Nederlandstalig! Jessica Durlacher – Der Sohn

flagge„Nach allem, was passiert ist, weiß ich jetzt zumindest eines ganz sicher: dass die Besorgnis meines Vaters um uns nicht umsonst war. Wer so magisch denkt wie ich, könnte sogar behaupten, dass er uns mit dieser gigantischen Besorgnis beschützt hat. Unter seinem wachsamen Blick und seiner erbitterten Lenkung blieben uns Katastrophen, Unglücksfälle und Kriege erspart – und nach seinem Tod ging auffällig viel schief. Oder anders ausgedrückt: Bis zu seinem Tod war alles gutgegangen, aber dann war es damit vorbei. Vielleicht war das Schicksal ihm etwas schuldig gewesen, nach all dem, was es ihm angetan hatte, und als er nicht mehr war, gab es dann kein Halten mehr.“ (13)

Sara Silverstein, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, hat gerade ihren Vater verloren. Herman Silverstein war Jude, und hat mit viel Glück den Holocaust überlebt. Seine Mutter hatte er zum letzten Mal gesehen, als diese auf dem Weg in die Gaskammer war. Und seine Geschichte prägt auch das Leben seiner Töchter, die er immer nur beschützen will und für die er strenge Regeln aufstellt, die er aber auch abgöttisch liebt.

Sara ist mit Jacob, einem Filmproduzenten, verheiratet, der auch in Hollywood Erfolg hat, weswegen die Familie mit ihrem Sohn Mitch und der Tochter Tess lange in den USA gelebt hat. Deswegen nimmt Mitch nun auch ein Studium in Berkeley auf, während der Rest der Familie in den Niederlanden zurückbleibt. Dann passiert es ganz plötzlich: Herman Silverstein fällt von einer Leiter, kommt ins Krankenhaus und stirbt aufgrund eines Keims. Und nun ist nichts mehr wie vorher. Sara hat den Halt in ihrem Leben verloren, den ihr Vater ihr immer gab.

Aber das ist bei Weitem nicht alles. Sara wird auf ihrer Joggingrunde überfallen und belästigt. Und dann wird in ihr Haus eingebrochen, ihr Mann Jacob wird angeschossen und Tess sagt nicht, was mit ihr passiert ist. Derweil hat Mitch sich in den USA den Marines angeschlossen und absolviert in der Zeit das boot camp, das ihm keinen Kontakt nach Hause ermöglicht.

Sara ist verzweifelt, sie weiß nicht, was mit ihrem Leben geschieht, und fängt an, in den Sachen ihres Vaters zu wühlen. Dort stößt sie auf interessante Dinge… Sollte am Ende alles zusammenhängen?!der sohn

Jessica Durlachers Roman Der Sohn ist sehr komplex, so viele Rädchen greifen ineinander, dass ich mir manchmal gewünscht hätte, sie hätte sich ein wenig zurückgehalten. Dann wiederum meistert sie es, allen Rädchen gerecht zu werden, und hat somit ein Panorama von Schuld und Opfern, vor Angst Gelähmten und Kämpfern geschaffen, das sich über 70 Jahre zieht, vom 2. Weltkrieg bis zur heutigen Zeit.

Sie tut dies in einer, wie ich es empfunden habe, sehr emotionalen Sprache. Ich habe schon viele von Frauen geschriebene Bücher gelesen, aber noch nie ist mir dies so bewusst gewesen. Die Perspektive und die Art und Weise ihrer Erzählung ist sehr weiblich. Sie erzählt als Mutter, als Ehefrau und als Tochter, und der Leser ist vollkommen in dieser Perspektive verankert. Das war für mich sehr intensiv, eben weil mir dies noch nicht so vorher begegnet ist. Und die Geschichte ist eine Emotionale, die mit ihren Wendungen und Hintergründen manchmal nicht ganz einfach zu verdauen ist.

Sie sehen also, dieses Buch hat mich ziemlich begeistert. Diese Perspektive bekommt man selten geliefert, und dann noch in einer so komplexen Geschichte. Ich kann aber auch verstehen, dass man sich damit schwer tun könnte, da man sich darauf einlassen muss, da man schlecht abstrahieren und sich außen vor halten kann.

Der Sohn ist sicherlich kein Roman für Jedermann, dazu ist er zu speziell. Aber er ist ein Roman, den man nicht zu oft vorgesetzt bekommt, und deswegen für alle Leser ein weiteres Puzzlestück in ihrem Lesekosmos bedeuten kann. Außerdem kann man bei diesem wie bei vielen niederländischen Romanen sehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust immer noch andauert, intensiv, dass die Geschichte noch nicht aufgearbeitet ist. Und dies sollte in einer Zeit wie der heutigen, in der viele die Auswirkungen, die Nachwehen, die Schuldgefühle klein reden und aus dem Gedächtnis verbannen wollen, doch immer wieder deutlich gemacht werden. Deswegen: aus meiner Perspektive eine Empfehlung!

Jessica Durlacher wurde am 6. September 1961 in Amsterdam geboren. Sie ist Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Übersetzerin. Ihr Vater  war der Soziologe Gerhard Durlacher, der als einziger seiner Familie Auschwitz überlebt hat. Mit seinen Berichten und Erzählungen wurde er zu einem wichtigen Zeitzeugen, was von Jessica Durlacher fortgesetzt wurde. Sie schreibt vor allem von Eltern, die den Holocaust überleben und ihren Kindern, die in und mit dieser Erinnerung aufwachsen.

Jessica Durlacher ist mit Leon de Winter verheiratet, mit dem sie in Bloemendaal und Kalifornien lebt. Sie haben zwei Kinder, die Tochter ist Solomonica de Winter. Somit hätten wir die Schreiber-Familie also komplett.

Jessica Durlacher: Der Sohn. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag AG Zürich, 2012. OA: De Held. De Bezige Bij, 2010. 408 Seiten.