J. D. Salinger – Neun Erzählungen

Ich las den Fänger im Roggen vor vielen Jahren, wie wohl viele Menschen in ihrer Pubertät. Viel ist nicht hängengeblieben, eigentlich kaum etwas, außer dem Bewusstsein, dass es sich um ein zentrales Stück amerikanischer Literatur handelt und J. D. Salinger nicht viel anderes schrieb. Er schrieb aber noch einige Erzählungen, und neun davon sind in diesem (immer noch schmalen) Buch versammelt.

Die Erzählungen entstanden in den Jahren 1948 bis 1953 und spiegeln sehr viel vom damaligen amerikanischen Zeitgeist wider. Sie wurden zunächst in Zeitschriften veröffentlicht und müssen den Amerikanern manches Mal ein wenig quergesessen haben, wie ich vermute. Denn Salinger schildert Episoden aus dem American Way of Life, von Urlaubsreisen, Sportclubs, von Schein und Sein.

Es sind kurze Scheinwerferspots, die er auf die Situation wirft, hell erleuchtet kommt jedes Detail zum Vorschein. Und so wird auf einmal die junge Frau, die ihre Mutter aus dem Urlaub anruft und sie zu beruhigen versucht, in einen Alptraum versetzt, da ist ein Gespräch, bei dem reichlich Alkohol fließt, auf einmal unerbittlich ehrlich, da versucht sich einer ein besseres Leben zu erschleichen und findet sich in einem Loch wieder…

Oft schmunzelt man, möchte anfangen zu lachen, doch dann bleibt dieses Lachen gurgelnd in der Kehle stecken, das Gesicht mit dem verzogenen Mund zu einer Maske erstarrt. Moment…was ist gerade passiert?!

Salinger soll sich nach dem Krieg, in dem er an fünf Feldzügen in Frankreich teilnahm, unter anderem an der Ardennenoffensive, psychiatrisch behandeln lassen haben. Viele der Geschichten scheinen mir eine Verarbeitung zu sein, seine Figuren sind traumatisiert, gezeichnet, nur sieht man es ihnen nicht an, nach außen scheint alles fein zu sein.

Meine persönliche Lieblingsgeschichte war „Der Lachende Mann“, jemand erzählt aus seiner Kindheit, als er jeden Tag zu einer Organisation namens Comanchenclub ging, einer Art Nachschulbetreuung, die verschiedene Dinge mit den Kindern unternahm. Einer der Betreuer erzählt ihnen die Geschichte vom Lachenden Mann, jeden Tag ein Stückchen weiter, und der heutige Erzähler verwebt die Geschichte mit seiner Wahrnehmung der sie umgreifenden Ereignisse. (Und, als ich kurze Zeit später den Murakami las, musste ich sehr an sie denken.)

J. D. Salinger als 42-Jähriger in einer Illustration der Time vom Jahr 1961 (Bild: Wikipedia.de)

Manchmal vergesse ich über all den Romanen, wie gut Erzählungen sein können. Kurz, auf den Punkt, hier hat man eine Situation umrissen, und nun schau, was als nächstes geschieht! Ich kann diese Erzählungen nur empfehlen, sie werfen ein helles Licht auf die damalige Gesellschaft und die Umstände im Nachkriegsamerika. Der Mantel des Schweigens und der Beschönigung hat Risse, das Licht fällt hindurch und zeigt, was hinter der Fassade ist.

Es ist dies ein perfektes Bus- oder Bahnbuch, und wenn man einen nicht so ereignisreichen Tag vor sich hat, hat man etwas, mit dem man sein Gehirn beschäftigt bekommt. Lesen Sie die Kurzgeschichten von Salinger, die einiges an Überraschungen zu bieten haben.

Natürlich las die BingeReaderin dieses Buch schon, hier ist ihre Meinung.

J.D. Salinger: Neun Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack, Annemarie und Heinrich Böll. Reinbek bei Hamburg, August 1968. OA: Nine Stories. Little, Brown and Company, Inc., New York.

Nederlandstalig! Harry Mulisch – Das Attentat

flaggeJanuar 1945. Hungerwinter in Haarlem. Anton Steenwijk sitzt mit seinen Eltern und seinem Bruder Peter im einzig einigermaßen beheizten Zimmer des Hauses und vertreibt sich die Zeit mit lesen. Dann fallen Schüsse. Und Antons Leben verändert sich für immer.

„Anton war zwölf Jahre alt, aber das wußte er auch schon: Fake Ploeg, Polizeioberinspektor, war der größte Mörder und Verräter von Haarlem und Umgebung.“ (23)

Und eben dieser Fake Ploeg liegt nun erschossen vor dem Nachbarshaus. Bis die Nachbarn herauskommen und ihn vor Steenwijks Tür ablegen. Peter rennt raus, um die Leiche zurückzulegen, aber er bekommt nur Ploegs Pistole zu fassen, mit der er davonläuft. Und dann sind die Soldaten da. Sie nehmen Anton mit, setzen ihn in ein Auto und lassen ihn warten, bevor sie ihn auf eine Polizeistation bringen.attentat

Vorher aber wird Antons Haus in Brand gesteckt, er sieht zu, wie es abbrennt. Und dann hört er das Knattern von Maschinengewehren. Er sieht seine Eltern und Peter nie wieder. Auf der Polizeistation wird er zu jemandem in Einzelhaft gesperrt, es handelt sich um eine junge Frau. Sie sagt nie ihren Namen, aber sie tröstet Anton. Als er aus der Zelle geholt wird, hat er ihr Blut an sich.

Anton gelangt schließlich zu seinem Onkel und seiner Tante nach Amsterdam. Bei ihnen wird er aufwachsen, sie geben ihm ein möglichst liebevolles Zuhause. Er geht zur Schule, dann zur Universität. Und blickt nie zurück.

Bis er zu einer Party seines Kommilitonen nach Haarlem eingeladen wird, und den Gesprächen über „damals“ nicht mehr lauschen kann. Und seine alten Nachbarn besucht, die seine Erlebnisse wieder aufrütteln. Es gibt nun ein Denkmal, mit den Namen seiner Eltern. Peters Name fehlt. Und auch nun kehrt Anton nach Amsterdam zurück und blendet seine Vergangenheit aus.

Bis die Studentenunruhen beginnen, und Fake Ploeg Junior vor seiner Tür steht. Er hatte dem Jungen einst beigestanden, unterschätzt aber die Wut, die dieser seit damals aufgebaut hat. Es wird keine schöne, aber eine erhellende Begegnung.

Anton geht seinem Studium nach, er studiert Medizin, und entscheidet sich für die Anästhesie als Spezialisierung. Ein Beruf, der eigentlich alles über ihn aussagt. Er denkt, dass man nichts an den Ereignissen ändern kann, und dass er sich deswegen auch nicht damit beschäftigen braucht. Er setzt sich nie damit auseinander, holt nie Erkundigungen ein. Er lebt einfach weiter.

Doch die Vergangenheit holt auch ihn ein. Und ob er will oder nicht, er begegnet Leuten, er erfährt Dinge, die damals geschehen sind, er begreift Zusammenhänge, ob zufällige oder gewollte. Er erfährt, wer die junge Frau in der Zelle war. Und er erfährt, warum Ploeg ausgerechnet vor ihr Haus gelegt wurde.

„War jeder schuldig und unschuldig? War die Schuld unschuldig und die Unschuld schuldig?“ (204)

Harry Mulisch hat hier auf gut 200 Seiten eine Episodengeschichte verfasst, die eine Episode aus dem Krieg in den Blickpunkt nimmt und ihre Folgen aufzeigt. Pars pro toto, anhand dessen die Situation in den Niederlanden beschrieben wird. Diese waren besetzt, und trotz eines großen Widerstandes machten auch viele begeistert mit. Dann wird die Zeit nach dem Krieg beschrieben, die Scham, die Überlebenden, die Verarbeitung der Ereignisse. Schuld und Verantwortung. Aber als Hauptthema habe ich empfunden, dass der Krieg nie weggeht, dass er in allen Beteiligten stecken bleibt.

Dieser Roman ist meiner Ansicht nach ein ganz wichtiges Stück Nachkriegsliteratur. In einer klaren, präzisen Sprache breitet Mulisch ein Panorama der Nachkriegsniederlande aus, und entfaltet eine Geschichte von Schuld und Verantwortung, von Unschuld und Verarbeitung. Mulisch ist mein meistverehrter niederländischer Schriftsteller, ich habe fast sein ganzes Werk gelesen – nach und nach wird es hier noch vorgestellt werden – und für den Einstieg ist Das Attentat ganz hervorragend geeignet.

Harry Mulisch wurde am 29. Juli 1927 in Haarlem geboren. Sein Vater war Personaldirektor einer Bank, die während der Besetzung für die Arisierung jüdischen Eigentums zuständig war. Seine Mutter hingegen war Jüdin. Durch seine Aufgabe konnte der Vater seine Frau und seinen Sohn schützen, musste jedoch nach dem Krieg in ein Internierungslager, an dessen Folgen er verstarb.

Bild: nrc.nl

Bild: nrc.nl

Diese Situation hat Mulischs ganzes Leben und sein Schreiben geprägt. Er war Berichterstatter beim Eichmann-Prozess und hat sich gegen den Vietnam-Krieg engagiert. Neben Das Attentat von 1982 ist Die Entdeckung des Himmels von 1992 sein bekanntestes Werk, das zu einem späteren Zeitpunkt noch besprochen werden wird. Für die beiden Romane erhielt er das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen.

Er verstarb am 30.10.2010 mit 83 Jahren an einer Krebserkrankung in seinem Haus in Amsterdam.

Das Attentat (OT De Aanslag) wurde 1986 verfilmt und erhielt den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Harry Mulisch: Das Attentat. Aus dem Niederländischen von Annelen Habers. Süddeutsche Zeitung Bibliothek, 2004. Beruhend auf der Ausgabe vom Carl Hanser Verlag München Wien, 1986. OA: Uitgeverij De Bezige Bij Amsterdam, 1982. 205 Seiten.

Buch #52: Kurt Vonnegut – Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug

Kurt Vonnegut wurde am 11. November 1922 in Indianapolis geboren. Seine Eltern entstammten beide deutschen Einwandererfamilien. Kurt arbeitete schon für die Schülerzeitung, neben seinem Studium der Biochemie arbeitete er an der College-Zeitung  der Cornell University als Redakteur und Kolumnist. Er meldete sich 1943 freiwillig zur US Army und diente in der Ardennenoffensive als Soldat in einer Aufklärungseinheit, in der 106. Infanteriedivision, die dabei teilweise aufgerieben wurde. Er geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft und erlebte die durch alliierte Bomber geführten Luftangriffe auf Dresden und die Zerstörung der Stadt mit. Diese Erlebnisse beschreibt und verarbeitet er in Slaughterhouse 5.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Reporter, und als Schriftsteller verfasste er hauptsächlich Kurzgeschichten. In seinen letzten Lebensjahren wurde er zum bitteren Gegner von Präsident Bushs Kriegspolitik. Kurt Vonnegut starb am 11. April 2007 in New York an den Folgen einer Kopfverletzung.

kurt„Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug von Kurt Vonnegut jr., einem Deutsch-Amerikaner der vierten Generation, der jetzt in angenehmen Verhältnissen in Cape Cod lebt (und zuviel raucht), der vor langer Zeit als Angehöriger eines Infanterie-Spähtrupps kampfunfähig als Kriegsgefangener Zeuge des Luftangriffs mit Brandbomben auf Dresden, „dem Elb-Florenz“, war und ihn überlebte, um die Geschichte zu erzählen. Dies ist ein Roman, ein wenig in der telegraphisch-schizophrenen Art von Geschichten von dem Planeten Tralfamadore, von wo die Fliegenden Untertassen herkommen. Friede.“

 

Diese Worte sind dem Roman vorangestellt. Es handelt sich bei Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug um eine Geschichte in der Geschichte. Der Erzähler, Kurt Vonnegut, berichtet von seiner über 20 Jahre währenden Unfähigkeit, einen Roman über seine Kriegserlebnisse zu schreiben. Dann, 1967 (es war mitten im Vietnam-Krieg), fuhr er noch einmal mit einem alten Kriegskameraden nach Dresden. Er schreibt von seiner Unfähigkeit, seine Erlebnisse in Worte zu fassen; auch wusste kein Amerikaner viel über diesen Angriff auf Dresden, und wie verheerend er gewesen war. Jedenfalls beschließt Vonnegut, seinen alten Kriegskameraden aufzusuchen und ihn nach Erinnerungen zu fragen, und stößt bei dessen Frau auf entschiedenen Widerwillen.

„‚Ihr wart nur kleine Kinder im Krieg – genau wie die im oberen Stockwerk!‘

Ich nickte zustimmend. Wir waren törichte, jungfräuliche Männer im Krieg gewesen, gerade am Ende der Kindheit angelangt.

‚Aber Sie werden es nicht so schreiben, nicht wahr!‘ Das war keine Frage. Es war eine Anklage.

‚Ich – ich weiß nicht‘, sagte ich.

‚Nun, aber ich weiß es‘, sagte sie. ‚Ihr werdet vorgeben, Männer statt Kinder gewesen zu sein, und eure Rolle wird in den Filmen von Frank Sinatra und John Wayne oder einem anderen dieser bezaubernden, kriegsbegeisterten, dreckigen alten Männer gespielt werden. Und der Krieg wird einfach wundervoll aussehen, so daß wir eine Menge anderer Kriege haben werden. Und sie werden von Kindern wie unsere Kinder oben ausgefochten werden.‘ […]

‚Wenn ich es jedoch jemals fertig schreibe, gebe ich Ihnen mein Ehrenwort: Es wird keine Rolle für Frank Sinatra oder John Wayne enthalten… Ich sage Ihnen etwas‘, setze ich hinzu. ‚Ich werde es ‚Der Kinderkreuzzug‘ nennen.'“

Und daran hält er sich. Er erzählt die Geschichte von Billy Pilgrim, der 1922 geboren wurde und ein komisch aussehender, komisch gewachsener junger Mann ist. Er soll als Diener eines Feldpredigers wirken, hat keine Waffen und keinen Einfluss auf jedwedes Kriegsgeschehen. Als er in Luxemburg ankommt, wird in der Ardennen-Offensive alles vernichtet und Billy irrt daraufhin durch Deutschland. Er gerät in Kriegsgefangenschaft, und wird Zeuge von Not und Elend, er kommt in Lager, wird in überfüllten Zügen dorthin und später nach Dresden transportiert und schließlich sitzt er im Keller des Schlachthofs Nummer Fünf, als Dresden bombardiert und in eine „Mondlandschaft“ verwandelt wird. So geht das.

Doch Billy ist anders als andere Menschen. Er überlebt den Krieg und gerät 1967 in einen Flugzeugabsturz, den er ebenfalls überlebt. Kurz nach dem Absturz wird er von Außerirdischen entführt, die ihn zum Planeten Tralfamador bringen. Hier leben Wesen, die in vier Dimensionen denken. Und Billy lernt, dass Zeit keine chronologische Abfolge ist, sondern alle Zeit ist immer. Und so wird seine Geschichte auch erzählt. Er springt von seinen Erlebnissen als Kind zu denen kurz vor seinem Tod, von Dresden zu Tralfamadore, von seiner Hochzeit zum Flugzeugabsturz und so fort. Von all diesen Erlebnissen berichtet er recht objektiv. Und beendet viele Sequenzen mit der kurzen Feststellung: So geht das.

Billy Pilgrim ist also ein Beobachter, ein Pilger durch die Zeit. Dadurch, dass er jederzeit seiner momentanen Zeit und guten wie schlechten Erlebnissen entrissen werden kann, verliert vieles seine Bedrohlichkeit. Man könnte ihn nun als einen Dummkopf sehen, als einen unbeteiligten Beobachter, der immer nur neben den Ereignissen steht und sie an sich vorüberziehen lässt. Das Wandern ohne Schuhe durch den Schnee ist beschwerlich, aber Billy wandert einfach weiter, was soll er sonst schon tun?! So geht das.

Dieser Fatalismus kann aber ebenso sehr eine Überlebensstrategie sein. Billy lässt all diese schrecklichen Erlebnisse an sich abperlen. Er befindet sich eben auf einmal mit einer sehr attraktiven Frau auf Tralfamadore, wo die Tralfamadorianer das menschliche Paarungsverhalten beobachten möchten. Oder er läuft in zusammengewürfelten Kleidungsstücken herum, die ihn wie einen absurden Clown aussehen lassen, aber es ist doch die Hauptsache, dass er Kleidungsstücke hat. So geht das.

Schlachthof 5 ist ein Anti-Kriegs-Roman. Er gewinnt seine Eindringlichkeit durch die Beschreibung der Schrecknisse des Krieges durch die Brille eines naiven Sonderlings, der nicht weiß, wie ihm geschieht, der die Grausamkeiten hilflos naiv mitansieht. Dass dies den meisten Kriegsteilnehmern so gehen dürfte, ist eine Ahnung, die den Leser schleichend befällt. Dresden wird zwar als Ereignis beschrieben, aber die „Mondlandschaft“, die die Stadt nach der Bombardierung ist, könnte genauso gut in Vietnam oder an einem anderen Kriegsschauplatz liegen.

Offiziell war Schlachthof 5 wegen der Beschreibungen fluchender Soldaten und sexueller Inhalte auf dem Index, und wurde von den Lehrplänen verbannt. Dies ist jedoch schlicht keine Literatur, die kriegsführende Staatsoberhäupter in den Köpfen haben wollen. Weil die Grausamkeiten, die Menschen Menschen antun, in den Köpfen bleiben. Weil die Hilflosigkeit zum Nachdenken anregt. Und wer will schon nachdenkende Soldaten. Sie sollen wie Billy alles hinnehmen. So geht das.

Kurt Vonnegut: Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug. Deutsch von Kurt Wagenseil. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1972

Nederlandstalig! Marcel Möring – Der nächtige Ort

Marcel Möring wurde am 5. September 1957 im niederländischen Enschede geboren. 1991 erhielt er für seinen ersten Roman Mendel den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, den wichtigsten Debütpreis des Landes. Weitere seiner Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Romane sind große Publikumserfolge, allen voran In Babylon. Marcel Möring lebt mit seiner Familie in Rotterdam.

nächtige ortEs ist der 5. Mai 1945, die Niederlande sind befreit und Jakob Noach kriecht aus seinem Loch. Buchstäblich. Er hat die letzten drei Jahre in einem Erdloch verbracht, in das ihn ein freundlicher Bauer brachte, als er aus Amsterdam zurückkam und seine Familie nicht mehr vorfand. Jakob stiehlt ein Fahrrad und fährt in die Stadt, nach Assen, zu dem Geschäft seiner Eltern, das nun ein Schild mit dem Namen Völkische Buchhandlung Hilbrandts schmückt. Der neue Mieter will nicht weichen, und so vertreibt Jakob Noach ihn. Denn eines hat er sich geschworen: er will Rache, und er will nie wieder Hunger haben.

Als ihm nach mehreren Jahren des Wartens und nächtlicher Besuche des Bahnhofs klar wird, dass seine Eltern und sein Bruder nicht wieder zurückkommen werden, hat er eine Vision. Er sieht seine drei Töchter, hört sie ihre Namen sagen, und er sieht, wie die Stadt zu dem geworden ist, was sie ist. Von nun an arbeitet er hart, zuerst im Schuhladen seiner Eltern, und als er etwas Geld zusammen hat, macht er einen Dessousladen auf, ein gewagtes Unterfangen in der Niederlande der Nachkriegszeit, aber da er eine Lehre in Amsterdam gemacht hatte und gut ist in dem, was er tut, bleibt die Kundschaft nicht lange aus. Er ist erfolgreich.

Er findet eine Frau und heiratet sie, und sie haben drei Töchter, ganz wie in seiner Vision. Seine Töchter liebt er, soweit er das kann, seine Frau hat das Nachsehen. Denn so sehr er sich auch anstrengt, so erfolgreich er ist, er hat doch nur Leere in sich, den Verlust seiner Eltern und seines Bruders. Der neue Wohlstand bringt ihm auch keine Akzeptanz oder Unterstützung, er ist immer noch ein Jude, der in den protestantischen Niederlanden in keinen Rat und keine Gesellschaft aufgenommen wird. Doch er hat auch eine Vision für die Stadt, und so beginnt er, sie für sich selbst auszuführen.

Er kauft alte Geschäfte, Fabrikgebäude und Häuser auf, bis ihm quasi die Innenstadt Assens gehört. Und nun baut er alles so um, dass in Assen ein richtiges Einkaufszentrum entsteht, mit einem großen Kaufhaus als zentralem Anlaufspunkt und vielen Geschäften darumherum. Die Stadt wird wohlhabend unter Jakob Noachs Führung. Doch die Leere in ihm bleibt.

Dann finden wir uns Anfang der 80er Jahre wieder, es ist eine warme Juninacht und die Nacht des Jahres in Assen, da am nächsten Tag ein großes TT-Rennen, ein Motorrad-Rennen, stattfindet. An diesem Wochenende wächst die Stadt auf das Vielfache an, Menschenmengen strömen hin, eine Kirmes wird aufgebaut, es gibt Bierzelte, und an allen Zapfanlagen hängen Menschen und lassen sich volllaufen.

In dieser Nacht kommt Markus Kolpa in seine Heimatstadt zurück, und obwohl er diese Stadt hasst und sie in ihrer ganzen spießigen Kleinbürgerlichkeit hinter sich gelassen hat, ist er hier, um seine Jugendliebe Chaja wiederzusehen, die Tochter von Jakob Noach. Markus ist ein Intellektueller, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, eine Meinung zu haben und diese kundzutun, auch wenn es den Menschen gegen den Strich geht. Sein Leben ist gepflastert mit vielen Frauen, doch die eine, die ihm nicht aus dem Kopf geht, ist Chaja.

Jakob Noach ist in dieser Nacht ebenfalls unterwegs, und er findet einen Führer in der Person vom Juden von Assen, der ihn durch die nächtliche Stadt führt und ihn dazu bringt, sich Fragen über sein Leben zu stellen. Denn obwohl er so viel erreicht hat, hat er nichts erreicht, denn in seinem Inneren ist nichts anders geworden nach all den Jahren.

Wir folgen den Männern also in dieser Nacht durch die Stadt, die Möring als eine Art von Sodom und Gomorrha darstellt, ein Ort, an dem für eine Nacht alles Schlechte zusammenkommt. Hier fließen viele kleine Geschichten mit ein, werden verflochten mit den Geschichten von Jakob und Markus, und am nächsten Morgen werden alle wieder ausgespuckt, schmutzig und mit einem Kater, aber im Grunde keinen Schritt weiter als am Abend zuvor.

Ich habe Marcel Möring durch In Babylon kennengelernt, und dieses Buch habe ich vor Jahren verschlungen und geliebt. Nun sah ich Der nächtige Ort in der Bibliothek liegen und war neugierig. Die Neugier ist befriedigt, das Buch läßt mich jedoch leicht unzufrieden zurück. Mörings Sprache ist wirklich großartig, er versteht es, verschiedene Themen wie das Judentum und Philosophie, Geschichte, Verzweiflung und Schicksal zu einem wunderbaren Teppich zu verweben.

Und der erste Teil des Buches, derjenige über Jakob Noach, ist meiner Meinung nach brillant, da er die Verwirrung, Wut, Angst des Überlebenden sprachlich wiederspiegelt, durch Endlossätze, abgehackte Sätze, Einschübe, durch Sätze, die quer über die Seite stehen und solche, die mit ein paar Punkten in der Mitte enden… Dann kommt aber der Teil der Nacht vor dem TT-Rennen, und von dem Konzept der „Höllennacht auf Erden“ bin ich nicht richtig überzeugt. Dazu ist es mir dann doch nicht düster genug, da die meisten Menschen doch nur betrunken sind und den Quatsch machen, den Menschen machen, wenn sie betrunken sind. Auch die großen Fragen, die die beiden Herren sich stellen, bleiben am Ende in der Luft hängen, so dass man dann genauso weit ist wie vorher.

Alles in allem hat mir das Buch gut gefallen, vor allem wegen der großartigen Sprache und der Experimentierfreudigkeit Mörings, auch wenn das Konzept nicht immer aufgeht. Für alle, die an niederländischer Literatur – die einen ganz anderen Umgang mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs hat – interessiert sind, würde ich jedoch eher In Babylon vorschlagen, oder etwas von Harry Mulisch oder Leon de Winter.

Marcel Möring: Der nächtige Ort. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Luchterhand 2009.