Nederlandstalig! Marcel Möring – Der nächtige Ort

Marcel Möring wurde am 5. September 1957 im niederländischen Enschede geboren. 1991 erhielt er für seinen ersten Roman Mendel den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, den wichtigsten Debütpreis des Landes. Weitere seiner Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Romane sind große Publikumserfolge, allen voran In Babylon. Marcel Möring lebt mit seiner Familie in Rotterdam.

nächtige ortEs ist der 5. Mai 1945, die Niederlande sind befreit und Jakob Noach kriecht aus seinem Loch. Buchstäblich. Er hat die letzten drei Jahre in einem Erdloch verbracht, in das ihn ein freundlicher Bauer brachte, als er aus Amsterdam zurückkam und seine Familie nicht mehr vorfand. Jakob stiehlt ein Fahrrad und fährt in die Stadt, nach Assen, zu dem Geschäft seiner Eltern, das nun ein Schild mit dem Namen Völkische Buchhandlung Hilbrandts schmückt. Der neue Mieter will nicht weichen, und so vertreibt Jakob Noach ihn. Denn eines hat er sich geschworen: er will Rache, und er will nie wieder Hunger haben.

Als ihm nach mehreren Jahren des Wartens und nächtlicher Besuche des Bahnhofs klar wird, dass seine Eltern und sein Bruder nicht wieder zurückkommen werden, hat er eine Vision. Er sieht seine drei Töchter, hört sie ihre Namen sagen, und er sieht, wie die Stadt zu dem geworden ist, was sie ist. Von nun an arbeitet er hart, zuerst im Schuhladen seiner Eltern, und als er etwas Geld zusammen hat, macht er einen Dessousladen auf, ein gewagtes Unterfangen in der Niederlande der Nachkriegszeit, aber da er eine Lehre in Amsterdam gemacht hatte und gut ist in dem, was er tut, bleibt die Kundschaft nicht lange aus. Er ist erfolgreich.

Er findet eine Frau und heiratet sie, und sie haben drei Töchter, ganz wie in seiner Vision. Seine Töchter liebt er, soweit er das kann, seine Frau hat das Nachsehen. Denn so sehr er sich auch anstrengt, so erfolgreich er ist, er hat doch nur Leere in sich, den Verlust seiner Eltern und seines Bruders. Der neue Wohlstand bringt ihm auch keine Akzeptanz oder Unterstützung, er ist immer noch ein Jude, der in den protestantischen Niederlanden in keinen Rat und keine Gesellschaft aufgenommen wird. Doch er hat auch eine Vision für die Stadt, und so beginnt er, sie für sich selbst auszuführen.

Er kauft alte Geschäfte, Fabrikgebäude und Häuser auf, bis ihm quasi die Innenstadt Assens gehört. Und nun baut er alles so um, dass in Assen ein richtiges Einkaufszentrum entsteht, mit einem großen Kaufhaus als zentralem Anlaufspunkt und vielen Geschäften darumherum. Die Stadt wird wohlhabend unter Jakob Noachs Führung. Doch die Leere in ihm bleibt.

Dann finden wir uns Anfang der 80er Jahre wieder, es ist eine warme Juninacht und die Nacht des Jahres in Assen, da am nächsten Tag ein großes TT-Rennen, ein Motorrad-Rennen, stattfindet. An diesem Wochenende wächst die Stadt auf das Vielfache an, Menschenmengen strömen hin, eine Kirmes wird aufgebaut, es gibt Bierzelte, und an allen Zapfanlagen hängen Menschen und lassen sich volllaufen.

In dieser Nacht kommt Markus Kolpa in seine Heimatstadt zurück, und obwohl er diese Stadt hasst und sie in ihrer ganzen spießigen Kleinbürgerlichkeit hinter sich gelassen hat, ist er hier, um seine Jugendliebe Chaja wiederzusehen, die Tochter von Jakob Noach. Markus ist ein Intellektueller, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, eine Meinung zu haben und diese kundzutun, auch wenn es den Menschen gegen den Strich geht. Sein Leben ist gepflastert mit vielen Frauen, doch die eine, die ihm nicht aus dem Kopf geht, ist Chaja.

Jakob Noach ist in dieser Nacht ebenfalls unterwegs, und er findet einen Führer in der Person vom Juden von Assen, der ihn durch die nächtliche Stadt führt und ihn dazu bringt, sich Fragen über sein Leben zu stellen. Denn obwohl er so viel erreicht hat, hat er nichts erreicht, denn in seinem Inneren ist nichts anders geworden nach all den Jahren.

Wir folgen den Männern also in dieser Nacht durch die Stadt, die Möring als eine Art von Sodom und Gomorrha darstellt, ein Ort, an dem für eine Nacht alles Schlechte zusammenkommt. Hier fließen viele kleine Geschichten mit ein, werden verflochten mit den Geschichten von Jakob und Markus, und am nächsten Morgen werden alle wieder ausgespuckt, schmutzig und mit einem Kater, aber im Grunde keinen Schritt weiter als am Abend zuvor.

Ich habe Marcel Möring durch In Babylon kennengelernt, und dieses Buch habe ich vor Jahren verschlungen und geliebt. Nun sah ich Der nächtige Ort in der Bibliothek liegen und war neugierig. Die Neugier ist befriedigt, das Buch läßt mich jedoch leicht unzufrieden zurück. Mörings Sprache ist wirklich großartig, er versteht es, verschiedene Themen wie das Judentum und Philosophie, Geschichte, Verzweiflung und Schicksal zu einem wunderbaren Teppich zu verweben.

Und der erste Teil des Buches, derjenige über Jakob Noach, ist meiner Meinung nach brillant, da er die Verwirrung, Wut, Angst des Überlebenden sprachlich wiederspiegelt, durch Endlossätze, abgehackte Sätze, Einschübe, durch Sätze, die quer über die Seite stehen und solche, die mit ein paar Punkten in der Mitte enden… Dann kommt aber der Teil der Nacht vor dem TT-Rennen, und von dem Konzept der „Höllennacht auf Erden“ bin ich nicht richtig überzeugt. Dazu ist es mir dann doch nicht düster genug, da die meisten Menschen doch nur betrunken sind und den Quatsch machen, den Menschen machen, wenn sie betrunken sind. Auch die großen Fragen, die die beiden Herren sich stellen, bleiben am Ende in der Luft hängen, so dass man dann genauso weit ist wie vorher.

Alles in allem hat mir das Buch gut gefallen, vor allem wegen der großartigen Sprache und der Experimentierfreudigkeit Mörings, auch wenn das Konzept nicht immer aufgeht. Für alle, die an niederländischer Literatur – die einen ganz anderen Umgang mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs hat – interessiert sind, würde ich jedoch eher In Babylon vorschlagen, oder etwas von Harry Mulisch oder Leon de Winter.

Marcel Möring: Der nächtige Ort. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Luchterhand 2009.

7 Gedanken zu „Nederlandstalig! Marcel Möring – Der nächtige Ort

  1. Danke für die schöne Rezension, ich habe mir das Buch vor einigen Wochen gekauft und freue mich schon sehr auf die Lektüre. Ich möchte es quasi als „Vorbereitung“ für den neuen Roman von Möring lesen, der bald erscheinen wird.

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  2. Oder Tessa de Loo! Kennst Du „Die Zwillinge“? Das habe ich sehr geliebt. Möring sagt mir gar nichts, aber Du hast mich neugierig gemacht. „In Babylon“ muss ich wohl demnächst auch mal aus der Bibliothek mitnehmen.

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    • Ja, das fand ich auch ganz toll! Ich könnte noch so einiges aufzählen, vielleicht lese ich aber nach und nach nochmal einiges davon und stelle es vor 🙂 Ich hoffe, „In Babylon“ wird Dir gefallen!

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  3. Pingback: Nederlandstalig! Marcel Möring – Im Wald | 1001 Bücher - das Experiment

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