Nederlandstalig! Tessa de Loo – Die Zwillinge

22052016155[1]Lotte bekommt von ihren Kindern einen Aufenthalt in Spa geschenkt, um ihre Arthrose zu lindern. Dort trifft sie unverhofft auf Anna – ihre Zwillingsschwester, die sie fast ein Leben lang nicht mehr gesehen hat. Anna ist glücklich, sie zu sehen, Lotte jedoch sträubt sich, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Doch Anna bleibt konsequent, und unerbittlich entrollen sich zwei Lebensläufe, die vom gleichen Ursprung aus zwei vollkommen verschiedene Richtungen nehmen, einer in Deutschland, einer in den Niederlanden, einer unter den Nazis, einer im Widerstand, einer mit vielen Wunden, einer mit vielen Wunden.

Nachdem Annas und Lottes Vater verstorben ist, die Mutter war schon länger tot, werden die beiden Mädchen getrennt bei Verwandten untergebracht. Anna kommt in ein kleines katholisches Dorf zum Bruder ihres Vaters, Onkel Heinrich, der einen kleinen Bauernhof hat und froh ist, die Hilfe zu bekommen. Lotte, die wie ihr Vater unter Tuberkolose leidet, wird zu holländischen Verwandten gebracht, die sie pflegen können. Die Mädchen warten auf ein Wiedersehen, doch ihre Leben schieben sich vor ihre immer verschwommener werdenden Erinnerungen.

Anna, ein kluges und aufgewecktes Kind, bekommt keine Schulbildung, sie soll von früh bis spät auf dem Hof schuften. Unter der neuen Frau Onkel Heinrichs wird es richtig schlimm, so schlimm, dass irgendwann der Dorfpfarrer einschreitet und sie mitnimmt. Von hier an entspinnt sich ein Lebenslauf, der sie durch ganz Deutschland und nach Österreich führt, immer unter dem Eindruck vom Krieg und den Nazis, wovon sie im Grunde nichts versteht und immer versucht zu helfen.

Lotte hingegen wächst bei Sozialisten auf, und nach dem Überwinden ihrer Krankheit hat sie ein recht normales Leben, zwar mit einem sehr exzentrischen Vater, aber auch einer liebevollen Familie. Ihr Vater, Musikliebhaber, lässt alle möglichen Menschen, die seine Leidenschaft teilen, in ihrem Haus ein- und ausgehen, und so wächst Lotte unter Menschen auf, die etwas gemeinsam haben, das nichts mit Rasse oder Vorurteilen zu tun hat. Bis auch in den Niederlanden der Krieg ankommt und Leute anfangen zu verschwinden, und man sich für eine Seite entscheiden muss.

Vor der Kulisse Spas erzählen sich die Schwestern ihre Lebensläufe, Anna versucht, Lotte verstehen zu lassen, wie es für sie war, aber Lotte gibt sich blind. Für sie ist alleine die Tatsache, dass Anna Deutsche ist, genug, sie zu verurteilen. Aber nach und nach zeigt sich, dass Anna teuer dafür bezahlt hat und vielleicht nicht alles so einfach ist, wie es nach außen hin scheint…

Dies nur ein kurzer Einblick in einen Roman, der zwei komplexe Lebensläufe erzählt, anhand dessen zwei Länder im Krieg dargestellt werden. Das eine sieht sich ausschließlich als Opfer, das andere will die Täterrolle nicht komplett übernehmen, und in langen Gesprächen wird offenbar, dass das Urteil nicht ganz so leicht auszusprechen ist, wie man das gerne hätte.

Tessa de Loo hat mit Die Zwillinge einen wundervollen und wichtigen Roman über Schuld und Vergebung geschrieben, über Aufarbeitung, über Macht und Machtlosigkeit, und wie sehr man Kind der Umstände ist. Was man mit dieser Erkenntnis anstellt, bleibt einem selbst überlassen, aber das Nachdenken ist angestoßen.

Wer nicht nachdenken möchte, bekommt auf jeden Fall einen interessanten und spannenden Roman, in der die Zeit des Zweiten Weltkriegs anschaulich und in interessante Lebensgeschichten verpackt dargestellt wird. Tessa de Loo schildert zwei glaubhafte Lebensläufe, die, obwohl sie sich kaum berühren, doch immer wieder ineinander verschränkt werden. Durch die mehr oder weniger abwechselnde Erzählweise bleibt die Spannung erhalten, man möchte mehr erfahren, und zwar von beiden Geschichten.

Ich kann mir vorstellen, dass dies bei Erscheinen des Buches nicht jedem Leser gepasst haben mag, denn die Vorurteile der beiden Völker sind (oder vielleicht bald waren?) so, wie sie die beiden Figuren verkörpern. Tatsächlich hat der Roman in den Niederlanden viel Aufsehen erregt, und die Reaktionen waren durchaus zwiegespalten.

Dennoch: Nach der Lektüre hat sich vielleicht die eine oder andere Ansicht geändert. Und deshalb möchte ich diesen Roman jedem empfehlen, und sei es auch nur, weil es eine tolle Geschichte ist. Alles weitere möge jeder für sich selbst entdecken.Bild: ad.nl

Tessa de Loo: Die Zwillinge. Deutsch von Waltraud Hüsmert. btb, München. 1997. OA: De Tweeling. Uitgeverij De Arbeiderspers, Amsterdam. 1993. 478 Seiten.

Tessa de Loo wurde als Johanna Tineke Duyvené de Wit am 15. Oktober 1946 in Bussum, Niederlande, geboren. Sie war Lehrerin, bis sie 1983 die Erzählungen Die Mädchen von der Süßwarenfabrik veröffentlichte. Die Zwillinge bekam 1994 den Von-der-Gablentz-Preis und den Publieksprijs. Er wurde 2002 unter der Regie von Ben Sombogaart verfilmt, mit Thekla Reuten, Ellen Vogel, Nadja Uhl und Gudrun Okras in den Hauptrollen. Tessa de Loo lebt heute in Portugal.