Dirigentin aus drei Perspektiven, der Antonias, der Franks und der Robins. So bekommt man nicht nur Antonias Innenperspektive und ihre Sicht der Dinge, sondern auch Perspektiven außerhalb und auf sie. Antonias Weg ist hart, gepflastert mit Zurückweisungen und Erniedrigungen, die sich vor allem auf ihr Dasein als Frau und ihre Unverschämtheit, einen Beruf ausüben zu wollen, den nur Männer ausüben, beziehen.

Doch sie setzt sich durch, beißt sich durch, mit und ohne Franks Hilfe, mit Robins Hilfe. Sie wird Dirigentin eines Frauenorchesters, und das ist, wo im Großen und Ganzen der Roman endet. Es gibt dann noch einige Fakten, welche besagen, dass Antonia Brico so gut wie keine Jobs als Dirigentin bekommen hat und zeit ihres Lebens (bis 1989!!!) nie eine Festanstellung bei einem großen Orchester.

Der Ton des Romans ist ruhig und reflektiert, selbst als Antonia fast alles verliert, bleibt sie lakonisch und sagt: „Was kann ich machen?“ (S. 128). Auch die anderen Stimmen geben wieder, was sie denken und was geschieht, bleiben aber seltsam unbeteiligt. Dieser Ton intensiviert so einige Szenen, die darüber gelegte „Normalität“ wirkt manchmal wie ein Schlag ins Gesicht, dann wiederum möchte man Antonia manchmal nehmen und schütteln, damit sie etwas tut.

Es werden in diesen gut 300 Seiten sehr viele Themen angesprochen. Maria Peters hat einen ausführlichen Quellenteil angefügt. Die künstlerische Freiheit dürfte in den Personen rund um Antonia liegen, und in deren Perspektive. Diese ist mehr eine Perspektive nach #Metoo, was ich einerseits begrüßt habe, da es Antonias Lebenswelt in eine andere als die „so war das damals halt“-Rechtfertigungswelt rückt, diese andererseits aber manchmal auch allzu modern für den Stoff anmutet.

Es gibt ein Geheimnis um Robin, versuchte Vergewaltigung, eine (zwei) Liebesgeschichte(n) und immer und überall Misogynie, aufgegebene Träume, arrangierte Träume und einen erreichten Traum: Antonia wird Dirigentin. Und auch wenn Antonia weiterhin nur Kampf erfahren sollte, hatte sie auch Verbündete. Diese Kombination aus Kraft, Willen, Durchsetzungsvermögen und Freundschaft ergibt schließlich einen empfehlenswerten Roman über eine starke Frau, die sich nie hat kleinkriegen lassen.

Dieser Roman ist Teil meines nederlandstalig-Projekts und vom #WITmonth (Women in Translation).

Ich danke Atlantik bei Hoffmann & Campe für das Rezensionsexemplar. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Maria Peters: Die Dirigentin. Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek. Atlantik bei Hoffman und Campe, Hamburg 2020. OA: De dirigent. Meulenhoff Boekerij bv, Amsterdam 2019. 332 Seiten.

Nederlandstalig! Marjolijn van Heemstra – Ein Name für dich

„Was ich weiß, lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Widerstandsheld bringt am Nikolausabend eine Bombe, als Geschenk verpackt, zu einem ehemaligen NSB-Mann. 

Ich schreibe „Bombe“, aber in der Familienüberlieferung war die Bombe jedes Mal ein „Bömbchen“, der NSB-Mann war ein „Verräter“ und der Bombenneffe „ein Schlitzohr“. Die Generation meiner Großeltern hielt die Vergangenheit am Leben, wiederholte die Geschichte, wann immer sie jemand hören wollte. Schlitzohr überrascht Verräter mit Bömbchen.“ (S.15)

Der Name dieses Bombenneffen, wie Marjolijn bzw. die namenlose Ich-Erzählerin ihn nennt, ist Frans Julius Johan. Die Erzählerin ist schwanger, und sie hat ihrer Oma an ihrem achtzehnten Geburtstag versprochen, ihren Erstgeborenen nach dem Familienhelden zu benennen. Frans Julius Johan. Der Bombenneffe. Der der Oma einen Ring schickte, der nun der Erzählerin gehört, und der sie ständig an ihr Versprechen erinnert.

Doch dann wird sie unsicher. Sie muss ihrem Sohn irgendwann die Geschichte seines Namens erzählen, und sie will sich sicher sein, dass es die richtige Geschichte ist. Dass er nach einem Helden benannt wurde, nach einem, der für Gerechtigkeit sorgte. Dass er jemanden hat, dem er nachstreben kann.

Also fängt sie an zu recherchieren. Fragt die Familie. Fragt Bekannte und Freunde. Und kommt immer wieder bei der Heldengeschichte aus. Doch irgendwie scheint etwas nicht zu stimmen, und sie fängt an, tiefer zu graben. Und je weiter sie in die wahren Geschehnisse eindringt, je weiter sie in die Vergangenheit vordringt, umso besessener wird sie von der Suche nach der Wahrheit. Was ist damals passiert, an diesem Nikolausabend so kurz nach dem Krieg?

Ein Name für dich ist ein kurzer Roman, gerade einmal gut 200 Seiten umfasst er. Marjolijn van Heemstra macht keinen Hehl daraus, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, die in Romanform gebracht wurde. Es ist ihre Geschichte, und nun auch die ihres Sohnes. Die Geschichte wird in Kapiteln erzählt, die die Dauer bis zur Geburt bzw. bis zur Namensgebung ankündigen. Und je weniger Wochen diese zählen, desto besessener wird die Erzählerin. Bis sie fast alles aufs Spiel setzt…

Bombenneffe. Ich kann mir vorstellen, dass es in sehr vielen Familien Bombenneffen gibt. Oder Opas, Onkels, Vettern, was auch immer, Menschen, die der Familienlegende nach Helden waren im Krieg, die eine Person, die sich widersetzt hat, die eine Person, die nicht mitgespielt hat. Denn „es waren ja nicht alle so“. „Aber man konnte ja nichts tun.“ Außer vielleicht dieses eine Familienmitglied.

Hier hat der Neffe einen Verräter getötet, einen, der ein Kollaborateur war, Mitglied der NSB, der niederländischen Nazionalsozialisten, der Krieg war vorbei, aber Strafe sollten sie kriegen. Ein Held, ohne Zweifel. Einer, nach dem man seinen Sohn benennen kann.

Wenn man nicht daran kratzt. „Helden“ gibt es in Büchern und Filmen. Im richtigen Leben hat jeder viele Seiten, unzählige Facetten. Da scheint mir nun wichtig zu sein, für wen oder was der Held Besserung geschaffen hat, und vor allem, wie. Mir stellte sich schon früh beim Lesen die Frage, ob jemand, der jemanden ermordet, denn nun in irgendeiner Weise ein Held sein kann. Die anfangs doch sehr naive Erzählerin akzeptierte das. Und nervte mich damit.

Doch je mehr die Erzählerin anfing zu suchen, je mehr sie nachforschte, je mehr Details sie erfuhr, umso mehr machte auch die Leserin die Erfahrung, wie eine Frage die nächste gibt, bei sich selbst, nicht nur bei der Protagonistin. Wer war auf der richtigen Seite? Das scheint klar. Waren alle anderen komplett falsch? Oder hatten sie Angst? Mussten sie jemanden beschützen? Haben sie Menschen im Stillen gerettet? Haben auch diese Menschen eine Heldengeschichte? Oder sind sie vergessen?

Dieser schmale Roman wirft eine Unzahl an Fragen auf, die weit über seine Geschichte hinausgeht. Wer sind die Helden? Wer sind die Schuldigen? Müssen diese bestraft werden? Und wenn ja, wie schwer wofür? War Selbstjustiz jemals zu rechtfertigen? Heldentum ist ein zweischneidiges Schwert. Helden bleiben erhalten, und sei es nur in der Familienmythologie. Doch dafür mussten sie auch etwas tun, um im Gedächtnis zu bleiben. „Ein Bömbchen“ vielleicht.

Ein Name für dich, dieser Roman, der so einfach und unbedarft beginnt, hinterlässt seine tiefsten Spuren Tage, nachdem man ihn beendet hat. Wenn man ihn weggelegt hat und zum nächsten übergeht. Und sich wiederfindet, wie man über Heldentum, und ob es möglich ist, lebendig als einer aus den Geschehnissen herauszukommen, nachdenkt.

Ich danke Atlantik bei Hoffmann & Campe für das Rezensionsexemplar. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Marjolijn van Heemstra: Ein Name für dich. Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek. Atlantik bei Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2019. OA: En we noemen hem. Das Mag, Amsterdam 2017. 206 Seiten.

Margaret Atwood – Die Zeuginnen

Nun ist sie also da, die langerwartete Fortsetzung von Der Report der Magd. Oder eigentlich ist es ja die zweite Fortsetzung – ist die erste Staffel von „The Handmaid’s Tale“ noch eng an den Roman gebunden, führen die beiden nächsten die Story fort, ebenso, wie dies Die Zeuginnen tut.

Man kann jetzt natürlich sagen, dass Der Report der Magd so gut war, dass man diesen Roman so stehen lassen sollte, als ein in sich abgeschlossenes Meisterwerk, dass alles, was man dazu dichtet, überflüssig sei und unerwünscht. Oder man kann den ersten Roman als Basis ansehen, einen Entwurf einer Welt, und weitere Details hinzufügen, andere Stimmen zu Wort kommen, Hintergründe entstehen lassen und unterschiedliche Seiten beleuchten.

Denn, wenn man sich darauf einlässt, bekommt man durch die Serie und nun auch den Folgeroman neben der doch ziemlich schwarz-und-roten, oder eher schwarzen Handlung des ersten Romans neue Schattierungen. Zugegeben, sie sind außer schwarz und rot nicht vielfarbig, sie sind grün und blau, manchmal rosa, sehr oft grau. Aber für mich ist sowohl mit der Serie als auch mit dem zweiten Roman eine stimmige Fortführung dieser Welt entstanden, die – natürlich – nicht perfekt ist, aber doch viele gute Ansätze und Details verarbeitet hat.

Die Handlung von Die Zeuginnen setzt 15 Jahre nach den Ereignissen aus Der Report der Magd an. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern Margaret Atwood die Geschehnisse der Serie berücksichtigt hat, zumal ja auch noch eine vierte Staffel kommen soll. Aber ich denke, man kann alles vereinen.

Die Zeuginnen sind nun drei Frauen, die Zeugnis ablegen über die Ereignisse aus Gilead. Von diesen drei Frauen gibt es einmal ein schriftliches Zeugnis, einen Bericht, der offensichtlich von der Gebildetesten der drei verfasst wurde und die Ereignisse von den Anfängen Gileads bis „heute“ thematisiert. Die anderen beiden Zeugnisse sind mündliche Protokolle, Zeugenaussage 369A und Zeugenaussage 369B. Eine dieser Aussagen stammt von einer Frau, die in Gilead aufgewachsen ist, die andere von einer Frau, die in Kanada groß wurde.

Hier kommt jetzt die Verbindung zur Serie ins Spiel, diejenigen, die sie gesehen haben, werden nicht viel Mühe aufwenden müssen herauszufinden, wer die drei Frauen sind. Ich werde dies an dieser Stelle nicht schreiben. Was ich schreiben werde, ist, dass durch diese drei Sichtweisen viele Hintergründe hinzukommen. Einmal, wie es dazu kam, dass Gilead entstehen konnte und wie die Tanten so viel Macht bekommen und halten konnten. Die für mich interessanteste Perspektive war diejenige der in Gilead aufgewachsenen Frau, deren ganzes Weltbild auf den Lehren dieses „Gottesstaates“ beruht und die, obwohl so viel dagegen unternommen wurde, doch selbstständig denken kann. Die dritte Perspektive, diejenige aus Kanada, ist eine, die nicht so schwierig nachvollziehbar ist, leben wir sie doch alle: „Sieh mal, was für Zustände in diesem Land herrschen, fürchterlich, die Armen“ usw.

Die Zeuginnen ist mit Sicherheit nicht Margaret Atwoods stärkster Roman, er rangiert noch nicht mal unter den Top 5, denke ich, aber für mich ist er dennoch wichtig und gelungen. Der Report der Magd war seit dem ersten Lesen, da war ich Anfang 20, Teil von mir, oft habe ich über diese Welt, die Atwood da erschaffen hat, nachgedacht und Dinge wiederentdeckt, die in der Weltgeschichte geschahen und geschehen. Trump hat ohne Zweifel vieles wieder hervorgeholt, manchmal meint(e) man, er benutze den Roman als Vorlage. Die in diesem Zuge entstandene Serie, die der Geschichte mehr Hintergrund gegeben hat, auch und vor allem auch durch die Perspektive von der anderen Seite, die der Ehefrauen, und der Roman, der die der Tanten und Töchter Gileads mitbringt, sind für mich eine absolut gelungene Ergänzung. Ich kann aber auch die Stimmen verstehen, die den ersten Roman so für sich stehen lassen wollen.

Eine weitere  Besprechung findet Ihr bei Nettebuecherkiste.

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Deutsch von Monika Baark. Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH 2019. OA: The Testaments. PenguinRandom House Toronto/New York/London 2019. 573 Seiten.

Rebecca Gablé – Teufelskrone

„Wenn Du einem König deine Freundschaft schenkst, läufst du immer Gefahr, an seinen Taten zu verzweifeln.“ (Klappentext)

Rebecca Gablé nimmt uns in ihrem neuesten Roman wieder einmal mit nach Waringham. Diesmal ist es Yvain, dessen Lebenslauf wir verfolgen, und die Zeit ist die von Richard Löwenherz und King John. Die Geschichte ist also ungefähr 100 Jahre vor den anderen Waringham-Romanen angesiedelt.

Yvains Vater hat für ihn einen bestimmten Lebensweg vorgesehen: Im Gegensatz zu seinem Bruder Guillaume, der einer der engsten Ritter von König Richard Löwenherz ist, soll er zu den Templern gehen. Auf seinem Weg dorthin begegnet er allerdings dessen Bruder, King John, und Yvains Templerkarriere endet in einem Wirtshaus. Seine Karriere als King Johns Knappe und späterer Ritter beginnt jedoch.

Man kennt viele Geschichten über die Brüder Richard und John, nicht zuletzt wegen der vielen Varianten von Robin Hood & Co., oftmals wird aber nicht klar, dass z.B. Robin Hood die Reichen ausraubt, weil England für Richard Löwenherz‘ Lösegeld bezahlen muss. John paktiert hier mit Philippe von Frankreich, um Richard zu stürzen und die Krone Englands zu übernehmen, da England ihm am Herzen liegt.

Nichtsdestotrotz ist bekannt, dass John ein unberechenbarer Typ war, jähzornig, brutal und uneinsichtig, und Yvain soll sein Leben lang damit ringen, seinem König ein guter Gefolgsmann zu sein. Teil einer jungen Truppe von Knappen, umgeben von Edelleuten, erkämpft sich Yvain einen Platz in Johns engstem Kreis, wird gar manchmal zu seinem Ratgeber.

Dies bezahlt er jedoch oft mit einem hohen Preis, von der Entscheidung zu heiraten, die ihm diktiert wird, bis zu seiner persönlichen Freiheit. Mit der Schuld, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Mit der Verantwortung für seine Familie und Lehnsleute. Vielleicht sogar mit seinem persönlichen Glück.

Und so leitet uns Rebecca Gablé einmal mehr durch die bewegte Geschichte Englands, die mit einem Kreuzzug beginnt und mit der ersten Magna Charta endet. Mit Yvain of Waringham und seiner Familie ist es ihr wieder einmal gelungen, Protagonisten zu erschaffen, die vielschichtig sind und reflektiert, die leiden und mit ihrem Schicksal hadern und dennoch Kinder ihrer Zeit sind, die dieses Schicksal als gottgegeben betrachten und deswegen nicht anders können, als sich zu fügen. Oder vielleicht doch?

Dass Rebecca Gablé es versteht, eine andere Welt auferstehen zu lassen und dies jedesmal genüsslich und detailreich umsetzt, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Ich freue mich genau deshalb über jeden neuen Roman, wird man doch von ihren Geschichten für eine Weile aus der Welt herausgezogen und in eine Art Parallelwelt geschickt, die lange vergangen und doch sehr gegenwärtig ist.

Dennoch war mir „Teufelskrone“ manches Mal ein wenig too much. Ich weiß, es war eine brutale Zeit, aber die Detailtreue bei all den grausigen Dingen, die sich die Menschen damals angetan haben, hätte ich nicht immer gebraucht. Ja, ich weiß, das gehört dazu. Auf jeden Fall habe ich diesen Schmöker wieder genossen, es war schön, wieder einmal in Waringham zu sein (und wenn man die weiteren Romane betrachtet, die alle ungefähr 50 Jahre auseinander liegen, wird einem auffallen, dass Frau Gablé sich noch einen Slot offen gelassen hat).

Ich danke Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.

Rebecca Gablé: Teufelskrone. Bastei Lübbe AG, Köln 2019. 926 Seiten.